Claudia am 28. April 2008 —

Lebenskunst: Vom unglücklichen Bewusstsein und der Schreckensherrschaft des Verstandes

Matthias H. schrieb mir kürzlich ins Gartenblog:

„Ich habe immer noch nicht wirklich gelernt, Schönes auf mich wirken zu lassen, ohne rasch wieder den Bogen zu spannen zu irgendeinem problematischen oder traurigen Aspekt der Sache. Während manch einer gut daran täte, mehr Ernsthaftigkeit in sein Leben zu bringen, steht bei mir immer noch das umgekehrte Lernziel an. Ich musste zunächst einmal begreifen, dass ich im ständigen Problematisieren deshalb immer bestens zu Hause war, weil mir zur Freude und zum Genuss irgendwie die Fähigkeiten fehlten. Hier die richtige Gewichtung hinzubekommen, so, dass Freude und Ernsthaftigkeit sich nicht gegenseitig die Luft wegnehmen, scheint mir ein großes Stück Lebenskunst zu sein.“

Gefangen im Problematischen

Dieses Dasein im „unglücklichen Bewusstsein“ kenne ich gut, es ging mir selber lange ganz genauso: Wie kann man sich über irgend etwas richtig freuen, wenn es doch so viel Elend auf der Welt gibt?? Ist das Genießen des Schönen nicht Egozentrik und Sünde, wenn es doch immer auch die dunkle Seite der Medaille gibt?

Wenn ich in der Stadt ein Stück Wildnis antreffe, so weiß ich doch, wie gefährdet sie ist und dass sie vermutlich bald zugebaut wird. Jede Mahlzeit und jeder Einkauf im Supermarkt gibt Anlass, an die Ausbeutung der dritten Welt, die verfehlte Agrarpolitik und die in den Lebensmitteln enthaltenen Chemie-Rückstände zu denken. Klamotten und Gerätschaften sind von grottenschlecht bezahlten Arbeitern in China und Indien hergestellt und an vielen Orten der Welt herrscht Krieg, Bürgerkrieg oder unsägliche Unterdrückung. Und wie kann ich 20 Euro in einer Saunalandschaft ausgeben, wenn ich doch weiß, dass der Betrag reichen würde, um ein Kambodschanisches Kind einen Monat zu verköstigen und zu beschulen?

Auch weniger honorige Gedanken können einem jeden Genuss vermiesen, z.B. das aus allen Medien dröhnende neue Glaubensbekenntnis, das da lautet: Du sollst schlank, fit, jung und gesund sein und gefälligst entsprechend leben! Oder die neuen Imperative, die Karriere, Erfolg, bzw. das Ökonomische insgesamt zum obersten Wert erklären: Niemals sollst du dich einfach treiben lassen und den Tag genießen, sondern stets etwas fürs „Fortkommen“ tun!

Und wer gegen all das Widerstand leistet, sich gegen die Beschleunigung und Ökonomisierung aller Lebenswelten zur Wehr setzt, tut niemals genug und fühlt sich erst recht schlecht. Wo kämen wir auch hin, wenn alle mit sich und der Welt zufrieden wären? Es gibt nichts Wahres im Falschen! (Adorno). Streben, kämpfen, Mangel und Ungerechtigkeiten beseitigen, an den eigenen Defiziten arbeiten – da ist für einfaches Wohlbefinden und den Augenblick genießen kein Platz.

Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass gegen dieses Verweilen im Unglück, das aus fortwährendem Problematisieren allen Erlebens entsteht, mit dem Verstand nahezu nichts auszurichten ist. Schlägt man der Hydra einen Kopf ab, wachsen sieben neue nach. Der Moment des Erfolgs, wenn mal ein (kleineres…) Problem gelöst ist, wird in Windeseile vom nächsten Problem abgelöst – die Welt bietet ja wahrlich genug Stoff!

Und dann der beeindruckende Sonnenuntergang über einer schönen, grünen Landschaft – ist das nicht wunderschön? ABER der Wald dort drüben besteht ja nur aus Nutzholz in Reih und Glied! Und auf dem blühenden Rapsfeld wächst vermutlich Doppel-Null-Raps, der der Artenvielfalt den Garaus macht. Die nächste Autobahn ist auch nicht weit, hörst du nicht die Motoren der viel zu vielen Lastwagen?

