Claudia am 09. April 2010 —

Privatheit ade: verschwindet die Anonymität des Stadtlebens?

Stefan Münz schreibt in seinem Forum Webkompetenz über ein extremes Verständnis von Privatheit, das durch Werbung und Medien derzeit noch dominiere:

„Für viele Zeitgenossen definiert sich Privatsphäre mittlerweile dadurch, dass man in einem Haus wohnt, das von außen uneinsehbar ist, dass man direkt aus der Garage durch lauter selbst öffnende Türen bis in die firmenausweisgeschützte Tiefgarage der Firma fahren kann, wo man arbeitet, und dass die Kinder direkt mit dem Auto von der Garage bis vors Schultor gefahren werden, weil im Schulbus viel zu viel passieren kann. Und für alles hat man eine Versicherung. „

Nun, wer findet so ein abgeschottetes Leben schon wirklich gut? Es zeugt von Angst und Abgrenzung gegenüber der „bösen Welt“ und benötigt einen ungeheuren Aufwand, um es auch so durchzuhalten, bzw. dauerhaft finanzieren zu können.

Der Mega-Trend, der dem entgegen wirkt, ist die Vernetzung der Individuen über das Internet: alle Spuren im Web, alle Bilder, Blogbeiträge, Kommentare, Social-Media-Aktivitäten und Spiel-Beteiligungen erzeugen auf Dauer eine potenzielle Transparenz, wie wir sie noch nie zuvor erlebt haben. Immer neue Tools und Dienste entstehen, die diese Daten auf neue Art zusammen fassen und zur Verfügung stellen. Der letzte große Schritt ist die Lokalisierung des Netzes, die derzeit an Fahrt aufnimmt – sowohl im übertragenen Sinne als auch ganz buchstäblich, indem das Google-Streetview-Auto herum fährt und jeden Hauseingang fotografiert.

Stefan findet das gut:

Vernetzung schafft Nähe, Transparenz, Austausch und Einsehbarkeit. Für Privatheits-Profis, deren ganzes Trachten auf das Privatheits-Optimum zielt, muss die zunehmende Vernetzung im Internet wie das Gespenst des Kommunismus im neuen Gewand wirken. Eine Bedrohung jedenfalls. Bislang hat man die noch verdrängen können, weil sie nur am Bildschirm stattfand. Aber die Streetview-Autos mit der Kamera auf dem Dach sind sozusagen das Sinnbild dafür, wie das Internet Straße um Straße erobert, wie eine weltweite Vernetzungsbewegung, ein zweiter Kommunismus mit seinen OpenSource-Gedanken den eigenen, mühsam und geschickt erworbenen Privatbesitz zur Allmende enteignen will. So empfinden viele Streetview-Kritiker — und vielleicht liegen sie damit gar nicht mal so falsch. Ich glaube ebenfalls, dass es da Erosionen im Privatheitsbegriff gibt, ausgelöst durchs Internet. Der Unterschied ist nur, dass ich diese Erosionen tendenziell begrüße :-)

Die Stadt als „Maskenverleihanstalt“ – vorbei?

Dieses Thema ist viel umfassender, als man meint, wenn man mal anfängt, intensiver drüber nachzudenken. Der Medienphilosoph Vilém Flusser beschrieb z.B. die Stadt als „Maskenverleihanstalt“, in der wir wechselnde Masken (=Rollen) an- und ablegen können. Und schon seit dem Aufstieg der Städte im Mittelalter galt die Stadt zunehmend als Ort der Freiheit, weil man da eben NICHT so eingebunden und sozial kontrolliert leben musste. Nicht das Herkommen war mehr entscheidend, sondern das aktuelle Tun und Lassen, soweit man damit an die Öffentlichkeit trat – zumindest in der Tendenz, natürlich unterschiedlich ausgeprägt über die Zeiten.

Noch heute ziehen eine Menge junger Menschen aus der Provinz nach Berlin: die Möglichkeiten, sich hier „neu zu erfinden“ sind deutlich größer als in einer Kleinstadt oder gar in einem Dorf, wo jeder jeden kennt und schon immer gleich sagt: das schafft der nicht, das hat schon sein Vater nicht geschafft und der Bruder ist ja auch im Suff gelandet…

So schön und bequem die neue Transparenz der Netze einerseits ist, so kritisch sehe ich deshalb auch die andere Seite: die Menschen haben sich in 15 Internet-Jahren ja nicht etwa drastisch verändert. „Image“ ist im Gegenteil im Netz wichtiger denn je, was man an den vielen Dienstleistern sieht, die die „On-ID“ pflegen wollen, wenn sie etwas verlottert erscheint. Und grade gestern hörte ich in einer Talkshow, dass in den USA junge Leute bereits ein „zweites Leben“ in Gestalt eines besonders stromlinienförmigen Online-Auftritts (FB etc.) leben, um den Personalchefs das richtige Futter anzubieten, wenn sie nach Mitarbeitern googeln.

