Claudia am 27. November 2007 —

Rasender Stillstand – ein Blitzlicht

Manchmal fasere ich nach allen Seiten aus und tue nichts dagegen. Ich spüre, wie die zentrifugalen Kräfte an mir zerren und mich immer weiter zerstreuen, bemerke, wie ich in fluktuierendem Multitasking durch den Tag wusele, von Thema zu Thema zappe und oft nur noch staune, dass meistens alles klappt, gut sogar, und dass dieser Zustand „normal“ ist.

Getting information from the internet is like drinking water from a fire hydrant – das geflügelte Wort beschreibt das Gefühl, das ich meine, nur dass es nicht alleine die Infos sind, die durch ihre schier unendliche Vielfalt überwältigen: hinzu kommt alles, was ‚rein kommt auf den verschiedenen, selbst gewählten Spielfeldern. All die verschiedenen Anforderungen der Kunden, Auftraggeber und Kursteilnehmer, die Kommentargespräche und Mail-Reaktionen rund um meine Blogs, das Geschehen in den Communities, die ich gelegentlich aufsuche, hunderte SPAM-Mails auf sieben verschiedenen Mailboxen, dazu Nachrichten, Anfragen, Einladungen, Bitten um Verlinkung, Hilfe und Meinung, Hinweise auf interessante Webseiten, lustige Videos, neue Werke von Freunden und Bekannten – und das ist immer noch nicht alles. Täglich besuche ich ein paar Lieblingsblogs, verfolge über einen Feedreader zweihundert weitere, recherchiere viermal die Woche Wellnessthemen und lese gelegentlich DIE ZEIT, das Wochenblättchen aus dem Briefkasten, eine Tageszeitung und diverse Printmagazine.

Nebenbei muss die technische Infrastruktur gepflegt werden, Support-Kontakte, Foren-Besuche bei Problemen, hier ein Update, da eine Schutzmaßnahme und den nächsten Computer stelle ich erstmalig aus Einzelteilen zusammen: berate mich per E-Mail mit dem Experten meiner Wahl, bestelle die Teile in 5 verschiedenen Web-Shops, zahle im voraus, beobachte den Lieferungsprozess und werde – wenn alles beisammen ist – zum ersten Mal beim „Zusammenbau“ dabei sein. Das dann aber mal nicht virtuell, sondern im richtigen Leben (ich werde berichten!).

Auch die Behördenfront braucht Pflege, am Sonntag war Steuer 2006 dran, endlich, was immer auch den Einstieg in die Papierberge und überquellenden Schuber auf dem zweiten Schreibtisch bedeutet. Nun ist alles beim Steuerberater, die Papier-Dünen sind teilentsorgt und in den Zustand „70% aufgeräumt“ überführt. Fehlt noch die jährliche Meldung an die Künstlersozialversicherung, die GEZ-Überweisung und die weitere Abwicklung meines Umzugs weg von der Postbank zu einem komfortableren Konto, gar nicht so einfach, wenn die alte Kontonummer weiträumig verstreut ist.

Mehrmals am Tag tanze ich auch im physischen Raum: Kaffee kochen, Milch aufsetzen, spülen, waschen, Müll runter tragen – die immer gleichen Abläufe der alltäglichen Tätigkeiten können beruhigen oder nerven, je nachdem, wie bereitwillig ich mich auf die vergleichsweise so sperrige Materie einlasse. Zwei kleine Läden und zwei Supermärkte sind die Nahziele außerhalb der Wohnung, mittags besuche ich den Garten, wegen des Wetters allerdings nicht mehr täglich.

Zur Zeit navigiere ich im Chaos des Vielzuvielen ohne Plan, entlang an der sich spontan fortschreibenden To-Do-Liste im Kopf und den Anforderungen, wie sie eben kommen. Da es unmöglich ist, alle Dimensionen und Ebenen meiner Spielfelder stets präsent zu halten, entsteht schon mal ein Gefühl wie beim Wandern durch dichten Nebel: jeden Moment kann von „irgendwoher“ etwas auftauchen, das Befassung verlangt. Die Sicht reicht immer nur für die nächstens Schritte, für deren Richtung es allerdings – anders als im Nebel – fortwährend jede Menge konkurrierende Vorschläge von innen und außen gibt.

Wenn ich all das so hinschreibe, könnte es klingen, als fühlte ich mich im Stress. Dem ist aber nicht so, denn dafür fehlt alledem das gefühlte Drohpotenzial. Wenn etwas nicht klappt, geht ja keinesfalls die Welt unter, es bedeutet nur eine weitere Verkomplizierung im Komplexen bis das Problem wieder abgearbeitet ist. Dass irgend etwas mal knirscht gehört zum täglichen Geschäft wie der Stau an der Supermarktkasse. Seitdem meine Miete immer für ein paar Monate im voraus gesichert ist, hege ich keine Befürchtungen mehr, sondern kranke eher an zu vielen Vorhaben: alle sinnvoll, alle nützlich und verlockend, doch leider ist die Zeit begrenzt und ich kann mich nicht vervielfachen.