Es hört niemals auf…

Warum? Weil die Welt nun mal ist, wie sie ist? Nicht doch! Selbst dem beschränkten Verstand erschließt sich, dass es nicht nur die dunkle Seite der Medaille gibt, sondern auch all das Schöne und Wunderbare, an dem wir uns erfreuen könnten – WENN wir könnten!

Matthias H. schrieb dazu: „Ich musste zunächst einmal begreifen, dass ich im ständigen Problematisieren deshalb immer bestens zu Hause war, weil mir zur Freude und zum Genuss irgendwie die Fähigkeiten fehlten.“

Den Hammer aus der Hand legen

Was sind es für „Fähigkeiten“, die gebraucht werden, um das Schöne zu genießen? Das Wort „Fähigkeiten“ lässt gleich wieder ans Streben, Üben, sich Anstrengen denken, doch handelt es sich hier nicht um ein Tun, sondern um ein Unterlassen. Wir sind nicht der Verstand, der alles problematisiert, sondern viel mehr als das. Der Verstand, die Rationalität, das analytische Denken in Problemen und möglichen Lösungen ist ein Werkzeug, mehr nicht. Und dieses Werkzeug ist völlig in Ordnung, wie es ist. Es kann nicht anders als problematisieren, bewerten, analysieren, nächste Schritte vorschlagen, denn dafür ist es da. Man muss es aber auch aus der Hand legen können und nicht glauben, man selber sei das Werkzeug, sei der Verstand und nichts als diese ständig „einfallende“ Gedankenkette, die zu allem und jedem ihren Kommentar abgibt.

Niemand kann irgend etwas genießen, solange er vollständig mit dem Denken identifiziert ist. Die Suche nach dem Wohlbefinden, nach einem „Jenseits“ des Problematischen wird deshalb oft genug zur Sucht, denn man versucht mittels „mehr vom selben“ einen Zustand zu erreichen, der sich einfach nicht einstellen mag. (Der Fress-Anfall vor dem Kühlschrank ist getränkt mit unglücklichem Bewusstsein, nicht etwa ein wirklich befriedigendes Genuss-Erlebnis).

Wie man da heraus findet? Kein Problem: einfach loslassen, da sein, die Aufmerksamkeit auf das legen, was gerade empfunden wird. Problematisierende Gedanken, die auftauchen, einfach weiter ziehen lassen und ihnen nicht folgen. Spüren, wie das Körperempfinden, der Atem, die Emotionen und Gefühle in Resonanz mit dem stehen, was in diesem Augenblick erlebt wird. Beobachten, sich dessen gewahr sein, was ist. Er-leben statt drüber nachdenken – das ist definitiv erlaubt und sogar nützlich! :-)

Kein Problem? Hier schüttelt mancher Leser gewiss den Kopf. Schließlich wird auch der Weg hin zur Entspannung, zur inneren Ruhe und Gelassenheit, zur Leere, aus der die Fülle kommt, als schwierige und lebenslange Übung „verkauft“. Morgens und abends meditieren, stetes Streben, täglich Yoga, ab und an ein Retreat, Workshop, Satsang – und ein Regal voller Bücher über all das, Futter fürs Denken, das wir doch eigentlich in die Schranken weisen wollten. Ja, ja…

Dabei ist es wirklich kein Problem, sondern unsere Heimat. Verirrt ins Problematische, fälschlicherweise identifiziert mit dem Verstand, denken wir, es sei eine Leistung, ein langer schwerer Weg, dahin „zurück“ zu finden. Doch wir sind immer da, müssen es nur bemerken.

Ich weiß, dass das „Üben“ dieser und jener Praxis vielen Menschen hilft und selber verdanke ich den über zehn Jahren Yoga bei einem großartigen Lehrer sehr viel. Der Anstoß aber, die Motivation, solche Dinge überhaupt ins Leben einzubauen, kam für mich nicht aus dem Reich psychospiritueller Traditionen, sondern daher, dass ich das Dasein im unglücklichen Bewusstsein in meinem ersten Lebensentwurf so sehr ausgereizt hatte, dass ich fast daran zugrunde ging. Der Groschen ist also schon vor jeglichem „Üben“ gefallen, denn mein Denken war definitiv am Ende und mein Verstand hat kapituliert.

So etwas kann und will man nicht „machen“, schon gar nicht raten. Und wer doch eine Empfehlung möchte, geht mit einem meditativen Yoga sicher einen guten Weg.

