Matthias H. schrieb mir kürzlich ins Gartenblog:
„Ich habe immer noch nicht wirklich gelernt, Schönes auf mich wirken zu lassen, ohne rasch wieder den Bogen zu spannen zu irgendeinem problematischen oder traurigen Aspekt der Sache. Während manch einer gut daran täte, mehr Ernsthaftigkeit in sein Leben zu bringen, steht bei mir immer noch das umgekehrte Lernziel an. Ich musste zunächst einmal begreifen, dass ich im ständigen Problematisieren deshalb immer bestens zu Hause war, weil mir zur Freude und zum Genuss irgendwie die Fähigkeiten fehlten. Hier die richtige Gewichtung hinzubekommen, so, dass Freude und Ernsthaftigkeit sich nicht gegenseitig die Luft wegnehmen, scheint mir ein großes Stück Lebenskunst zu sein.“
Gefangen im Problematischen
Dieses Dasein im „unglücklichen Bewusstsein“ kenne ich gut, es ging mir selber lange ganz genauso: Wie kann man sich über irgend etwas richtig freuen, wenn es doch so viel Elend auf der Welt gibt?? Ist das Genießen des Schönen nicht Egozentrik und Sünde, wenn es doch immer auch die dunkle Seite der Medaille gibt?
Wenn ich in der Stadt ein Stück Wildnis antreffe, so weiß ich doch, wie gefährdet sie ist und dass sie vermutlich bald zugebaut wird. Jede Mahlzeit und jeder Einkauf im Supermarkt gibt Anlass, an die Ausbeutung der dritten Welt, die verfehlte Agrarpolitik und die in den Lebensmitteln enthaltenen Chemie-Rückstände zu denken. Klamotten und Gerätschaften sind von grottenschlecht bezahlten Arbeitern in China und Indien hergestellt und an vielen Orten der Welt herrscht Krieg, Bürgerkrieg oder unsägliche Unterdrückung. Und wie kann ich 20 Euro in einer Saunalandschaft ausgeben, wenn ich doch weiß, dass der Betrag reichen würde, um ein Kambodschanisches Kind einen Monat zu verköstigen und zu beschulen?
Auch weniger honorige Gedanken können einem jeden Genuss vermiesen, z.B. das aus allen Medien dröhnende neue Glaubensbekenntnis, das da lautet: Du sollst schlank, fit, jung und gesund sein und gefälligst entsprechend leben! Oder die neuen Imperative, die Karriere, Erfolg, bzw. das Ökonomische insgesamt zum obersten Wert erklären: Niemals sollst du dich einfach treiben lassen und den Tag genießen, sondern stets etwas fürs „Fortkommen“ tun!
Und wer gegen all das Widerstand leistet, sich gegen die Beschleunigung und Ökonomisierung aller Lebenswelten zur Wehr setzt, tut niemals genug und fühlt sich erst recht schlecht. Wo kämen wir auch hin, wenn alle mit sich und der Welt zufrieden wären? Es gibt nichts Wahres im Falschen! (Adorno). Streben, kämpfen, Mangel und Ungerechtigkeiten beseitigen, an den eigenen Defiziten arbeiten – da ist für einfaches Wohlbefinden und den Augenblick genießen kein Platz.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass gegen dieses Verweilen im Unglück, das aus fortwährendem Problematisieren allen Erlebens entsteht, mit dem Verstand nahezu nichts auszurichten ist. Schlägt man der Hydra einen Kopf ab, wachsen sieben neue nach. Der Moment des Erfolgs, wenn mal ein (kleineres…) Problem gelöst ist, wird in Windeseile vom nächsten Problem abgelöst – die Welt bietet ja wahrlich genug Stoff!
Und dann der beeindruckende Sonnenuntergang über einer schönen, grünen Landschaft – ist das nicht wunderschön? ABER der Wald dort drüben besteht ja nur aus Nutzholz in Reih und Glied! Und auf dem blühenden Rapsfeld wächst vermutlich Doppel-Null-Raps, der der Artenvielfalt den Garaus macht. Die nächste Autobahn ist auch nicht weit, hörst du nicht die Motoren der viel zu vielen Lastwagen?
Es hört niemals auf…
Warum? Weil die Welt nun mal ist, wie sie ist? Nicht doch! Selbst dem beschränkten Verstand erschließt sich, dass es nicht nur die dunkle Seite der Medaille gibt, sondern auch all das Schöne und Wunderbare, an dem wir uns erfreuen könnten – WENN wir könnten!
