Gestern hab‘ ich mich in alte Zeiten versenkt, was ich sonst nie tue. Immer schon werfe ich gerne alles weg, was andere in Alben kleben und in verzierten Kästchen aufbewahren: Briefe, Bilder, all dieser „Nippes“, der sich so sammelt und dazu einlädt, diese „Dinge mit Bedeutung“ ab und an zu betrachten und in Erinnerungen zu schwelgen: Ach ja, damals…. das waren noch Zeiten!
Nö, das wollte ich für mich nicht. Die alten Leute meiner Jugendzeit konnten mich ohne Ende mit ihren Geschichten vom Krieg nerven: „Kind, du weißt ja gar nicht, wie gut du es hast!“, während ich gerade dabei war, mich ordentlich zu beschweren, mehr Freiräume einzufordern und alles Alte und Überkommene in die Tonne zu treten. Eine alte Tante servierte bei jedem Besuch ein grauenhaftes Teewurstbrot, dessen glatte, glänzende, fleischfarbige Oberfläche mich extrem anwiderte. „Wir wären froh gewesen, wenn wir sowas gehabt hätten!“, sagte sie und schaute mich vorwurfsvoll an, wenn ich das Essen verweigerte. Verdammt nochmal, der Krieg war wirklich lange lange vorbei!
Ich schwor mir, niemals so zu werden wie sie. Auch nicht wie die alten Männer in der Zentralkartei des Wiesbadener Bundeskriminalamtes, wo ich nach dem Abi jobbte. Die sprachen die meiste Zeit über ihre Krankheiten bis hin zur morgendlichen Farbe des Urins, und natürlich von Ereignissen, die mindestens 20 Jahre zurück lagen. Eine Hölle der Langeweile, die erst endete, als endlich noch ein Student auftauchte, mit dem ich mich dann auch bald zwischen den hohen Regalen der beachbarten Aktenhaltung der Lust hingab – quasi demonstrativ, obwohl uns keiner erwischte.
Zeitreise in die wilden 70ger und 8oger: Aufstehn!
Meine Weigerung, die Materialien fürs Erinnern zu speichern, erweist sich dank des Internets nun als überflüssig. Die Geschichte der verschiedenen Bewegungen (68er, 70ger, Hippies, Frauenbewegung, Hausbesetzungen, AntiAKW etc.) steht vielgestaltig im Web, und auf Youtube findet sich der Soundtrack der wilden 70ger und 80ger-Jahre. Platten hab‘ ich nie lange aufgehoben, später ganz aufgehört, Musik zu sammeln – jetzt kann ich mir den ganzen Kram trotzdem vorspielen!
Und mit einem leisen Gefühle der Sündhaftigkeit, das immer dann da ist, wenn man anfängt, sich selbst zu konterkarieren, hab‘ ich gestern zwei Playlisten erstellt: Bewegte 70ger und wilde 80ger/NDW. Ich war 1968 gerade mal 14, zum Glück ein wenig „zu spät gekommen“, um mich noch richtig ernsthaft in die Studentenproteste mit folgendem K-Grüppler-Tum zu verstricken – und doch mit dem Herzen voll dabei, obwohl ich von dem, was da verhandelt wurde, nicht wirklich eine Ahnung hatte! Hauptsache PROTEST, weg mit „Rasen betreten verboten“ und dem „Muff von 1000 Jahren“, von dem auch ich mich umgeben fühlte. Nach der Schule der Zug am Joint bei den Gammlern in der Grünanlage, vor denen die Eltern solche Angst hatten. Aufmüpfig studierte ich auf der neuen Gitarre das schmissige „Cocain“ von Hannes Vader ein und wagte mit 18 das „große bewusstseinserweiternde Abenteuer“ eines LSD-Trips: Timothy Leary meinte ja, es sei das richtige Stöffchen fürs Trinkwasser, der Weltfrieden wäre dann kein Problem mehr.
