Claudia am 29. August 2009 —

Doch mal erinnern? Die wilden 70ger und 80ger

Gestern hab‘ ich mich in alte Zeiten versenkt, was ich sonst nie tue.  Immer schon werfe ich gerne alles weg, was andere in Alben kleben und in verzierten Kästchen aufbewahren: Briefe, Bilder, all dieser „Nippes“, der sich so sammelt und dazu einlädt, diese „Dinge mit Bedeutung“ ab und an zu betrachten und in Erinnerungen zu schwelgen: Ach ja, damals…. das waren noch Zeiten!

Nö, das wollte ich für mich nicht. Die alten Leute meiner Jugendzeit konnten mich ohne Ende mit ihren Geschichten vom Krieg nerven: „Kind, du weißt ja gar nicht, wie gut du es hast!“, während ich gerade dabei war, mich ordentlich zu beschweren, mehr Freiräume einzufordern und alles Alte und Überkommene in die Tonne zu treten. Eine alte Tante servierte bei jedem Besuch ein grauenhaftes Teewurstbrot, dessen glatte, glänzende, fleischfarbige Oberfläche mich extrem anwiderte. „Wir wären froh gewesen, wenn wir sowas gehabt hätten!“, sagte sie und schaute mich vorwurfsvoll an, wenn ich das Essen verweigerte. Verdammt nochmal, der Krieg war wirklich lange lange vorbei!

Ich schwor mir, niemals so zu werden wie sie. Auch nicht wie die alten Männer in der Zentralkartei des Wiesbadener Bundeskriminalamtes, wo ich nach dem Abi jobbte. Die sprachen die meiste Zeit über ihre Krankheiten bis hin zur morgendlichen Farbe des Urins, und natürlich von Ereignissen, die mindestens 20 Jahre zurück lagen. Eine Hölle der Langeweile, die erst endete, als endlich noch ein Student auftauchte, mit dem ich mich dann auch bald zwischen den hohen Regalen der beachbarten Aktenhaltung der Lust hingab – quasi demonstrativ, obwohl uns keiner erwischte.

Zeitreise in die wilden 70ger und 8oger: Aufstehn!

Meine Weigerung, die Materialien fürs Erinnern zu speichern, erweist sich dank des Internets nun als überflüssig. Die Geschichte der verschiedenen Bewegungen (68er, 70ger, Hippies, Frauenbewegung, Hausbesetzungen, AntiAKW etc.) steht vielgestaltig im Web, und auf Youtube findet sich der Soundtrack der wilden 70ger und 80ger-Jahre. Platten hab‘ ich nie lange aufgehoben, später ganz aufgehört, Musik zu sammeln – jetzt kann ich mir den ganzen Kram trotzdem vorspielen!

Und mit einem leisen Gefühle der Sündhaftigkeit, das immer dann da ist, wenn man anfängt, sich selbst zu konterkarieren, hab‘ ich gestern zwei Playlisten erstellt: Bewegte 70ger und wilde 80ger/NDW.  Ich war 1968 gerade mal 14, zum Glück ein wenig „zu spät gekommen“, um mich noch richtig ernsthaft in die Studentenproteste mit folgendem K-Grüppler-Tum zu verstricken – und doch mit dem Herzen voll dabei, obwohl ich von dem, was da verhandelt wurde, nicht wirklich eine Ahnung hatte! Hauptsache PROTEST, weg mit „Rasen betreten verboten“ und dem „Muff von 1000 Jahren“, von dem auch ich mich umgeben fühlte. Nach der Schule der Zug am Joint bei den Gammlern in der Grünanlage, vor denen die Eltern solche Angst hatten. Aufmüpfig studierte ich auf der neuen Gitarre das schmissige „Cocain“ von Hannes Vader ein und wagte mit 18 das „große bewusstseinserweiternde Abenteuer“ eines LSD-Trips: Timothy Leary meinte ja, es sei das richtige Stöffchen fürs Trinkwasser, der Weltfrieden wäre dann kein Problem mehr.

Die heute Jungen tun mir ziemlich leid, wenn ich so vergleiche, wie wir damals lebten und was sie heute tun bzw. tun müssen. Wir verschwendeten nämlich kaum je einen Gedanken an so etwas Spießiges wie den späteren Job, sondern waren damit beschäftigt, die Welt zu verbessern: weg mit dem Patriarchat, her mit den selbst bestimmten Lebensformen, nie nie nie „entfremdete Arbeit“, sondern viel Lust und freie Liebe, und lange, lange Haare, auch bei Männern.