Eine Nettikette für den Real-Life-Alltag?

Ein netzöffentliches Leben in allen Details geht noch weit über das hinaus, was man früher im Dorf über den Nachbarn wissen konnte. Und ich bin mir fast sicher, dass alle, die das alles erstmal ganz toll finden (was oft genug auch für mich selber gilt), noch nicht wirklich überlegt haben, ob sie soviel Nähe im Alltag auch wirklich wollen. Wie gut das zu verkraften ist, wird auch darauf ankommen, was für ein sozialer Umgang sich bei einer derart vergrößerten Transparenz entwickelt: werden alle Schranken distanzierter Höflichkeit fallen? Wird man jeden mal eben so auf das ansprechen, was das Netz aktuell über ihn ausspuckt? (Mal Google zu Ende gedacht bis zur allgegenwärtigen Gesichtserkennung). Wird man beim Nachbarn klingeln, wenn der grade sein Beziehungsdrama irgendwo im Netz ausgebreitet hat? Oder seiner Freundin ungefragt gute Ratschläge geben, wenn man sie im Treppenhaus trifft? Oder wird sich „höfliches Schweigen“ zu allem, was man von nun nicht mehr so ganz „Fremden“ weiß, etablieren?

Fragen über Fragen – ich finde es wichtig, sich all das vor Augen zu führen. Mich spricht z.B. immer mal in meinem Kiez ein bestimmter Mann mit vollem Namen an und macht vermeintlich scherzhafte Bemerkungen darüber, was Frau Klinger wohl grade wieder so umtreibt. Es hat mich nicht eben positiv berührt, denn ICH WEISS NICHT, woher er mich zu kennen meint und auf welchen Hintergrund sich seine Scherze beziehen. Und dieses Gefühl ist und bleibt so, obwohl ich immer schon sehr bewusst veröffentliche, also nichts von mir online ist, zu dem ich nicht stehen könnte. Es hat was von Stalking… – dass er „nur“ ein Postbote ist, der wohl mal irgendwann mein Gartenblog entdeckt hat, ändert daran nichts.

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Mehr zum Thema:
Bolz: “Es wird darauf ankommen, auf die Seite der Programmierer zu gelangen.”

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Diskussion

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59 Kommentare zu „Privatheit ade: verschwindet die Anonymität des Stadtlebens?“.

  1. Mein Gartenblog ist das Privateste, was ich im Netz über mein Leben veröffentliche, weil es am nächsten dran ist an meinem Zuhause. Und was es da zu sehen gibt und was ich darin treibe, können auch meine Nachbarn sehen oder fremde Leute, die an unserem Haus vorbei gehen (was übrigens auch desöfteren zu Smalltalks am Gartenzaun führt). Über meine Beziehungen, Familie und meine Lebensumstände veröffentliche ich im Netz (bis auf ein paar Ausflugsberichte ab und an) nichts Wesentliches, denn das geht die Netzöffentlichkeit imo nichts an. Wieso sollte ich meine Privatsphäre mit Leuten teilen, die ich überhaupt nicht kenne? Weder bin ich exhibitionistisch veranlagt, noch habe ich einen ausgeprägten Herdentrieb. Mein Privatleben gehört mir, und ich teile es nur mit Menschen, zu denen ich ein gewisses Vertrauensverhältnis habe. Persönliche Nähe braucht imo Vertrauen.

    Stadtmenschen und ihre (von mir häufig beobachtete) Angewohnheit, durch die Menschen um sich herum hindurchzusehen, sind imo noch mal was anderes. Großstädte machen imo viele (besonders sensible) Menschen auf Dauer neurotisch und/oder paranoid. Dort sind m.E. einfach zu viele Menschen auf zu engem Raum. Und Massenmenschenhaltung ist auch nicht artgerecht ;o).

  2. @Iris: danke dir für deine persönlichen Eindrücke! Ich bin auch ein Stadtmensch und finde es völlig normal, aneinander vorbei zu sehen bzw. durch die Leute durch. Es wäre unmöglich, alle als ganze Menschen zur Kenntnis zu nehmen, denn ich sehe ja auf den Straßen oder in der U-Bahn gleich Hunderte, Tausende…
    Das ist m.E. nicht neurotisch, sondern unvermeidlich! Man hat als Mensch nur ein begrenztes Potenzial an Kontakten, inkl. „erkennender“ Blickkontakte.