***

Siehe auch:
Entspannung – Vom Jenseits des Umzu
Über Meditation

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Diskussion

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8 Kommentare zu „Lebenskunst: Vom unglücklichen Bewusstsein und der Schreckensherrschaft des Verstandes“.

  1. (´><`)
     Zum obigen Abschnitt nur ein kurzer Aphorismus. Das Leben ist im gleichen Maße schön wie es grausam ist. Man muß nur diesen fundamentalen Satz begreifen und dann ist man schon ein gutes Stück weiter. Vor allem sollte man vermeiden, das Leben zu sehr durchzurationalisieren. Dies ist die Krankheit der Zeit und Apparatedenken, bei dem der Mensch selbst zu einer Maschine degradiert wird. Und im Grunde korreliert das Leben mit der Einstellung, die wir von demselben haben. Schlichter formuliert klingt das so – wenn man das Leben leicht nimmt, hat man nicht mehr so schwer zu tragen.
    Beste Grüße
    Eo
     

  2. ähnlich wie beim Yoga kann man auch in anderen meditativen Tätigkeiten sein ich finden, wenn man es denn verloren hat. Ich für meinen Teil halte es mit japanischem Bondage. Seile um Menschen legen, dabei die Verantwortung übernehmen. Disziplin in der eigenen Person zeigen und Gelassenheit entwickeln. Das ist mein Rezept.

  3. Grüß Euch alle miteinand,
    insbesondere Matthias H,
    welcher Claudia zu obigem Eintrag veranlasste.

    Wenn ich lese:

    „Vom unglücklichen Bewusstsein und der Schreckensherrschaft des Verstandes“

    dann graust`s mich. Das kommt mir nämlich vor wie der Hinweis auf eine „folgerichtige“ Epedemie, unter der immer mehr Menschen zumindest in den westlichen Industrienationen leiden.

    Lieber Matthias und all die, welche auch unter ihrem Verstand leiden, ich trau mich mal eine Buchempfehlung eines für mich sehr außergewöhnlichen Werkes auszusprechen.

    „Jetzt! – Die Kraft der Gegenwart“ von Eckhart Tolle

    Seit vielen, vielen Jahren habe ich beim täglichen Lesen in diesem Buch das Gefühl einer praktisch nachvollziehbaren Wahrheit zu begegnen. Eine entscheidende Aussage Tolles für mich ist sinngemäß:

    Wenn Du im ewigen Augenblick verweilst, so ist eine Intelligenz am Werk, welche vom Verstand niemals erreicht werden kann.

    Liebe Claudia, falls konkrete Buchempfehlungen hier unerwünscht sind, nimm meinen Beitrag bitte raus.

    Wir alle haben nur das Eine, den ewigen Augenblick! Nutzen wir sein Potential.

    Liebe Grüße von Hermann 

  4. Hallo Claudia!
    „Den Hammer aus der Hand legen“. Das alles finde ich zum Weitersagen gut!

    Danke & lieber Gruß
    Matthias

  5. Man kann sich darin ueben, hinter allem ein Problem zu suchen. Und dann auch zu finden! Wie an deinem Beispiel Sonnenuntergang, dass du dann an abgeholzte Baeume denkst. Auf solche Weise schupfst du dich ja von Problem zu Problem. Und katapultierst dich aus der Staerke in die Schwaeche und kannst dann anderen Menschen, KIndern in Asien und Afrika erst recht nicht mehr helfen. Die brauchen aber alle starke Menschen an ihrer Seite. So musst du in dich gehen, dich finden und dich erst selber stark machen. Nur so kannst du auch andere stark machen, bzw. im positiven Sinne ansteckend wirken. Ich kenne eine Person .. kommst du mit einem Problem auf sie zu, ist ihre Antwort erst einmal: „Das kriegen wir schon hin“. Und sie schafft auch vieles! Und ich auch, wenn ich an ihren Satz denke!

  6. Ich danke Euch für Eure engagierten und lesenswerten Beiträge! Freue mich, hier Leser/innen zu treffen, die sich so einlassen!!

    @Hermann: die Buchempfehlung („Jetzt“) ist nicht unerwünscht, es gibt über dieses Buch auch eine von mir: Lesestoff für stille Stunden, mit Zitaten auch hier.