Doch langsam verdüsterte sich der Horizont: der deutsche Herbst änderte die Atmosphäre im Land und es wurde richtig ernst. Mit Terror wollte ich nichts zu tun haben, doch wurden von der Obrigkeit alle sozialen Protestbewegungen quasi in Sippenhaft genommen, was vielfach auch zu „stolzer Paranoia“ führte: alle fühlten sich überwacht, abgehört, bespitzelt… und all die gutwilligen und kulturrevolutionären Bewegungen bekamen selber eine repressive Seite: Frauenbewegte Frauen wurden zu Bewegungslesben, Alternative schotteten sich ab und es wurde richtig anstrengend, in Worten und Taten wie gewohnt immer bei den Guten zu sein.

NDW, Punk und Endzeitstimmung

Kein Wunder, dass eine zweite Welle, getragen von Jüngeren Anfang der 80ger gegen all das verbissen Politische rebellierte: Gib Gas, ich will Spass war ein Schlag ins Gesicht miesepetriger Birkenstock-tragender Ökos, die einem alles verbieten wollten. Ina Deters „Neue Männer braucht das Land“ richtete sich weniger gegen „alte“ Männer, sondern vornehmlich gegen das lilalatzhosige, allzu verbissen männerfeindliche Emanzentum, für das schon die männlichen Babys der wenigen, die damals noch Kinder bekamen, ein Problem waren.

Ich war jetzt 26, verließ das langweilige Wiesbaden und stürzte mich ins wilde Berlin, wo ich mich zum ersten Mal selber aktiv an einer „Bewegung“ beteiligte. In besetzten Häusern probten wir das andere Leben, begleitet vom witzigen Sound der Neuen Deutschen Welle und fetzigen Politsongs, die keine alternativen Träume mehr besangen, sondern die Welt schwarz in schwarz malten: Geschichten aus dem täglichen Sterben, es geht voran!

Wir glaubten ja wirklich, es käme jetzt – ganz in echt! – bald der große Knall, ein Lebensgefühl, das sich wohl heute kaum mehr einer vorstellen kann.

All diese Songs berührten mich gestern abend auf vielfältige Weise, doch bei einem Text kamen wir die sprichwörtlichen Tränen der Rührung: der getragene, vor Wertungen nur so strotzende Song der Bots „Aufstehn“ enthält Sätze, die nicht in Vergessenheit geraten sollen, weshalb ich sie hier zum Schluss meiner Erinnerungs-Session mal in Auszügen zitiere:

Alle die noch wissen was Liebe ist,
alle die noch wissen was Hass ist
und was wir kriegen sollen
nicht das ist, was wir wollen
sollen aufstehn!

Alle die nicht schweigen,
auch nicht wenn sich Knüppel zeigen, sollen aufstehn!
Die zu ihrer Freiheit auch die Freiheit ihres Nachbarn brauchen sollen aufstehn!
Alle, für die Nehmen schön wie Geben ist
und Geldverdienen nicht das ganze Leben ist,
die von ihrer Schwäche sprechen
und sich kein`n dabei abbrechen
sollen aufstehn!

Alle Malermeister die die BILD nur nehm`n für`n Kleister sollen aufstehn,
die den Banken nix verdanken ausser Raffgier ohne Schranken sollen aufstehn!
Alle Alten die stolz sind auf ihre Falten sollen aufstehn!
Alle Menschen, die ein bessres Leben wünschen
sollen aufstehn!

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Diskussion

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8 Kommentare zu „Doch mal erinnern? Die wilden 70ger und 80ger“.

  1. Es heißt, dass Hannes Wader „Cocain“ bei seinen Auftritten nicht mehr singt. Aber ich kann mich erinnern, dass es immer der große Auftritt meiner Gitarre spielenden Freundin war, wenn sie bei Cocain angelangt.

    Stimmt die Bots. An die habe ich schon so lange nicht mehr gedacht.

  2. Liebe Claudia,
    in letzter Zeit interessiert mich vieles an den Themen, die Du anreisst. „A worth read“ sagt der Engländer wohl dazu.

    Ich habe mich angesichts der letzten 40 Jahre, die ich zwar wohl nicht so dicht wie Du, aber doch zumindest als Beobachter mitbekam, gefragt, wohin der Zug wohl als nächstes gehen wird? Welche Sichtweisen wird die nächste Generation haben? Kann man sie dann überhaupt über einen Kamm scheren, wenn doch schon jetzt eine Vielfalt an Ausrichtungen vorzuherrschen scheinen? Welche Einflüsse, so man sie überhaupt dingfest machen kann, werden zu Verschiebungen führen?

