„Irgendwann wird man darüber schreiben, wie das user-generated Web 2.0 sich gegen Ende des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrtausend immer schneller zu drehen begann, bis schließlich selbst die eingefleischten Power-Nerds nicht mehr mithalten konnten und die News-Rezeption und -Reproduktion im Minutentakt entnervt aufgaben. Und der Name, bei dem das Unheil genannt werden wird, lautet „Realtime-Web“.“
So beginnt ein Artikel von Stefan Münz auf Webkompetenz, der mich gestern Abend regelrecht „in den Bann geschlagen“ hat. Er handelt vom immer schnelleren Kommunizieren, wie es die heutigen Web2.0-Tools – allen voran Twitter & Co. – möglich machen:
„Wer in diesem rasanten Fluidum publiziert, muss sich pausenlos mit allem möglichen beschäftigen, Input möglichst schnell in scheinbar originären Output umwandeln, und wie ein Artist die vielen schnell drehenden Teller auf Twitter, Facebook, FriendFeed und Posterous am Kreisen halten. Keine paar Minuten lang, sondern Tag für Tag. Schlafen, Muße, all das wird bei näherem Hinsehen zu Zeit, in der man nicht zu den ersten gehört, die News entdecken, weitergeben und so schlau kommentieren, dass es andere wiederum retweeten. Ist man mal zwei Tage aus privaten oder beruflichen Gründen aus dem Flow herausgerissen, kommt man sich wie ein Penner vor, ein Ausgestoßener aus der Mitte der Informierten. Einer, der den Anschluss an die reale Zeit verloren hat. Fatal.“
Erst fühlte ich mich noch recht unbetroffen und machte mich daran, das in einen Kommentar zu schreiben, der mit einer Distanzierung beginnt:
„Ich fühl mich wahrlich nicht als „Nerd“ und verweigere mich immer schon hartnäckig den kleinen Fensterchen mit irgendwelchen Meldungen als Dauereinrichtung auf meinem PC. Mein Mitmachen ist noch immer bewusstes EINTAUCHEN in diese Streams, was mir am besten gelingt, wenn ich eigendynamisch eine Website ansurfe: das Twitter-Home ist quasi ein Ort in der Ortlosigkeit – und ich hasse es, wenn diese „Orts-Anmutung“ verschwinden will!“
Doch während des Lesens und Schreibens konnte ich beobachten, wie ich mich im Echtzeit-Web verhedderte, wie ich gewohnheitsmäßig weiter meldete, was ich gerade las, noch bevor ich damit zu Ende war – und wie dann eine weitere halbe Stunde im Kampf mit den „Features“ verging, die meine Konzentration und Aufmerksamkeit in alle Winde zerstreute.
Widerstand leistete ich, indem ich die Kräfte der Zerstreuung minutiös beschrieb, während sie mich gefangen hielten: das tat gut, gab‘ ein Gefühl der Selbstvergewisserung und der Macht, doch noch zumindest ein wenig selbst zu bestimmen, was gerade geschieht. Als lebenslänglich Schreibende ist mir dieser Halt vertraut, doch „so richtig“ funktioniert das in den rasenden Strömen der schier unendlich vielen Texte nicht mehr, sondern ist sogar kontraproduktiv: alles Geschriebene ist ja wieder eine Meldung, wird weiter getwittert, möglicherweise kommentiert, bewertet, in andere Kontexte eingebettet und zitiert – und wer kann von sich schon ehrlich behaupten, dass ihm Resonanz komplett egal ist?
Das ist der Angelhaken, an dem auch ich immer wieder hängen bleibe: Aufmerksamkeit, dieses in den über alle Ufer tretenden Informationsströmen immer knapper werdende Gut, erscheint „kostenlos“ einsammelbar, wenn man nur die richtigen Tools schnell genug nutzt. Neben der Nachricht, dem neuen Text, der gerade angetroffenen interessanten Fundsache gewinnt das Weitersagen einen Stellenwert, der die Bedeutung des Inhalts, um den es geht, oft genug übersteigt. „Ich will es gar nicht wissen, nur weitersagen“ – so kokettierte einst Gottschalk in seiner Gummibärchen-Werbung mit seinen Kritikern. Heute ist dieses Verhalten täglich Brot unzähliger Web 2.o-User: als „gute Info-Quelle“ kann man ebenso gut, ja sogar besser JEMAND SEIN – das Material namens „Content“ liegt ja überall in großer Fülle herum, man muss es nur aufgreifen und weiter melden: möglichst schnell, möglichst oft.
Rückzug in die physische Welt
Fast täglich entziehe ich mich zur Zeit dem Druck der Info-Ströme und fahre im Lauf des Nachmittags in den Garten. Bisher hab‘ ich darauf verzichtet, mir dort einen Netzzugang zu verschaffen, um „auf dem Laufenden zu bleiben“. Entgegen dem ursprünglichen Plan werde ich auch dabei bleiben, denn der Garten erdet mich: nach einem Kaffe und ein bisschen Plaudern lege ich mich auf die Liege und schaue in den Himmel, lausche den Vögeln, dem leisen Sound der fernen Straße und dem sanften Wispern der Überlandleitungen, die in einiger Höhe über das Gartenland führen. Endlich hat der Kopf Zeit, die vielerlei Informationen und Eindrücke zu verarbeiten, ohne dass es währendessen schon Neues zu tun, zu lesen, zu schreiben, zu melden gäbe.
Auch Stefan kennt die wundersame Wirkung des Kontakts mit der physischen Welt da draußen und beschreibt sie mit fast poetischen Worten:
Vielleicht liegt es ja an der Jahreszeit. Der Sommer brennt sein Feuer ab. Sanft streicheln leichte Brisen die Haut. Die Sonne bestimmt mit flutendem Licht, wie die Dinge der Welt aussehen. Wenn man Orte meidet, an denen sich an solchen Tagen alles tummelt, hat man gute Chancen, in luftiges Denken zu geraten. Denken, das nicht im Dienst irgendeiner tagesaktuellen Entrüstung steht, oder für irgendeine Überzeugung kämpft. Eher ein Schweben im bewussten Raum, mühelos und beliebig kreativ.
Zwischen den zerstreuenden Kräften des Realtime-Webs und der beruhigenden Versenkung ins „einfach da sein“ muss ich die Mitte finden. Ich bin guter Dinge, dass das nach einigen Startschwierigkeiten auch gelingt!
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8 Kommentare zu „Zwischen Echtzeit-Web und Altweibersommer“.