Man regt sich bei Anderen allermeist genau über die Eigenschaften und Verhaltensweisen so richtig auf, zu denen man selber neigt. Das schicke ich gleich mal voraus, damit nicht der Eindruck entsteht, ich wolle hier ein wenig über Kranke und Verrückte herziehen, während ich mich selbst auf Seiten der Normalität ansiedle.
Normalität? Ein Deutscher geht im Schnitt 18 mal pro Jahr zum Arzt (z.B. auch, weil man bei uns „krank geschrieben“ werden muss). Dem entsprechend hat ein Arzt grade mal acht Minuten Zeit pro Patient, 30% weniger als im europäischen Durchschnitt, womit wir am Ende der Skala liegen. Da bleibt kaum Zeit zum Reden, geschweige denn zum abwägen und diskutieren verschiedener Therapien: es WUNDERT NICHT, dass man auf dieses fabrikartige Durchwinken keine Lust hat.
Zum Beispiel haben sich bei mir im Lauf der letzten 10 Jahre verschiedene, zunehmend behindernde Beschwerden eingestellt (vor allem am Bewegungsapparat wg. zu vielem Sitzen). Jedem dieser „Zipperlein“ – ich verniedliche das gerne – hab‘ ich EINEN Arztbesuch gegönnt, doch hätte ich mir den auch sparen können. Weder interessierten sich die Ärzte dafür, den Dingen auf den Grund zu gehen, noch gab es eine richtige Diagnose, gar eine Behandlungsperspektive. Bei Orthopäden scheint es da allgemein besonders schlimm zuzugehen, wie ich auch aus verschiedenen Arzt-Bewertungsportalen mitbekam. Ich erforsche meine Symtome also im Internet und behandle sie so gut es geht selbst, was bei Beschwerden mit dem Bewegungsapparat ja auch halbwegs gut geht.
Trotzige Verweigerer
Nur ungern denke ich daran, wie das werden wird, wenn ich ernsthafte Krankheiten bekomme. Und im Prinzip verstehe ich diejenigen, die trotzig jeglichen Arztbesuch angesichts des „real existierenden Medizinwesens“ verweigern – einerseits. Andrerseits erlebe ich es als krasse Verrücktheit, wenn mir jemand, dessen Sehkraft sich binnen Tagen so verschlechtert, dass er die Buchstaben auf seinem Monitor fünf Zentimeter groß einstellen muss, erzählt, eine neue Brille wäre nutzlos, da es ja nicht nur das Augenlicht sei, was gerade den Bach runter gehe. Er habe im übrigen alles getan, was er in diesem Leben tun wollte und „wolle nicht behandelt werden“.
Ich glaube davon kein Wort! Der Lebenserhaltungstrieb ist uns allen eigen und lässt sich nicht wegdiskutieren. Niemand tritt einfach so ab, weil er meint, „alles getan“ zu haben. Hinter solchen Sprüchen steht die nackte Angst vor der manifestierten Diagnose, die man zwar schon zu wissen meint, doch lieber „nicht wirklich“ gesagt bekommen will. Denn das „innere Kind“ glaubt unverdrossen an die Möglichkeit, eines Morgens gesund aufzuwachen als wäre nichts geschehen. Hat man erst mal harte Fakten, ist das Übel durch die Messungen und Durchleuchtungen der Apparate-Medizin konkret geworden, sehen die Dinge anders aus. Dann ist man „Patient“ und muss sich fortan mit den Therapien auseinander setzen, soll womöglich ins Krankenhaus, soll Medikamente schlucken, belastende Untersuchungen mitmachen oder Operationen über sich ergehen lassen, die allesamt evtl. (so denkt man zumindest) nicht wirklich helfen, sondern nur das Elend verlängern. Ist es da nicht besser, gleich gar nichts zu tun und einfach abzuwarten?
Nein, ist es nicht! Der irrationale, von den Symtomen und eigenständigen „Forschungen“ geängstigte Geist redet sich selber ein, dass ein Arztbesuch sowieso nichts, bzw. nur Übles bringen würde. Fakt ist aber, dass es heute wirklich jede Menge leichter und schwerer Krankheiten gibt, die tatsächlich behandelbar sind. Ein einfaches Beispiel ist der Blindarmdurchbruch: daran stirbt man schnell, wenn er nicht alsbald operiert wird, geht aber binnen kurzem gesund nach hause, wenn die Standard-Op durchgeführt wird. Als „Arztverweigerer“ würde man mutwillig sein Leben wegwerfen – und das finde ich einfach verrückt, feige und lieblos!
