Angesichts des Artikels „Wir wählen uns alle nur selbst“ des Schriftstellers und Philosophen Richard David Precht („Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?) erstarre ich vor Bewunderung über die schmissige Schreibe und die Dichte der Gedanken – auch wenn ich nicht mit allem einverstanden bin, was er sagt. Mein alter Freund M. hat ihn mir gestern als Teil des guten alten Holz-Mediums DIE ZEIT ganz leibhaftig in die Hand gedrückt, und während er dann kochte, hab‘ ich ihn geradezu verschlungen.
„Warum wir den Wahlkampf und die Parteien haben, die wir verdienen“ ist der Text untertitelt, der einen großen Bogen schlägt von einer idyllischen Szene vor dem Berliner Reichstag, über die Plakate ohne Inhalt, die einem „Land ohne Eigenschaften“ entsprechen, hin zum „maulenden Wähler“, der sowieso nichts mehr glaubt: weder an den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft bei den GRÜNEN, noch an die große Steuersenkung bei der FDP, die vier Millionen neuen Arbeitsplätze der SPD und schon gar nicht an die grundlegende Umverteilung bei der LINKEN. „Kein Ort nirgends für eine parteipolitisch gebundene Weltanschauung“, findet Precht – und dass der Wähler ja auch gar keine politische Linie wolle, sondern nur nach einer „verlässlichen Rating-Agentur für die Sicherheit von Lebensrisiken“ Ausschau halte. In meinen Worten: man will, dass alles so bleibt wie es ist (vor allem nicht drastisch schlechter wird!) – wozu also Visionen und „Linie“?
Kein WIR nirgends – negative Identität
„Wenn jeder anders als die anderen sein will, gibt es kein Wir mehr.“ Der Satz trifft ins Schwarze, denn ist es nicht tatsächlich so, dass IMMER und ÜBERALL gleich Widerspruch kommt, wenn man in irgend einem Kontext vom „wir“ spricht? Wir Gartenfreunde, wir Berliner, wir WordPress-User, wir Älteren – immer sagt gleich jemand, warum er diesem WIR nicht angehört, sondern ANDERS ist. Genau deshalb trauen sich Politiker auch nicht mehr, die Bürger dieses Landes irgendwie zu benennen, nicht mal „Bürger“ heißen sie, sondern nur noch „die Menschen“. Da kann einfach niemand widerprechen oder sich ausgegrenzt fühlen.
Bei Precht folgt dem verschwundenen WIR eine nicht weniger kantige, schwer verdauliche Erläuterung:
Das Label unserer Zeit ist die negative Identität, die inszenierte Nichtzugehörigkeit als Individualitätsnachweis. Wir sind keine Staatsbürger mehr, sondern Investmentbanker unserer selbst. Wer sich selbst treu sein will, verpflichtet sich lieber zu nichts mehr. Wenn es schiefgeht, zieht er sein Kapital an Aufmerksamkeit, Arbeitskraft und Vertrauen ab. Die paradoxe Gleichung unserer radikalisierten Individualität ist unverkennbar. Wenn Individualität bedeutet, sich selbst treu zu bleiben, und Identität, seinen Werten treu zu bleiben, so gilt: je mehr Individualität, umso weniger Identität.
Ein krasses Statement, das mich zum nachdenken anregt. Stimmt das so? Wer ist wohl in dieser Beschreibung das „selbst“, das SICH treu bleibt?
Was ich angerissen habe, ist lange nicht alles, doch zum Glück hat DIE ZEIT den Artikel online gestellt, so dass ihn wer mag in voller Gänze lesen kann. Auch das Kommentargespräch ist lesenswert!
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3 Kommentare zu „Lese-Tipp: Zeit-Diagnose von Richard David Precht“.