    Nun stell ich mir mal vor, ich bin eines nicht so fernen Tages nicht mehr anonym, sondern die Leute checken z.B. während einer längeren U-Bahnfahrt, wer da so rumsitzt. Fragt mich der eine, was ein Blogdesign bei mir kostet und der andere, ob ich ihn im Gartenblog verlinke. Die Dritte will, dass ich ihr Forum bespreche und von schräng gegenüber meint jemand, dass ich neulich echten Stuss geschrieben hätte, weil…

    Das wär nach Stefan Münz die neue Transparenz und Nähe – und ich hab das Gefühl, ich würde es nicht mögen! :-)

  3. Ich selber mag es ja auch „tendenziell“ und (wichtig) selbstbestimmt unprivat. Nur machmal irritieren mich „Netzbewohner“ (damit meine ich weder Stefan noch lesende, aber ich kenn ja auch noch andere), die diese Entprivatisierung im Netz ebenfalls begrüssen, aber keine drei Nachbarn vor Ort kennen.

    Die staunen, wenn ich auf dem Weg zum Bäcker x mal begrüßt werde, y Worte wechsel und dazu z Lebensgeschichten kenne.

    Weil ich auch schon bei n Leuten, mit denen ich sicherlich keine zwei Tage Urlaub verbringen wollte, zu hause war, um mal bei diesem oder jenem Mini-Alltagsproblem zu helfen. Oder einfach sie wegen diesem oder jenem Armbruch bemitleide habe etc.. Mitmenschen sind für mich im „anfassbarem“ Raum eben doch noch ein Tick echter. Mag man mich altmodisch nennen, aber von meinen Facebook-Leuten leiht mir ja auch keiner eine Bohrmaschine und fragt an der Tür, ob er/sie nicht lieber gleich meinen Spiegelschrank an die Badezimmerwand bohren soll.

    Also wenn schon sich gesellschaftlich anfassbar machen will, dann nicht nur groß im Netz, denke ich. Das ist ja was für Weicheier. *zwinkert und duckt sich*

  4. Ich begrüße Erosionen des Privatheitsbegriffes nicht.
    Es löst sogar großes Unbehagen bei mir aus. Warum?
    Was ist mir in diesem Zusammenhang wichtig?
    Die Auflösung des privaten „Seins“ nagt ziemlich heftig an meinem „Selbstbestimmungsrecht“. Wenn Dinge über mich oder mein Umfeld OHNE MEIN ZUTUN öffentlich gemacht werden, bestimme nicht mehr ich meine soziale Interaktion sondern werde von Außen bestimmt. Das ist in meinen Augen eine Art von Entmündigung.
    Also: Dem freien Menschen muß unbedingt überlassen werden, wie er sozial interagieren will, welche Informationen er wem wann und wo zukommen lassen möchte.
    Es ist klar, das es immer Charaktere gibt, die sich öffentlich wie auf dem Jahrmarkt produzieren müssen und jedem ungefragt alles über sich und andere erzählen.
    Dient dem eigenen EGO. Es ist auch klar, das es diejenigen gibt, die am liebsten Allen ins Stubenfenster sehen wollen um Informationen zu bekommen, was der Nachbar so ißt, trinkt, an TV konsumiert usw.
    Dient auch der Neugierbefriedigung.
    Wenn ich nicht möchte, das der derart triebgesteuerte Nachbar mir ins „Fenster“ schaut, ziehe ich die Vorhänge zu. Das ist, denke ich mal, legitim, hat aber rein gar Nichts mit sozialer Abschottung zu tun, sondern mit selbstbestimmter Privatsphäre.
    Im übrigen sind „virtuelle Informationen“ im Netz, meistens als Textbeitrag oder als Bild, nur zum kleinsten Teil geeignet, mir ein „Bild“ von dem dahinterstehenden Menschen zu machen. Also sind vielleicht auch intimere Information relativ wertlos, solange ich nicht mit dem Menschen von Face to Face darüber gesprochen habe.
    Hier besteht die Gefahr, das ich in der großen offenen Informationswelt mir ein Urteil über einen Menschen zimmere, den ich nur aus Informationsschnipseln zu kennen glaube, real ihm aber nie begegnet bin.
    Vernetzung schafft in dem Sinne Nähe, wie früher durchs Briefeschreiben Nähe entstanden ist, nur eben schneller:).
    Zur Zeit ist der Mensch noch so gestrickt, das er Informationen über Dinge und andere Menschen tendenziell dazu benutzt, sich selber einen Vorteil zu verschaffen (der Börsenhändler, der Inormationen eher bekommt als andere, der Einbrecher, der weiß, wann der Hausbewohner abwesend ist, der Arbeitskollege, der Einiges über seine Mitkolllegen weiß…)
    Da dies so ist, würde ich die „Einsehbarkeit in mein Leben“ im Netz nur sehr umsichtig zulassen, aber vor allem eben selbstgesteuert.
    Mit einer „allgegenwärtige Gesichtserkennung“ könnten die Meisten gar nicht verantwortungsvoll umgehen.