    Zurück zum Beobachteten:
    Was Du da über die alten Männer im Büro schriebst, das sind doch im Grunde auch unsere jetzigen Verhaltensweisen. Nach einigen Jahrzehnten Leben tritt eine gewisse Ernüchterung zutage – was hatte man sich denn so alles vom Leben erwartet?
    Da bleibt man eben in Betrachtung der eigenen Gesundheit stecken, anderes weiß man nicht. Ich schau da nicht amüsiert oder böse auf die Leute.
    Und der Satz „Ich schwor mir, niemals so zu werden wie sie“ ist nun geradezu witzig in meinen Augen.
    Den Satz werden unsere Kinder auch sagen und dennoch werden auch sie im Hafen des Gewöhnlichen landen.

    Gruß
    Gerhard

  3. Hi Claudia,

    is ja irre. Eben habe ich in einem Buch von Marianne Faithful „Memories“ gelesen. Sie berichtet dort sehr kurzweilig über ihr Leben ab den 60-ern mit all den Größen der damaligen Musik-Szene. Folgender link serviert eine Leseprobe. Macht Spaß!

    http://www.randomhouse.de/book/edition.jsp?edi=266026&pub=1000

    Besten Dank auch für Deine zwei Playlisten Bewegte 70ger und wilde 80ger/NDW.

    Hab’s mir grad mal angeschaut und paa Titel abgehört. Dank viel, sehr schön, bin hin und weg und muß eine alte Textzeile von Heinz-Rudolf Kunze bemühen.

    „Ich möchte NICHT jünger sein, als ich bin! Wäre ich jünger, würde ich wahrscheinlich alles wieder genauso machen“ – Und ja, die heutigen Kids bis hin zu den 30-ern und selbst den 40-ern tun mir irgendwie leid, selbst wenn ich überhaupt nicht in der Lage bin ihr Lebensgefühl nachzuempfinden. Aber sie haben es mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit viel, viel schwerer als ich damals.

    Was mich nur bis zum heutigen Tag mitunter immer noch fassungslos macht ist die Tatsache, dass ich die 70-er überlebt habe. Spätestens die 80-er hätten noch ein akzeptables Zeitfenster für einen coolen Abgang geboten – Aber hey … Wir haben jetzt 2009 … Wo soll das noch hinführen? – Okay, Schwamm drüber, hat sich erledigt. Wird nämlich immer spannender der Trip hier, ehrlich. Immer horsche, immer gucke. Manchmal bissi machen. Schon ein irrer Trip hier.

    > Ich schwor mir, niemals so zu werden wie sie.

    Auch so ein Klassiker dieser Ausspruch von Dir. Mir ging es etwa in den 90-ern auf, dass ich zum Beispiel meine Eltern bin, obwohl ich das ums Verrecken vermeiden wollte. Heute weiß ich zumindest, warum das so ist und das es absolut in Ordnung ist.

    So, genug geschwelgt für heute,

    herzlich grüß nach Berliner Rudolfstraß

    yours, h

  4. Das freut mich ja sehr, dass es Menschen gibt, die so einen „Erinnerungs-Artikel“ gerne lesen! Ich bin mir oft unsicher, wieviel persönlichen Kram von „früher“ ich hier überhaupt einbringen will, denn erstens ist das alles lange her und zweitens langweilen solche Themen natürlich alle, die nicht irgendwie „dabei“ waren – und manchmal auch die, denn jeder hat ja doch irgendwie abgeschlossen mit dem „damals…“.

    @Hermann: Marianne Faithfuls „Memorys“ sind ein gutes Beispiel für diese Langeweile. Mich spricht das nicht an, einfach weil ich in dieser Rockstar-Szene nicht lebte und es ziemlich uninteressant finde, welche Drogen sie nahmen und wie sie ihre Nachmittage und Nächte verbrachten. Das Ganze lebt vom Name-Dropping: was bliebe übrig, wenn es nicht um berühmte Leute ginge?

    @Gerhard: Wohin der Zug als nächstes geht, können wir nicht wissen. Mich freut, dass es unter den Jungen fröhliche Ökos gibt, die richtig ernst machen mit dem „Frieden mit der Natur“, die bewusst einkaufen, die „Fleischfabriken“ anprangern und fairen Handel unterstützen.
    Dass man im zunehmenden Alter nicht mehr die Radikalität und den Idealismus der Jugend weiter lebt, ist völlig normal, ja. Und doch kann ich bis zum heutigen Tag ohne rot zu werden sagen: SO wie „die alten Männer im Büro“ bin ich tatsächlich nicht geworden. Die Welt hat sich verändert, auch durch uns – und heute sind vielfältigere Lebensstile mit deutlich höheren Freiheitsgraden möglich! Die geistigen Einflüsse seit 1968 sind andere als die der Aufbaugeneration: ich mache ihnen keine Vorwürfe über ihr Leben und belächle sie nicht, auch sie taten ihr jeweils Bestes. Und bin doch verdammt froh, SPÄTER geboren zu sein!

