War der Buddha ein Weichei?
Von allen spirituellen Lehren, mit denen ich mich je im Leben befasst habe, sind die Lehren des Buddha diejenigen, zu denen ich alle paar Jahre einen neuen Zugang finde. Auf einmal verstehe ich etwas, das ich früher gar nicht oder ganz anders verstanden hatte.
So geht’s mir gerade mit den „vier edlen Wahrheiten“, deren erste da heißt: „Alles Leben ist Leiden“. Mir erschien das früher als eine viel zu negative Beschreibung: zwar stimmt es, dass das Leiden unvermeidlich ist, dass es Altern, Krankheit und Tod gibt, dass Sorgen, Trauer, Unwohlsein und Schmerz nicht auszurotten sind, sondern sich immer wieder einfinden. Deren Gegenteil könnten wir ja gar nicht erleben, gäbe es diese Gegensätze nicht. Mir war „denklogisch“ schnell klar, dass es von daher gesehen ein sinnloses Unterfangen ist, stets nach den Freuden zu suchen und die Leiden vermeiden zu wollen, was ja unser gewöhnliches In-der-Welt-Sein ausmacht.
Ich las also mehr darüber und traf auf Erläuterungen, die die Vergänglichkeit und Nichtigkeit aller üblichen Freuden als Hauptaspekt des Leidens beschreiben: zwar gibt es Freude, Lust und Befriedigung, doch immer nur für kurze Zeit: nichts ist beständig, alles vergeht – und das ist Leiden!
Na und? Ist es das denn nicht wert? Muss es denn immer gleich die totale Erlösung sein? Reichen die sporadisch erlebbaren Freuden nicht für ein gutes Leben? In meinem jugendlich-trotzigen Überschwang erschien mir Buddha als verzärteltes Weichei, das die Freuden des Lebens verwarf, weil ihm der Preis dafür zu hoch war. Ja, ja, es gibt das Leiden, ja sicher, keine Lust hat Ewigkeit – muss mich das aber abhalten, an den schönen Dingen meine Freude zu haben? Der Rausch einer neuen Liebe, das Erfolgsgefühl, wenn ein Vorhaben, an dem man engagiert gearbeitet hat, dann auch klappt, die Vielfalt der sinnlichen Genüsse – ist das alles NICHTS, bloß weil es nicht beständig ist? Soll ich allein deshalb „die Welt verwerfen“ und womöglich nichts mehr tun außer sitzen und meditieren?? Bewahre! Buddhisten mochten ein Problem mit der Vergänglichkeit haben, meins war es nicht.
Das Leben, das ich führte, als ich noch so dachte, bot verglichen mit dem jetzigen recht viel Leiden. Ich war sehr ehrgeizig, hatte hohe Ansprüche an die Welt, meine Mitmenschen und mich selbst, was immer wieder zu heftigen Enttäuschungen führte und mich das Leben als Kampf wahrnehmen ließ. Buddhas Lehre erschien in diesem fortgesetzten Kämpfen als mutwillige Zersetzung der Wehrkraft – indiskutabel!
Mittlerweile sind 17 Jahre vergangen, seitdem ich aus diesem kämpferischen Leben ausgestiegen bin, bzw. heraus katapultiert wurde. Viele Formen des Leidens sind seit meiner „2.Geburt“ im Erreichen des persönlichen Tiefpunkts verschwunden, speziell all diejenigen, die aus allzu ehrgeizigen Anspruchshaltungen kommen, aus dem unbewussten Streben, jemand ganz Besonderes zu sein, und vor allem aus der nur mit größter Mühe und forcierter Blindheit aufrecht zu erhaltenden Illusion, selber rundum GUT und frei von dunklen Seiten zu sein. Der aufs äußerste gespannte Widerspruch zwischen Sein und Sollen entfiel ganz plötzlich zugunsten eines recht entspannten Daseins. Auf einmal musste ich die Welt nicht mehr zwingen, meinen Ansprüchen zu genügen, Hass, Verachtung und Selbstverachtung verschwanden aus meinem Leben. Es gab keinen Grund mehr zu kämpfen, und sämtliche Chancen, die ich seitdem ergriff, um zu leben und zu arbeiten, kamen geradezu anstrengungslos „wie von selbst“.
Natürlich gibt es immer noch Leiden, bzw. all das, was ich früher so erlebte, doch betrifft es mich nicht mehr so persönlich wie damals, was ihm 90% seines Stachels nimmt. Mein Leben, Lieben, Wohnen, Arbeiten ist genau so, wie es für mich passt. Selbst wenn ich mich anstrenge und den Geist auf die Suche nach „mehr“ schicke, findet er nichts, woran ich eine neue „große Sehnsucht“ knüpfen könnte – lange schon nicht.