    Das „Problem“ mit solchen Büchern ist, soweit ich das als lebenslänglich immer mal wieder Spiri-Bücher Lesende sagen kann, dass man sie erst „versteht“, wenn man schon realisiert hat, was gemeint ist. Und DANN ist das Lesen überflüssig. Bzw. doch nicht ganz, denn wirklich tief gehende „Bücher der Wahrheit“ haben mehrere Schichten der Erkenntnis, in die man im Lauf des Lebens hinein wächst. Ein Buch, das – alle zehn Jahre gelesen – immer etwas „Neues“ sagt/aufzeigt, gehört zu dieser Sorte.

    @Divus: Was du beschreibst, ist der „Flow“, der bei jeglicher Tätigkeit erlebt werden kann, auf die man sich voll und ganz einlässt – was ja bedeutet, eben nicht „drüber zu grübeln“, sondern im Tun zu versinken. Wie ist es aber, wenn NICHTS getan wird? Nützt dir die Bondage-Praxis über die Situation hinaus, vom Denken/Grübeln/Urteilen nicht beherrscht zu werden? (Für die passive Seite kann ich mir das vorstellen, aber weniger für die aktive).

    @Eo: Ja, so ist es – abstrahiert formuliert. „Man sollte“… was aber, wenn man nicht kann? Und: Wie steht es bei DIR damit? Das Abstrahieren im Sinne des „von sich absehen“ möchte ich gerne den Philosophen und Journalisten überlassen!

    @Mohnblume: Ja, solche Menschen sind Quellen der Kraft! Und sie können es erst sein, wenn sie nicht mehr hauptsächlich ums eigene Befinden kreisen – was eigentlich eine Eigenschaft aller älterer Menschen „sein sollte“.. :-)

  7. Meine Buchempfehlung zu diesem Thema wäre: „Aufwachen – Dein Leben wartet“ von Lynn Grabhorn. Es handelt von der erstaunlichen Macht der Gefühle und Gedanken. Hier wird vermittelt, wie man durch die Änderung der eigenen Betrachtungsweise der Dinge zu einer positiveren Lebensweise gelangt. Habs in einer ähnlichen Situation mit Wonne gelesen!

  8. Hallo zusammen,
    es hat mich gefreut, dass einer meiner Kommentare die Anregung für dieses Blog-Thema gegeben hat.
    Ich habe mehrere Wochen Internet-Abstinenz hinter mir und bin daher etwas spät dran, aber vielleicht liest das folgende doch noch jemand.

    Es ist allerdings ein Missverständnis zu glauben, wie Hermann es schrieb, dass ich „unter dem Verstand leide“. Nein, tatsächlich ist die Praxis, immer rasch auf die negativen Aspekte zu schwenken, nach meiner Erfahrung eine Sache der Mentalität und damit eine Sache der Emotionen. Zum Beispiel ein überdrehter Moralismus, also das Gefühl, sich nichts gönnen zu dürfen, solange es einem anderen schlecht geht, im Grund eine Art Schuldgefühl … Weiteres Beispiel: es liegt Angst vor, wenn jedes gute Ereignis mit dem Gedanken begleitet wird, „aber wird es auch so gut weitergehen“.

    Der Verstand ist also nicht der Grund dieser Sprünge ins Negative, vielmehr hilft er nur, für die Gefühle der Scham, Schuld, Angst etc. das Beleg-Material, d.h. die Rechtfertigung und Bebilderung, aufzubringen. Deshalb behaupte ich auch, dass sämtliche psychologischen und spirituellen Positionen, die den Verstand als Urheber des Grüblens und Leidens benennen, völlig falsch liegen. Die Entgegensetzung von Gefühl (gut) und Verstand (schlecht) übersieht, dass hier in Wirklichkeit ein Kampf innerhalb der Gefühlswelt stattfindet. Auch der vielgerühmte Tolle begreift das nicht, was mich aber nicht wundert, da er in der ganz besonders verstandesfeindlichen non-dualistischen Tradition steht, wie leider die meisten der modernen Advaita-Vertreter. Schlechtes Gewisssen, mangelndes Selbstwertgefühl u.ä. haben nichts mit Verstandestätigkeit zu tun (sind in der Regel eher ziemlich unlogisch). – Meditation kann negative Konditionierung durchaus helfen, das sehe ich auch so, weil sie das Gefühl für die Gegenwart stärkt und damit die Gewohnheit vermindert, Gefühlen des Misstrauens, der Angst und der Aggression Spielraum zu lassen.

    Danke für die engagierten Kommentare!
    Matthias H