    @Claudia/Sammelmappe: Kann Vader gut verstehen. Erstens war Kokain damals allenfalls die Droge der Pop- und Mode-Stars – eine wie immer geartete „positive Bedeutung“ wie um LSD und Marihuana war rund um Kokain nie angesiedelt. Zweites kann man es später als Droge des neoliberalen Rattenrennens erkennen: Speed, um besser mithalten zu können und (vermeintlich..) immer fit, gut drauf und aktionsfähig zu sein: bis zum Zusammenbruch.

  5. Da bin ich etwas anders gestrickt, ich schaue gerne zurück. Allerdings lebe ich „auch“ heute im stetigen Gefühl, gerade genau exakt heute da zu sein, wo ich gerade genau exakt heute sein will. Und das schon seit Jahren Tag für Tag. So laufe ich zumindest nicht Gefahr in die „früher war alles besser“-Falle zu laufen.

    Naja, fast. Früher war meine Alkoholverträglichkeit deutlich deutlich besser. Aber je nun.

    Aber ich sammel die Erinnerungen, auch in Gegenständen. Schubladendinge.de ist ja auch so und deswegen entstanden. Weil ich Dinge liebe, die sich erst durch ihre Geschichte mit Erinnerungen und Wert aufgeladen haben. Hüsch sagte mal: „wenn man sich nicht tagtäglich Erinnerungen schafft – ja, dann kann man sich ja auch nicht erinnern.“ beides sollte für mein Leben sein: jeden Tag als erinnerungswert erleben können und das dann auch ruhig tun.

  6. @Craecker: wie zurückhaltend du immer mit deinen Werken bist!!! Neulich (ja, sogar im direkten Vorfeld dieses Erinnerungsartikels) hab‘ ich mir deine URL aus der E-Mail gezogen und ein wenig gestöbert, dabei die Schubladendinge.de entdeckt und bewundert!! Wirklich schön gemacht – und so „entschleunigt“ in der Art der Kommunikation.

    Für mich ist das mit den „aufgeladenen“ Gegenständen klassische Magie: Man bindet den Geist an ein materielles Objekt, das daraufhin eine ganz bestimmte Konzentration ermöglicht und ein Set an Inhalten/Gefühlen/Gedanken repräsentiert, die wiederum Rückwirkung haben, wenn man das Ding anschaut oder anfasst.

    Magie wurde in alten Zeiten als die Kunst, „zu binden und zu lösen“ beschrieben. Talismane, Glücksbringer und auch weniger materielle Dinge wie Flüche, Beschwörungen und Gebete funktionieren so – und wenn in Therapien und Psychoworkshops abzulegende Glaubenssätze oder gut überdachte Wünsche auf Zettelchen geschrieben und rituell verbrannt werden, ist das ebenfalls diese Art Magie.

    Ich persönlich war da immer skeptisch, bzw. verweigerte mich dem, da ich mich eben NICHT in dieser Art binden wollte. Mein Gott wie furchtbar, wenn so ein bedeutungsvoller Gegenstand verloren geht! Da zeigt sich dann die Rückseite der Bindung: man verfällt leicht dem Be-Deutungswahn und sieht das als „böses Omen“.. och ne!

    Vielleicht bin ich aber auch einfach nur bindungsunfähig! :-)

  7. Liebe Claudia,
    möchte nochmal dazu schreiben.

    Zum Thema „alte Männer im Büro“. Wieso ich so schrieb, war vielleicht geschuldet, daß die Phantasie, die Unternehmungslust nicht mehr so spriest wie in jungen Jahren.
    Und dann rechnet man sich wohl zu Unrecht den alten Männern zu.
    Und dann: Die zunehmende Freiheit der Spätgeborenen – ist sie wirklich ein Gewinn? Wie empfinden das die Kids heutzutage, die schon erheblich weit weg von der Nachkriegszeit sind?

    Zum Namedropping in besagter Biographie – das empfand ich genauso. Keine Zeile ohne zumindest 2 Namen. Es schwirrt nur so davon.

    Gruß
    Gerhard

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