So schaue ich nur neugierig zu, wie dieser ganze „rasende Stillstand“ anwächst: jeden Tag mehr Möglichkeiten, mehr Entscheidungsbedarf, mehr Auswahl und entsprechende Informationspflichten. Immer mehr lockere Kontakte mit und ohne „wesentlichen“ Inhalt, mehr Passwörter, mehr Viren, mehr Versuche, mir dummdreist das Geld aus der Tasche zu ziehen und mehr nützliche Infos, um mich dagegen zu schützen. Wenn ich dann abends auch noch so verrückt bin und quer durch die TV-Kanäle zappe, anstatt mich um eine Geist und Psyche erholende Stille zu bemühen, wundere ich mich, dass ich noch nicht beim TILT angekommen bin!

Würde ich spürbar leiden, wäre ich lange schon wieder beim Wochenplan und anderen Maßnahmen zur inneren Sammlung. Da dem aber nicht so ist, lasse ich mutwillig alles weiter ausufern und warte bis der Punkt kommt, an dem es weh tut. Offenbar klebe ich an der Gewohnheit früherer Lebensjahrzehnte, mich durch Leiden steuern zu lassen, doch ist das kein guter Kompass mehr, wenn man ein paar Methoden verinnerlicht hat, gängige Leidensformen gar nicht erst auftreten zu lassen. Hätte ich ein Lebensziel oder bestimmte Wünsche für die Zukunft, ergäbe auch das genug Motivation, mich zu sammeln, die Dinge zu vereinfachen und mich zu konzentrieren. Leider lässt sich das nicht mal eben so aus dem Kopf beschließen, es hätte keinen Bestand über den Tag hinaus.

So trete ich also nach dieser kleinen Besinnungspause wieder auf die Kommandobrücke, lasse mir von den Monitoren zeigen, was gerade der Fall ist, treffe mit ein paar Mausklicks meine Wahl und murmele: Energie!

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Diskussion

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4 Kommentare zu „Rasender Stillstand – ein Blitzlicht“.

  1. „… weg von der Postbank zu einem komfortableren Konto ?“

    Komfortabler ? Wie denn ?
    Günstiger ? Möglicherweise

  2. Also erstmal musste ich nach dem Lesen deiner Zeilen etwas schmunzeln und danach schleunigst nach draussen gehen. Gaaaaanz tief Luft einholen … Nein, hast alles richtig geschrieben. Es erinnerte mich einfach an den fleissigen Bauern, der alles bestens machen wollte und daher seine Aecker jeden Tag pfluegte. War alles richtig, was er machte … nur, er konnte im Herbst keine Ernte einfahren, denn die Pflanzen hatten keine Zeit zu wachsen. So, liebe Claudia … vergiss deine Pausen nicht, denn sie sind der kreative Teil deines Lebens.

  3. Immer wieder mal kehre ich zu dieser Webseite (einer aus dem Claudia-Klinger-Netzwerk) zurück und halte mich für ein paar Minuten gerne darin auf. Die Seite kommt meiner Vorstellung von einer Webseite als warmer Insel, als nährender Oase recht nahe. Ich frage mich, woran das liegt und die Antwort, die ich finde, überrascht mich nicht: An der Aufrichtigkeit der Autorin.

    „Hätte ich ein Lebensziel oder bestimmte Wünsche für die Zukunft, ergäbe auch das genug Motivation, mich zu sammeln, die Dinge zu vereinfachen und mich zu konzentrieren. Leider lässt sich das nicht mal eben so aus dem Kopf beschließen, es hätte keinen Bestand über den Tag hinaus.“

    Wie sich offensichtliche Lebenskenntnis und Wissen um Lebenskunst und Erfahrung mit diesem Wissen damit paart, jeden Tag hunderte von Informationen in sich zirkulieren zu lassen, das ist (für mich) erschreckend und faszinierend zugleich.

    Danke fürs ausufernde Blitzlicht!

  4. Lieber Stefan,

    bin ja ganz gerührt wegen der „warmen Insel“! Danke!
    Das „Wissen um Lebenskunst“ heißt ja nicht, dass ich es fortwährend benutzen muss, um irgend etwas zu verändern bzw. zu verbessern. Es kann auch sehr interessant sein, sich dem, was geschieht, einfach mal zu überlasseen und zu schauen, wie es sich entwickelt und wie es ist, wenn es noch weiter zunimmt. Wenn es zu sehr nervt, dimme ich den „fire hydrant“ durchaus auf das notwendige Maß herunter, halte ein wenig „Medien-Diät“ und konzentriere mich wieder aufs Wesentliche.
    Lieben Gruß!