Alles wächst zusammen, nicht nur das, was zusammen gehört. Fast jeder ist ständig per Handy erreichbar, wer sich im öffentlichen Raum bewegt, wird gefilmt. Von oben kann man überall drauf sehen und bald ist auch jede Straßenecke gesichtergenau im Blick. Social Communities lokalisieren ihre User im physischen Raum: Bei townkings.de kann ich Haus-genau sehen, wer in meiner Nachbarschaft Mitglied ist und was diese Leute von sich zeigen. (Schräg gegenüber wohnt ein Student, der Programmierdienstleistungen anbietet, aha!) Noch sind es nicht viele, doch ist das ja nicht die einzige Com. Facebook, Xing, StudiVZ und viele andere, noch wachsende Gemeinschaften zeigen „Mitglieder in deiner Nähe“. Und wenn ich selber mal nicht weiß, wo ich bin, kann mir Qiro helfen, ein Navi-Programm fürs Handy, das meinen Standort anzeigt, aber auch den meiner „Freunde“, dazu die nächsten Geldautomaten, Kinos und herum stehende Mietfahrräder.
Will ich das denn alles wissen? Und was will ich von mir wissen lassen? Niemand muss diese Infos nutzen oder bekannt geben, alles geschieht ganz freiwillig, kein Orwellscher „großer Bruder“ zwingt uns etwas auf. Es ist allein die „Nützlichkeit“ der angebotenen Infos, die dazu einlädt, daran teil zu haben und selbst an jeder Ecke seine Daten abzugeben. Oder zumindest der GLAUBE an die Nützlichkeit, vereint mit fortwährenden Fragen: Sie haben noch keine Kundenkarte? Nein, habe ich nicht, die Rabatte sind absolut lächerlich verglichen mit dem Wert meiner Einkaufsdaten. Die ich ja dann doch auch ohne Kundenkarte zum Besten gebe, wenn ich so bequem bin und bargeldlos bezahle.
Das Netz wird lokal
Die Welt des Internets ist für viele immer noch etwas anderes als das „reale Leben“ – eine Einschätzung von vorgestern, denn das Netz greift immer umfassender nach dem lokalen Raum: ungeheuer nützlich, wenn man bedenkt, was da alles möglich wird! Immer mehr Menschen leben in Single-Haushalten, immer mehr Alte werden ambulant zuhause gepflegt – wer garantiert da eigentlich die persönliche SICHERHEIT? Ein paar Webcams in den Zimmern verteilt könnten doch äußerst beruhigend wirken, schließlich kommen Schlaganfälle und Herzinfarkte ganz plötzlich. Wer da dauernd hinsehen soll? Na, da gibts einerseits die Leute, die immer schon gern ihre Nachbarn beobachten, andrerseits finden sich sicher preiswerte Chinesen, die den Job für 50 Dollar im Monat gerne erledigen – die Globalisierung macht’s möglich und das wachsende Sicherheitsbedürfnis schafft den Bedarf.
Werde ich in ein paar Jahren jeden zweiten auf der Straße grüßen müssen, weil ich sein Gesicht erkenne und er meines? Werde ich verdächtig sein, wenn es über mich zu wenig Infos im Netz gibt? Sich ohne Folgen raus zu halten ist kaum möglich, wenn rundherum die Bedürfnisse zusammen mit den wachsenden technischen Möglichkeiten eine neue Welt erschaffen – das zeigt zum Beispiel das Handy.
Stimmfühlungslaute im Schwarm
Wie lange dauert ein Gespräch „von Angesicht zu Angesicht“, ohne dass dein Gegenüber einen Handy-Anruf bekommt? Wir sind nicht mehr miteinander alleine, wir sind inmitten des Schwarms – und wenn der Schwarm seine Richtung geringfügig ändert, müssen wir die Bewegung mitvollziehen, ob wir wollen oder nicht.
Wieviele Verabredungen finden noch statt, ohne dass sie per Mail oder Handy kurzfristig verschoben werden? Und jede Verschiebung zieht andere Verschiebungen nach sich, wenn es sich um ebenso vernetzte und vielfach eingebundene Personen handelt. A informiert B, dass der Termin um einen Tag verschoben werden muss. B informiert C und D, dass etwas wichtiges dazwischen gekommen ist, C und D passen ihrerseits ihre Pläne an, was weitere Personen in die Veränderung einbezieht. Der Schwarm bewegt sich schnell und wer nicht willens oder nicht in der Lage ist, sich mitzubewegen, fällt eben heraus.
Früher verabredete man sich für nächste Woche und konnte recht sicher sein, dass das Treffen auch statt findet. Heute tut man gut daran, sich kurz zuvor noch einmal zu versichern, dass sich nichts geändert hat. Das sind die Stimmfühlungslaute im Schwarm: Hallo, ich bin HIER und noch immer bewege ich mich Richtung Punkt X – du auch? Ja, alles roger, es sieht gut aus. Wenn was dazwischen kommt, melde ich mich!
Wer wiederholt die Erfahrung macht, dass es nichts bringt, sich auf eine Verabredung in einigem zeitlichen Abstand zu verlassen, wird sich immer weniger auf diese Art verabreden. Sondern vermehrt „ganz spontan“ anfragen, ob das Gegenüber vielleicht jetzt gerade Zeit hat. In meinem Freundeskreis ist das bereits die dominierende „Dating-Form“, der Schwarm agiert PLÖTZLICH, nicht von langer Hand geplant. Und wer planen muss – das ist die zweite Tendenz – betrachtet die eingegangenen Verabredungen nicht mehr als „fest“, sondern lediglich als Möglichkeiten, deren Realisierung nur dann statt findet, wenn nichts Wichtigeres dazwischen kommt.
Ein Handy-Verächter und E-Mail-Muffel kann in einer solchen Welt nur noch jemand sein, der sowieso „draußen“ ist – oder aber jemand, der so WICHTIG ist, dass sich sein ganzes Umfeld nach ihm und seinen Kommunikationsgepflogenheiten richten muss.
Wir dürfen gespannt sein, wie sich das „lokale Netz“ auf den Schwarm und seine Bewegungen auswirken wird. Ich vermute, die für das Leben in der Stadt so typische Anonymität wird tendenziell verschwinden, und wer nicht lokalisiert werden kann, wird verdächtig.
Ist das alles nun gut oder schlecht? Technisch voran getriebene Weltveränderungen scheren sich meist nicht um solche Bewertungen und so ist es eine Frage der persönlichen Situation und Stimmung, ob man das Leben im Schwarm genießt oder darunter leidet. Auf jeden Fall ist es eine Erscheinung, die mit dem Überwinden der Industriegesellschaft zu tun hat, die ein immer gleiches Funktionieren großer Menschenmassen in festen Strukturen erforderte.
Wo früher der lebenslange Arbeitsplatz die Normalität darstellte, dominieren heute flexible und oft prekäre Arbeitsformen. Man muss kreativ sein, neue Dienstleistungen erfinden und selbständig auf dem Markt anbieten, am besten mehrere „Standbeine“ und diverse „Spielbeine“ haben. Feste Bindungen mit entsprechenden Abhängigkeiten wirken als Bremse für die Entfaltung der Möglichkeiten und die Bewegungen des Schwarms – gut oder schlecht? Kommt drauf an, wer du bist: Nomaden haben viel Spaß im Schwarm, Sesshafte ein Problem.
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24 Kommentare zu „Vom Leben im Schwarm“.