In seinem appellatorisch überschriebenen Artikel Gemeinsam agieren statt allein reagieren reflektiert „Thinkabout“ über die Gier nach MEHR als Phänomen in jedem Einzelnen, die sich in den letzten 15 Jahren zum beherrschenden gesellschaftlichen Trend etabliert hat: weniger Solidarität, weniger Gemeinschaft, dafür mehr individuelle Freiheit und Selbstverwirklichung – und alle (bzw. die allermeisten) waren damit einverstanden. Denn der Maßlosigkeit der Mächtigen, sagt Thinkabout, entspräche im Gefühl der Individuen „dass es auch für einen selbst ein bisschen mehr sein darf”, und führt dann eine Reihe von Beispielen an, denen kaum zu widersprechen ist.
Das Motiv solcher Reflexionen stellt der Autor dem Artikel gleich voran: „Vielleicht komme ich ja auch nur darauf, weil mir alles zutiefst zuwider ist, was mir das Gefühl gibt, bloss Spielball fremder Mächte und Interessen zu sein. Da frage ich lieber danach, was scheinbare Automatismen, denen ich mich plötzlich ausgesetzt sehe, eben doch auch mit mir zu tun haben.“
Ja, das verstehe ich gut, allermeist geht es mir genauso und in diesem Diary gibt es viele Artikel, die solche Reflexionen der eigenen dunklen Seiten enthalten. Zu „schlichten Feindbildern“ sei ich nicht mehr fähig, schrieb ich noch letztens im Beitrag „Annäherung an persönliche Verantwortung“, doch was ich in diesen Tagen so alles mitbekomme, stellt diese Selbstbescheidung tatsächlich wieder in Frage.
Denn auch im Bewusstsein der eigenen „Gier nach mehr“, die ja auch weniger auffällige, immaterielle Formen annehmen kann, war und ist diese Wahrnehmung für mich immer auch mit einem Gefühl der Scham verknüpft. Eine Scham, die dazu führt, es „nicht zu doll zu treiben“ und diese Seite im Ausleben weitestmöglich zu begrenzen – und natürlich wünsche ich mir, dass meine Mitmenschen möglichst gar nichts davon mitbekommen! Wer will schon als egoistische, vordringlich dem eigenen Wohlleben und Fortkommen verpflichtete Person wahrgenommen werden?
Hauptsache, die Kohle stimmt
Umso mehr staune ich, dass es solche Menschen tatsächlich gibt! Gestern zappte ich kurz mitten in eine Rede des Finanzministers, der sich darüber empörte, dass die Banker von ihm nun auch noch „Anreizsysteme“ verlangten, die es für sie lukrativ machen sollen, den „Rettungsfond“ für ihre Banken in Anspruch zu nehmen. Tja, wer will schon eine Rettung, die derart drastisch die persönlichen Bezüge kürzt? Statt Millionen nur noch 500.000 – das ist ja Zwangsverarmung! Da lässt man doch lieber die Wirtschaft den Bach runter gehen und die Banken in die Insolvenz – Hauptsache bis zum Schluss stimmt die Kohle!
Keinerlei Scham scheinen auch die Autobauer zu empfinden, wenn sie sich nun staatlich finanzieren lassen wollen, was sei seit Jahren mutwillig und entgegen dem allgemeinen Trend verweigert haben: die Entwicklung umweltfreundlicherer Autos. Statt dessen vermarkteten sie mit allen Mitteln ihre Protzkarossen, drückten sie mit billigen Leasingverträgen in den Markt und schmissen mit Vollfinanzierungen und Rabatten nur so um sich, um nur ja nicht von ihrem Kurs ablassen zu müssen, der da hieß: größer, schneller, teurer, mehr!
Dass der in seinem Job gewiss nicht schlecht bezahlte Bahn-Chef Mehdorn sich und seinen Co-Managern für den Börsengang (=Verschleuderung) der Bahn mal eben noch „Boni“ in Millionenhöhe genehmigen ließ, hat jetzt einen Staatsekretär die Stellung gekostet – zu verhindern ist es offenbar nicht.
Ein lieber Freund, mit dem ich gestern über all diese Vorkommnisse sprach, meinte recht treffend, diese Leute seien wie süchtige, oft jugendliche Online-Spieler, die nicht mehr vom Monitor loskommen, weil sie ja immer „noch einen Feind besiegen“ müssen. Da helfe letztlich nur, ihnen den Stecker zu ziehen.
Tja, aber WER sollte das machen und WIE? Wohl kaum diejenigen, die mit einer „Altersversorgung“ durch ein Aufsichtsratmandat bei einer Bank, einer Versicherung oder bei der Bahn rechnen.
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Siehe auch:
* Protestkundgebung vor dem Finanzministerium
* Gedicht zur Lage (nicht von Tucholsky, aber trotzdem gut)
* € 500.000.000.000 (2) ( = warum es doch am System liegt…)
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5 Kommentare zu „Schamlose Gier“.