Wenn ich nach den Themen gehe, die per E-Mail-Spam in meine Mailboxen schwappen, so bewegte in diesem Jahr der Wunsch nach „Abnehmen“ und „mehr Stehkraft im Bett“ die Menschen wie nichts anderes. Das war nicht immer so: es gab Jahre der Penisverlängerung und solche der immer billigeren Hypothekenkredite, wobei letztere eine weltweite Wirtschaftskrise auslösten. Hätte man den Spam damals richtig interpretiert, hätte man sie voraus gesehen!
Lacan: „Das Begehren begehrt das Begehren des Anderen“
Was sagt nun dieser massive Wunsch nach einem schlankeren Körper, der zudem sexuell Olympia-fähig sein soll? Mir scheint, es geht um eine weitere Drehung der Spirale in Richtung Privatisierung und Vereinzelung der Individuen: jeder soll gefälligst sein Glück selber schmieden, sich marktförmig (jung, schlank, straff, superpotent) zurichten und so die „Nachfrage“ nach dem Produkt dieser Bemühungen steigern. Begehrt werden wäre dann die Erfüllung – solange man es schafft, die geforderte Fitness und „Beauty“ aufrecht zu erhalten.
Bezeichnend an dieser Art Glücksversprechen ist, dass man es ganz alleine schaffen kann: durch Konsum, Kasteiung und „üben, üben, üben“ soll ein supergesunder Übermensch entstehen, der keine Gemeinschaft mehr benötigt, sondern nur noch Bewunderer. Genießen wird er sein hart erarbeitetes „Glück“ allerdings nicht können: schon bald zeigt sich eine neue Falte im Gesicht, jede kleine Trainingspause lässt die hart erarbeiteten Muskeln erschlaffen. „Fit for fun“ ist eine Lüge, denn für den „Fun“ bleibt keine Zeit, man muss immer weiter „an sich arbeiten“, um nicht raus zu fallen aus dem anstrengenden Spiel.
2009 hab‘ ich drei Kilo zugenommen und eine Kleidergröße zugelegt. Komischerweise fühl ich mich gut, gefalle mir im Spiegel und kann über mangelnde „Nachfrage“ nicht klagen. Glücklich macht mich vor allem gelingender Austausch mit meinen Nächsten und den Ferneren, online und offline. Je mehr ich von mir absehe und mich für Andere und die Welt da draußen interessiere, desto unproblematischer fühlt sich das eigene Leben an. Dafür wird das Mitfühlen intensiver, manchmal auch die Wut und die Traurigkeit über all das, was die Menschheit so treibt, als gehe es darum, den Planeten möglichst schnell in die Tonne zu treten.
Bluuuuumengießen…. !
„Fern in Asien passiert ein Drama, in Velutschistan marschiert ein Heer. Doch ich geh Bluuuuumen gießen, Bluuuuumen gießen, Herz, was willst du noch mehr!“ sang einst Georg Kreisler. Mittlerweile kann ich das gut verstehen, denn nichts wirkt so ausgleichend und harmonisierend wie ein Garten, in dem man sich mit ganz irdischen Dingen beschäftigt. 2009 war mein erstes „ganze Jahr“ im neuen Garten – ich hätte nicht gedacht, dass es sogar in einer „spießigen“ Kleingartenanlage so schön sein kann. Jetzt fehlt mir nur noch das passende Netbook, dann kann ich von da aus auch gleich recherchieren und bloggen! :-)
Und überhaupt: die politische Dimension deprimiert ja nicht nur, sie ist auch sehr spannend! In diesem Jahr hat sich dank „Zensursula“ endlich mal wieder richtig was bewegt. Die dilettantischen Herangehensweisen eher netzferner Politiker haben junge (und auch ein paar ältere) Menschen motiviert, sich nicht mehr alles gefallen zu lassen. Der Auftritt der Piratenpartei auf der politischen Bühne hat weit mehr bewirkt, als die 0,9% Stimmen vermuten lassen. Mittlerweile sind viele Netzthemen auf der Agenda, die alten Mächte, denen ihre traditionellen Geschäftsmodelle wegbröckeln, entfalten ihre Kampfkraft, treffen aber auch auf breiten Widerstand. Überwachung, Datennutzung, Urheberrecht, „Kultur des Kostenlosen“ und vieles mehr werden breit diskutiert – und es ist nicht mehr ganz einfach, so „von oben“ mal eben etwas aufzuzwingen. Ich bin gespannt, wie all diese Themen sich weiter entwickeln werden, wobei ich aufs Schärfste hoffe, dass sich die Unvernunft, die das freie Verlinken und Zitieren mittels eines „Leistungsschutzrechts“ unterbinden will, NICHT durchsetzt.