Die heute Jungen tun mir ziemlich leid, wenn ich so vergleiche, wie wir damals lebten und was sie heute tun bzw. tun müssen. Wir verschwendeten nämlich kaum je einen Gedanken an so etwas Spießiges wie den späteren Job, sondern waren damit beschäftigt, die Welt zu verbessern: weg mit dem Patriarchat, her mit den selbst bestimmten Lebensformen, nie nie nie „entfremdete Arbeit“, sondern viel Lust und freie Liebe, und lange, lange Haare, auch bei Männern.
Doch langsam verdüsterte sich der Horizont: der deutsche Herbst änderte die Atmosphäre im Land und es wurde richtig ernst. Mit Terror wollte ich nichts zu tun haben, doch wurden von der Obrigkeit alle sozialen Protestbewegungen quasi in Sippenhaft genommen, was vielfach auch zu „stolzer Paranoia“ führte: alle fühlten sich überwacht, abgehört, bespitzelt… und all die gutwilligen und kulturrevolutionären Bewegungen bekamen selber eine repressive Seite: Frauenbewegte Frauen wurden zu Bewegungslesben, Alternative schotteten sich ab und es wurde richtig anstrengend, in Worten und Taten wie gewohnt immer bei den Guten zu sein.
NDW, Punk und Endzeitstimmung
Kein Wunder, dass eine zweite Welle, getragen von Jüngeren Anfang der 80ger gegen all das verbissen Politische rebellierte: Gib Gas, ich will Spass war ein Schlag ins Gesicht miesepetriger Birkenstock-tragender Ökos, die einem alles verbieten wollten. Ina Deters „Neue Männer braucht das Land“ richtete sich weniger gegen „alte“ Männer, sondern vornehmlich gegen das lilalatzhosige, allzu verbissen männerfeindliche Emanzentum, für das schon die männlichen Babys der wenigen, die damals noch Kinder bekamen, ein Problem waren.
Ich war jetzt 26, verließ das langweilige Wiesbaden und stürzte mich ins wilde Berlin, wo ich mich zum ersten Mal selber aktiv an einer „Bewegung“ beteiligte. In besetzten Häusern probten wir das andere Leben, begleitet vom witzigen Sound der Neuen Deutschen Welle und fetzigen Politsongs, die keine alternativen Träume mehr besangen, sondern die Welt schwarz in schwarz malten: Geschichten aus dem täglichen Sterben, es geht voran!
Wir glaubten ja wirklich, es käme jetzt – ganz in echt! – bald der große Knall, ein Lebensgefühl, das sich wohl heute kaum mehr einer vorstellen kann.
All diese Songs berührten mich gestern abend auf vielfältige Weise, doch bei einem Text kamen wir die sprichwörtlichen Tränen der Rührung: der getragene, vor Wertungen nur so strotzende Song der Bots „Aufstehn“ enthält Sätze, die nicht in Vergessenheit geraten sollen, weshalb ich sie hier zum Schluss meiner Erinnerungs-Session mal in Auszügen zitiere:
Alle die noch wissen was Liebe ist,
alle die noch wissen was Hass ist
und was wir kriegen sollen
nicht das ist, was wir wollen
sollen aufstehn!Alle die nicht schweigen,
auch nicht wenn sich Knüppel zeigen, sollen aufstehn!
Die zu ihrer Freiheit auch die Freiheit ihres Nachbarn brauchen sollen aufstehn!
Alle, für die Nehmen schön wie Geben ist
und Geldverdienen nicht das ganze Leben ist,
die von ihrer Schwäche sprechen
und sich kein`n dabei abbrechen
sollen aufstehn!Alle Malermeister die die BILD nur nehm`n für`n Kleister sollen aufstehn,
die den Banken nix verdanken ausser Raffgier ohne Schranken sollen aufstehn!
Alle Alten die stolz sind auf ihre Falten sollen aufstehn!
Alle Menschen, die ein bessres Leben wünschen
sollen aufstehn!
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8 Kommentare zu „Doch mal erinnern? Die wilden 70ger und 80ger“.