Stefan Münz schreibt in seinem Forum Webkompetenz über ein extremes Verständnis von Privatheit, das durch Werbung und Medien derzeit noch dominiere:
„Für viele Zeitgenossen definiert sich Privatsphäre mittlerweile dadurch, dass man in einem Haus wohnt, das von außen uneinsehbar ist, dass man direkt aus der Garage durch lauter selbst öffnende Türen bis in die firmenausweisgeschützte Tiefgarage der Firma fahren kann, wo man arbeitet, und dass die Kinder direkt mit dem Auto von der Garage bis vors Schultor gefahren werden, weil im Schulbus viel zu viel passieren kann. Und für alles hat man eine Versicherung. „
Nun, wer findet so ein abgeschottetes Leben schon wirklich gut? Es zeugt von Angst und Abgrenzung gegenüber der „bösen Welt“ und benötigt einen ungeheuren Aufwand, um es auch so durchzuhalten, bzw. dauerhaft finanzieren zu können.
Der Mega-Trend, der dem entgegen wirkt, ist die Vernetzung der Individuen über das Internet: alle Spuren im Web, alle Bilder, Blogbeiträge, Kommentare, Social-Media-Aktivitäten und Spiel-Beteiligungen erzeugen auf Dauer eine potenzielle Transparenz, wie wir sie noch nie zuvor erlebt haben. Immer neue Tools und Dienste entstehen, die diese Daten auf neue Art zusammen fassen und zur Verfügung stellen. Der letzte große Schritt ist die Lokalisierung des Netzes, die derzeit an Fahrt aufnimmt – sowohl im übertragenen Sinne als auch ganz buchstäblich, indem das Google-Streetview-Auto herum fährt und jeden Hauseingang fotografiert.
Stefan findet das gut:
Vernetzung schafft Nähe, Transparenz, Austausch und Einsehbarkeit. Für Privatheits-Profis, deren ganzes Trachten auf das Privatheits-Optimum zielt, muss die zunehmende Vernetzung im Internet wie das Gespenst des Kommunismus im neuen Gewand wirken. Eine Bedrohung jedenfalls. Bislang hat man die noch verdrängen können, weil sie nur am Bildschirm stattfand. Aber die Streetview-Autos mit der Kamera auf dem Dach sind sozusagen das Sinnbild dafür, wie das Internet Straße um Straße erobert, wie eine weltweite Vernetzungsbewegung, ein zweiter Kommunismus mit seinen OpenSource-Gedanken den eigenen, mühsam und geschickt erworbenen Privatbesitz zur Allmende enteignen will. So empfinden viele Streetview-Kritiker — und vielleicht liegen sie damit gar nicht mal so falsch. Ich glaube ebenfalls, dass es da Erosionen im Privatheitsbegriff gibt, ausgelöst durchs Internet. Der Unterschied ist nur, dass ich diese Erosionen tendenziell begrüße :-)
Die Stadt als „Maskenverleihanstalt“ – vorbei?
Dieses Thema ist viel umfassender, als man meint, wenn man mal anfängt, intensiver drüber nachzudenken. Der Medienphilosoph Vilém Flusser beschrieb z.B. die Stadt als „Maskenverleihanstalt“, in der wir wechselnde Masken (=Rollen) an- und ablegen können. Und schon seit dem Aufstieg der Städte im Mittelalter galt die Stadt zunehmend als Ort der Freiheit, weil man da eben NICHT so eingebunden und sozial kontrolliert leben musste. Nicht das Herkommen war mehr entscheidend, sondern das aktuelle Tun und Lassen, soweit man damit an die Öffentlichkeit trat – zumindest in der Tendenz, natürlich unterschiedlich ausgeprägt über die Zeiten.
Noch heute ziehen eine Menge junger Menschen aus der Provinz nach Berlin: die Möglichkeiten, sich hier „neu zu erfinden“ sind deutlich größer als in einer Kleinstadt oder gar in einem Dorf, wo jeder jeden kennt und schon immer gleich sagt: das schafft der nicht, das hat schon sein Vater nicht geschafft und der Bruder ist ja auch im Suff gelandet…
So schön und bequem die neue Transparenz der Netze einerseits ist, so kritisch sehe ich deshalb auch die andere Seite: die Menschen haben sich in 15 Internet-Jahren ja nicht etwa drastisch verändert. „Image“ ist im Gegenteil im Netz wichtiger denn je, was man an den vielen Dienstleistern sieht, die die „On-ID“ pflegen wollen, wenn sie etwas verlottert erscheint. Und grade gestern hörte ich in einer Talkshow, dass in den USA junge Leute bereits ein „zweites Leben“ in Gestalt eines besonders stromlinienförmigen Online-Auftritts (FB etc.) leben, um den Personalchefs das richtige Futter anzubieten, wenn sie nach Mitarbeitern googeln.
Eine Nettikette für den Real-Life-Alltag?
Ein netzöffentliches Leben in allen Details geht noch weit über das hinaus, was man früher im Dorf über den Nachbarn wissen konnte. Und ich bin mir fast sicher, dass alle, die das alles erstmal ganz toll finden (was oft genug auch für mich selber gilt), noch nicht wirklich überlegt haben, ob sie soviel Nähe im Alltag auch wirklich wollen. Wie gut das zu verkraften ist, wird auch darauf ankommen, was für ein sozialer Umgang sich bei einer derart vergrößerten Transparenz entwickelt: werden alle Schranken distanzierter Höflichkeit fallen? Wird man jeden mal eben so auf das ansprechen, was das Netz aktuell über ihn ausspuckt? (Mal Google zu Ende gedacht bis zur allgegenwärtigen Gesichtserkennung). Wird man beim Nachbarn klingeln, wenn der grade sein Beziehungsdrama irgendwo im Netz ausgebreitet hat? Oder seiner Freundin ungefragt gute Ratschläge geben, wenn man sie im Treppenhaus trifft? Oder wird sich „höfliches Schweigen“ zu allem, was man von nun nicht mehr so ganz „Fremden“ weiß, etablieren?
Fragen über Fragen – ich finde es wichtig, sich all das vor Augen zu führen. Mich spricht z.B. immer mal in meinem Kiez ein bestimmter Mann mit vollem Namen an und macht vermeintlich scherzhafte Bemerkungen darüber, was Frau Klinger wohl grade wieder so umtreibt. Es hat mich nicht eben positiv berührt, denn ICH WEISS NICHT, woher er mich zu kennen meint und auf welchen Hintergrund sich seine Scherze beziehen. Und dieses Gefühl ist und bleibt so, obwohl ich immer schon sehr bewusst veröffentliche, also nichts von mir online ist, zu dem ich nicht stehen könnte. Es hat was von Stalking… – dass er „nur“ ein Postbote ist, der wohl mal irgendwann mein Gartenblog entdeckt hat, ändert daran nichts.
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Mehr zum Thema:
Bolz: “Es wird darauf ankommen, auf die Seite der Programmierer zu gelangen.”
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59 Kommentare zu „Privatheit ade: verschwindet die Anonymität des Stadtlebens?“.