Nun sagt der Artzverweigerer natürlich: „bei mir ist es aber nicht sowas Harmloses wie der Blinddarm…“ – aber woher will er denn wissen, was es genau ist? Wie gesagt gibts eine Menge lebensbedrohlicher Komplikationen, die durchaus therapiefähig sind. Jede Menge Leute waren schon mal auf einer Intensivstation und gehen heute wieder fröhlich ihrer Arbeit nach. Und auch bei unheilbaren Krankheiten machen Behandlungen oft einen großen Unterschied in Sachen Lebensquälität und Dauer der „Restlebenszeit“ – und wo dem nicht so ist, kann man sich ja dann immer noch dagegen entscheiden.
Der Horror der Angehörigen
Arztverweigerer denken oft nicht nur falsch, sondern vor allem total egozentrisch. „Ich habe alles getan und kann abtreten“ mag für einen Einsiedler im fernen Urwald als Aussage hingehen, nicht aber für einen Familienvater, einen Ehemann oder Beziehungspartner, und auch nicht für alle, die noch gute Freude haben, die sich um sie sorgen. Wer da seine Verweigerungshaltung trotz immer schlimmer werdender Symptomatik beibehält, scheisst auf die Gefühle der liebenden Verwandten und Freunde. Diesen Aspekt lässt der Verweigerer gar nicht erst ins Bewusstsein treten, denn für ihn gehts ja schließlich ums eigene Leben, das er aus schierer Angst vor dem, was im Behandlungsfall kommen könnte, innerlich loszulassen versucht. Da bleibt kein Restgefühl für die, die ihm nahe stehen: sie sind es ja, die weiter leben werden, sie haben aus seiner Sicht doch gar kein Problem!
Konsequente Arztverweigerer sind in der Regel Menschen, die sich selber nicht wirklich lieben können. Und weil das so ist, sind sie auch nicht im Stande wahrzunehmen bzw. zu berücksichtigen, was sie ihren Lieben antun. Dem Verweigerer reicht seine (vermeintliche) „innere Gewissheit“ – wogegen die Nahestehenden ja nicht durch direkte Betroffenheit im Geiste vernebelt sind. Sie denken sehr wohl an all die Möglichkeiten, die es geben KÖNNTE, wäre der Betroffene nicht so verstockt und würde verdammt nochmal zumindest „mal nachsehen“ lassen. Mutwillig sein Leben wegwerfen ohne eine gesicherte Diagnose, das sagt den Angehörigen: Eure Gefühle und Unsicherheiten sind mir egal! ICH bin mir sicher und das hat auch euch zu genügen!
Bei alledem vergisst der Verweigerer auch gerne, dass man ja nicht plötzlich tot umfällt. In der Regel geht dem Tod eine längere Zeit zunehmender Hinfälligkeit und Pflegebedürftigkeit voraus. Diese mit einem starrköpfigen Verweigerer zu erleben und zu ertragen, ist dann nochmal eine doppelte Zumutung für die Angehörigen – aber das ficht ihn ja alles nicht an! Über all das will er am liebsten gar nicht nachdenken, sondern pflegt nur seine vermeintlich heroische, in Wahrheit aber bloß feige Entschlossenheit, einfach nichts zu tun, sich der Sache nicht zu stellen.
Und weil er lieber nicht darüber redet, entschwindet im weiteren Verlauf die Authentizität und innere Nähe aus den Beziehungen zu den Angehörigen. Es gibt immer mehr, was nicht erwähnt werden darf, man macht auf Smalltalk, tut, als ob nichts wäre – und ist doch verdammt besorgt, registriert jede Verschlimmerung der Symptomatik, hadert innerlich mit dem verstockten Kranken, reisst sich aber zusammen, frisst die Sorge in sich hinein… nun, ich muss das wohl nicht weiter ausmalen.
In Frieden gehen?
In Frieden diese Welt verlassen kann aus meiner Sicht nur einer, dessen Angehörige und Freunde ihn ebenfalls in Frieden gehen lassen. Und das kann man nicht, wenn es nicht mal eine definitive „finale Diagnose“ gibt, sondern nur die Vermutungen des Betroffenen. Vor dem Abtreten muss Klarheit für alle herrschen – auch bezüglich der Chancen und Risiken der vom Medizinbetrieb angebotenen Behandlungen. Wenn ein lieber Freund sagt: „Ich habe (diagnostizierten!) Krebs im finalen Stadium. Mit noch einer Chemotherapie würde mein Leiden vielleicht drei Monate länger dauern. Darauf möchte ich gerne verzichten“, dann kann ich das als liebende Freundin nachvollziehen und akzeptieren und wäre sogar im Stande, den Wunsch nach einem Freitod zu unterstützen. Nicht aber ein diffuses, trotziges „ich geh nicht zum Arzt und will nicht behandelt werden“, das über meine Gefühle einfach so hinweg trampelt!
So, das wollte ich mir länger schon mal von der Seele schreiben. Und ich bin gespannt, was Ihr zu alledem sagt!
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32 Kommentare zu „Sterben aus Angst vor dem Arzt?“.