„Die Vernunft erscheint im Leben zuletzt; je mehr sie erkennt, je reifer sie wird, umso mehr lassen Gefühl und Einbildungskraft nach, jene beiden Kräfte, denen jede nachhaltige Initiative und jede echte Begeisterung entstammt.“ – Francesco de Sanctis, Über die Wissenschaft und das Leben
„Begeisterung ist eine Jugendkrankheit; heilbar durch Reue in kleinen Dosen, verbunden mit äußerlicher Anwendung von Erfahrung.“ – Ambrose Bierce, The Devil’s Dictionary
Diese Zitate fand ich gestern bei wikiquote.org, als ich mal schauen wollte, was so alles zum Thema „Begeisterung“ gesagt wurde. Natürlich stehen dort auch noch andere Sprüche, die mit mehr Begeisterung von der Begeisterung handeln, doch diese beiden entsprechen ziemlich gut meiner aktuellen Stimmung.
Ist die Sache auswegslos? Ist mangelnde Begeisterung eine Alterserscheinung, der man nicht ausweichen kann? Ist sie etwas, das von äußeren Bedingungen abhängt, etwa dem Wetter, der physischen Verfassung, der Jahreszeit? Und: werden wir passiv von der Begeisterung erfasst oder können wir auch aktiv etwas tun, um uns zu be-geistern?
2006 und 2008 kehrte ich zu dieser Zeit dem deutschen Winter den Rücken und reiste für sechs Wochen nach Kambodscha. Das tropische Klima, eine ganz andere Kultur, bunte Farben, exotische Gerüche, spektakuläre Altertümer – um zu wenig Begeisterung musste ich mich da nicht sorgen. Dieses Jahr aber wird mir die Zeit lang: endloser Winter, dreckige Eis-Dünen auf den Gehwegen, anhaltende Kälte – als es vorgestern nacht auf einmal ganze fünf Grad warm war, fühlte ich einen richtigen Euphorie-Schub: Wow, was für eine Lebendigkeit!
Dass es mir derzeit an Begeisterung mangelt, erlebe ich täglich beim Surfen im Netz. Das allgemeine Streiten, Jammern und Schimpfen langweilt mich wie selten zuvor – ich mag jetzt nicht mal aufzählen, was ich damit alles meine, so öd ist mir zu Mute beim Blick auf die Schlagzeilen. Und obwohl ich kein Apple-Fan bin, stelle ich jetzt fest: Immerhin schafft es diese Firma immer wieder, mit ihren Produkten wahre Begeisterungs-Tsunamis zu erzeugen. Die werden zwar auch schnell wieder durch massenhafte Kritik nivelliert, aber immerhin.
Nun, für neue Geräte kann ich mich lange schon nicht mehr begeistern: allenfalls in der Phase der Auswahl stellt sich kurz ein Gefühl ein, als suche man nach dem heiligen Gral und hätte echte Chancen, ihn zu finden. Ist es dann gekauft, ist es auch nur ein Ding unter vielen, das nun zur Verfügung steht. „Besitz belastet“ ist mir heute als Erkenntnis viel näher als die Freude am Haben. Konsum ist also keine Lösung.
Ein Blick zurück: Was hat mich früher begeistert? Nun, eigentlich alles, was neu war und ein wenig neben dem lag, was ich als „das Normale“ ansah: bewusstseinserweiternde Drogen, alternative Lebensweisen, politische Utopien, erotische Ausschweifungen, spirituelle Systeme und auch mal recht esoterische Lebenskonzepte. Dann immer wieder Aufbrüche zu einer neuen Praxis: die andere Ernährung, das ganz gesunde Leben, die immer neue „Selbstfindung“ in 1000 Gestalten. Und im täglichen Leben natürlich auch der Erfolg: neue Projekte, neue Arbeit – die Freuden des Gelingens und der Bestätigung durch Andere.
Und heute? Gelegentlich ein guter Text, ein paar schöne Stunden mit dem Liebsten – und ab Frühling dann wieder der Garten!
Reicht das nicht? Nein, es reicht nicht, jedenfalls jetzt nicht, am sich hinziehenden Ende des langen Winters. Und anders als es die Eingangs-Zitate nahe legen, meine ich nicht, dass Begeisterung allein Sache des Lebensalters ist. Eher verhält es sich so, dass man in vorgerücktem Alter etwas dafür tun muss und das „Begeisternde“ nicht mehr automatisch in den Schoß fällt. Es braucht Konzentration und Vertiefung, anstatt dieses Surfens auf den Oberflächen der 10.000 Dinge, das im Alltag so leicht fällt.
Draußen schmilzt der Schnee – vielleicht bin ich ja auch gerade dabei, aus dem Winterschlaf zu erwachen.
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15 Kommentare zu „Begeisterung und ihre Verknappung im zunehmenden Alter“.