Matthias H. schrieb dazu: „Ich musste zunächst einmal begreifen, dass ich im ständigen Problematisieren deshalb immer bestens zu Hause war, weil mir zur Freude und zum Genuss irgendwie die Fähigkeiten fehlten.“
Den Hammer aus der Hand legen
Was sind es für „Fähigkeiten“, die gebraucht werden, um das Schöne zu genießen? Das Wort „Fähigkeiten“ lässt gleich wieder ans Streben, Üben, sich Anstrengen denken, doch handelt es sich hier nicht um ein Tun, sondern um ein Unterlassen. Wir sind nicht der Verstand, der alles problematisiert, sondern viel mehr als das. Der Verstand, die Rationalität, das analytische Denken in Problemen und möglichen Lösungen ist ein Werkzeug, mehr nicht. Und dieses Werkzeug ist völlig in Ordnung, wie es ist. Es kann nicht anders als problematisieren, bewerten, analysieren, nächste Schritte vorschlagen, denn dafür ist es da. Man muss es aber auch aus der Hand legen können und nicht glauben, man selber sei das Werkzeug, sei der Verstand und nichts als diese ständig „einfallende“ Gedankenkette, die zu allem und jedem ihren Kommentar abgibt.
Niemand kann irgend etwas genießen, solange er vollständig mit dem Denken identifiziert ist. Die Suche nach dem Wohlbefinden, nach einem „Jenseits“ des Problematischen wird deshalb oft genug zur Sucht, denn man versucht mittels „mehr vom selben“ einen Zustand zu erreichen, der sich einfach nicht einstellen mag. (Der Fress-Anfall vor dem Kühlschrank ist getränkt mit unglücklichem Bewusstsein, nicht etwa ein wirklich befriedigendes Genuss-Erlebnis).
Wie man da heraus findet? Kein Problem: einfach loslassen, da sein, die Aufmerksamkeit auf das legen, was gerade empfunden wird. Problematisierende Gedanken, die auftauchen, einfach weiter ziehen lassen und ihnen nicht folgen. Spüren, wie das Körperempfinden, der Atem, die Emotionen und Gefühle in Resonanz mit dem stehen, was in diesem Augenblick erlebt wird. Beobachten, sich dessen gewahr sein, was ist. Er-leben statt drüber nachdenken – das ist definitiv erlaubt und sogar nützlich! :-)
Kein Problem? Hier schüttelt mancher Leser gewiss den Kopf. Schließlich wird auch der Weg hin zur Entspannung, zur inneren Ruhe und Gelassenheit, zur Leere, aus der die Fülle kommt, als schwierige und lebenslange Übung „verkauft“. Morgens und abends meditieren, stetes Streben, täglich Yoga, ab und an ein Retreat, Workshop, Satsang – und ein Regal voller Bücher über all das, Futter fürs Denken, das wir doch eigentlich in die Schranken weisen wollten. Ja, ja…
Dabei ist es wirklich kein Problem, sondern unsere Heimat. Verirrt ins Problematische, fälschlicherweise identifiziert mit dem Verstand, denken wir, es sei eine Leistung, ein langer schwerer Weg, dahin „zurück“ zu finden. Doch wir sind immer da, müssen es nur bemerken.
Ich weiß, dass das „Üben“ dieser und jener Praxis vielen Menschen hilft und selber verdanke ich den über zehn Jahren Yoga bei einem großartigen Lehrer sehr viel. Der Anstoß aber, die Motivation, solche Dinge überhaupt ins Leben einzubauen, kam für mich nicht aus dem Reich psychospiritueller Traditionen, sondern daher, dass ich das Dasein im unglücklichen Bewusstsein in meinem ersten Lebensentwurf so sehr ausgereizt hatte, dass ich fast daran zugrunde ging. Der Groschen ist also schon vor jeglichem „Üben“ gefallen, denn mein Denken war definitiv am Ende und mein Verstand hat kapituliert.
So etwas kann und will man nicht „machen“, schon gar nicht raten. Und wer doch eine Empfehlung möchte, geht mit einem meditativen Yoga sicher einen guten Weg.
***
Siehe auch:
Entspannung – Vom Jenseits des Umzu
Über Meditation
Diesem Blog per E-Mail folgen…
Diskussion
Kommentare abonnieren (RSS)
8 Kommentare zu „Lebenskunst: Vom unglücklichen Bewusstsein und der Schreckensherrschaft des Verstandes“.