Die „große Politik“ erscheint im übrigen mehr und mehr als seltsames, den realen Problemen kaum mehr zugewandtes Schauspiel: eine Koalition, deren erstes Gesetz (das mit den Steuersenkungen inmitten katastrophaler Haushaltslage) nur deshalb noch durchgewunken bzw. erkauft werden muss, damit sie nicht „das Gesicht verliert“, macht einen verdammt unfähigen Eindruck! Die von Merkel so oft zitierte „schwäbische Hausfrau“ kann da nur mit dem Kopf schütteln – sofern sie nicht Hotel-Managerin ist und von der neuen Subvention profitiert. Und wenn der Klimagipfel (Floppenhagen) etwas gezeigt hat, dann dass die Regierenden der Welt nicht im Stande sind, über ihren nationalen Horizont hinaus zu schauen -wohl wissend, dass Erde und Himmel, Atmosphäre und Klima keine solchen Grenzen kennen.
Jahr 2 der Finanz- und Wirtschaftkrise
Aber wir haben ja sowieso „Krise“. Als deren Wirkung ist das Wachstum und die gesamte Produktion Ende 2008 mal eben um 20 bis 25 Prozent gekappt worden. Anstatt diesen in vieler Hinsicht positiven „Dämpfer“ aber 2009 zu nachhaltigen Umstrukturierungen zu nutzen (z.B. Abbau von Überkapazitäten, Verteilung der verbliebenen Arbeit, Beschränkung spekulativer Finanzgeschäfte), müht sich unsere Regierung, mittels immer höherer Verschuldung ein „wieder so“ und „weiter so“ zu gewährleisten. Wenn irgend etwas mit Fug und Recht PERVERS genannt werden darf, dann ist es ein solches Vorgehen!
WER ist es aber, der das so will? Schließlich kann man Politikern nicht vorwerfen, zu tun, was das Volk mehrheitlich wünscht. Was aber wird tatsächlich gewünscht? Einerseits demonstrierten viele mit den bedrohten Opel-Arbeitern, andrerseits wurde ein bis dahin unbekannter Minister zu Guttenberg in den politischen Himmel gehoben, weil er dem Unmut über die Stützung eines Mega-Konzerns deutlich Ausdruck verlieh. Je mehr die Wirkungen der Krise am eigenen Leib und Lebensstil spürbar werden, desto mehr Einverständnis gibt es offenbar mit der Verschuldungspolitik.
Vielleicht wäre das anders, zumindest ansatzweise, wenn es eine echte Diskussion über Alternativen gäbe – nicht nur in kleinen Blogger-Gemeinden und sektenartigen Randgrüppchen, sondern getragen von den gewählten Politikern und den Mainstreammedien. Bei den letzteren konnte man ja in der heißen Phase der Krise tatsächlich Artikel lesen, die allen Ernstes die Systemfrage stellten – eine Anwandlung, die allerdings schnell wieder im Business as usual versackte.
2009 war insgesamt ein sehr bewegtes Jahr, das uns in mancher Hinsicht die Grenzen unseres aktuellen Lebensstils aufgezeigt hat. Ob und wie wir den verändern, ob wir das können bzw. überhaupt „wollen können“, wird 2010 zeigen. (Auf „grünen Strom“ bin ich immerhin schon umgestiegen… aber reichen wird das bei weitem nicht!).
Ich wünsche allen einen guten Rutsch!
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11 Kommentare zu „Jahresendbesinnung 2009“.