Und genau da setzt ein neues Verstehen ein. Ich kann nicht mehr darüber hinweg sehen, dass es auch inmitten eines vergleichsweise friedlichen Lebens ohne ständig fordernde Konfliktfronten keine beständige Erfüllung gibt. Zum Beispiel die stillen Tage zwischen den Jahren: alles ist gut, ich „habe frei“, muss nichts Bestimmtes tun, nichts zieht, nichts bedrückt. Also verlasse ich meinen Platz vor dem Monitor, lege mich hin und beobachte das angenehme Strömen im Körper, der es genießt, nicht mehr sitzen zu müssen. Wohlig entspannt döse ich vor mich hin und ich fühle mich „angekommen“.
Vielleicht geht das so zehn Minuten oder eine halbe Stunde, wenn ich dann aber nicht einnicke, spüre ich auf einmal eine Unruhe. Eigentlich fehlt nichts, und doch ist es nicht mehr „genug“. Ich bemerke, wie die Gedanken wandern und Möglichkeiten vorstellen: Vielleicht ein Spaziergang? Was ist da eigentlich noch im Kühlschrank?? Oder wie wäre es mit einem heißen Bad? Ich entscheide mich für Letzteres, lasse die Wanne voll laufen, entkleide mich, freue mich auf die heftige physische Erfahrung und liege kurz darauf im heißen Wasser, umgeben von angenehm duftendem Schaum – welch ein Genuss! Wieder fühle ich mich „angekommen“. Fünf Minuten liege ich so, denke an nichts, vielleicht verlängere ich die Zeit, indem ich ein wenig lese, doch schon bald hat auch der Event „Badewanne“ seine Strahlkraft verloren. Das ist auch nicht die wahre „Heimat“, mein Herz schlägt ein wenig schneller und ich denke zurück an die Situation auf dem Bett, die mir nun vergleichsweise ruhiger erscheint – und so angenehm trocken!
So drifte ich von einer „wohligen Situation“ in die nächste und bemerke immer mehr, dass es das alles nicht bringt. Ja WAS würde es denn bringen? Die immer wieder neu erwachende Getriebenheit hat darauf keine Antwort, sondern nur Vorschläge für den nächsten Versuch, die Unruhe zu befrieden. Und ich weiß schon im voraus: auch DAS wird nicht nachhaltig sein! Dass ich bei all diesen Suchbewegungen ohne echte Notwendigkeit ständig Ressourcen verschleudere, Strom verbrauche, Essen vertilge, Geld vernichte, ist nur ein Nebenaspekt, der mir bisher gar nicht zu Bewusstsein kam. Würde das alles wirklich „helfen“, wäre es ok: ich habe nichts dagegen, wir was zu gönnen. Aber so?
Beobachtungen dieser Art tauchen immer öfter auf. Und plötzlich ist da die Sehnsucht nach dem Ausstieg aus diesem Kreislauf der Getriebenheit, ein Gefühl des Überdrusses, ohne dass ich wüsste, wohin es gehen könnte. In die Bewusstlosigkeit versinken erscheint auf einmal als einzige „Lösung“, um dem sehr subtil gewordenen Stress des Daseins zu entkommen. Schlaf, letztlich Nicht-Sein, Tod – kann man sich denn wirklich DANACH sehnen?
„Das ist, ihr Mönche, die edle Wahrheit von der Entstehung des Leidens: Es ist dieser Durst, der immer wieder von Dasein zu Dasein führende: Der Sinnlichkeitsdurst, der Durst nach Gestaltung, der Durst nach Vernichtung.“
In der oft erzählten Geschichte des Siddhartha Gautama, der später als Buddha lehrte, heißt es, dass er im Palast seines Vaters lebte, wo ihm alles, was zum Wohlleben gehörte, zur Verfügung stand und den er kaum jemals verließ. Als er dann eines Tages doch Ausflüge in die Umgebung unternahm, bekam er zum ersten Mal Alter, Krankheit und Tod zu Gesicht und beschloss, sein bequemes Leben aufzugeben und einen Weg aus dem Leiden zu suchen.
Es wird immer so erzählt, als wäre er hauptsächlich durch das plötzlich erblickte Leid der Menschen in Bewegung versetzt worden. Aber wäre er ohne das vorherige „Wohlleben“ im Stande gewesen, nach etwas anderem zu suchen als nach äußeren Weltverbesserungen? Ist es nicht viel mehr die auf sein Vergnügen ausgerichtete höfische „Spaßgesellschaft“ gewesen, die ihn bereits zuvor hat erleben lassen, dass es keine Ruhe und keine letzte Befriedigung in all diesem sinnlichen Vergnügen gibt? Mir scheint, es ist diese Erfahrung, diese Wurzel seines Strebens, die den Buddha für die heutigen Überflussgesellschaften so bedeutend macht.
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30 Kommentare zu „Die edle Wahrheit vom Leiden“.