    Bedacht werden sollte auch, das die Transparenz des Einzelnen auch von Institutionen gewünscht wird, die ihr ganz eigenes Süppchen damit kochen wollen -denn wie kann ich Menschen besser steuern, wenn ich weiß wie sie ticken-.
    Die Bereitwilligkeit der Internetnutzer Daten von sich preiszugeben, die die Diskussionen um die Volkszählungsdaten in den 80er Jahren absolut lächerlich aussehen lassen, sollte in diesem Zusammenhang auch kritisch gesehen werden.

    Die anderen tollen Möglichkeiten, die das Internet und Netze bieten, wie Foren und Interessenzusammenschlüsse und generell die größte Tageszeitung der Welt usw., gab es früher ja auch, nur eben mühsamer und meist lokal begrenzter. Da ist das Netz ein echter Fortschritt.
    Gruß aus Hamburg

  5. Die freie Selbstbestimmung, die ich auch für sehr wichtig halte, wird aber nur dann, so finde ich, gesichert, wenn man diese anderen vorurteilslos auch zugesteht.

    Wenn also jemand selbstbestimmt sich in bestimmten Bereichen „veröffentlicht“, und das nur als ein Jahrmarkt des Egos skizziert wird, bedarf es meiner Meinung noch etwas mehr Offenheit der Selbstbestimmung anderen gegenüber.

  6. @Claudia:

    Ich bin auch ein Stadtmensch und finde es völlig normal, aneinander vorbei zu sehen bzw. durch die Leute durch.

    Normalität ist relativ. Wenn ich mich eine Weile in der Großstadt aufhielt, fand ich dieses Verhalten regelmäßig unnormal. Mir kamen Großstadtmenschen im öffentlichen Raum oft wie Zombies vor. Ich finde es zwar angesichts der allgegenwärtigen Menschenmassen verständlich, aber nicht normal, Menschen nicht mehr als Personen wahrzunehmen. Doch ich vermute, diese Form der Abstumpfung oder (euphemistischer formuliert) Rückzug in die Innenwelt stellt sich nach einer gewissen Zeit des Lebens in der Großstadt automatisch ein, sonst würde man wahrscheinlich, aufgrund der permanenten Reizüberflutungen, irgendwann völlig durchdrehen.

    Das ist m.E. nicht neurotisch, sondern unvermeidlich!

    Letzteres schließt Ersteres nicht aus (Neurosen als überwiegend umweltbedingte Erkrankungen). Wie bereits in meinem vorherigen Kommentar scherzhaft angedeutet, halte ich persönlich das Großstadtleben auf Dauer nicht für gesund. Es entfremdet Menschen voneinander, von ihrem natürlichen Lebensraum und ihren Mitgeschöpfen. Die Folgen dieser Entfremdungen sind überdurchschnittlich häufig ein gestörtes Sozialverhalten sowie ein mangelhaftes oder sogar gänzlich fehlendes Umweltbewusstsein.

    Nun stell ich mir mal vor, ich bin eines nicht so fernen Tages nicht mehr anonym, sondern die Leute checken z.B. während einer längeren U-Bahnfahrt, wer da so rumsitzt. Fragt mich der eine, was ein Blogdesign bei mir kostet und der andere, ob ich ihn im Gartenblog verlinke. Die Dritte will, dass ich ihr Forum bespreche und von schräng gegenüber meint jemand, dass ich neulich echten Stuss geschrieben hätte, weil…

    Einige Nachbarn und flüchtige Bekannte aus meinem Wohnort lesen auch in meinen Blogs. Dennoch labern sie mich für gewöhnlich nicht einfach so auf der Straße oder im Laden darauf an. Es ist ja nicht so, dass man auf dem Lande immer sofort ein Gespräch (über alles, was man über das jeweilige Gegenüber weiß) mit jedem anfängt, der einem begegnet. In den meisten Fällen grüßt man sich nur knapp und geht seiner Wege. Für diese – ich nenne es mal – höfliche Distanz braucht man nicht unbedingt Anonymität. Das ist hier das normale Sozialverhalten :o).

    Unschwer zu erkennen ist sicherlich, dass ich kein Großstadtfan bin. Nimm’s nicht persönlich, okay?

  7. Es geht auch in einer Großstadt „anders“. Ich habe Jahre in einer solchen gelebt – und möchte auch wieder, sobald „die Kinder aus dem Haus sind“, wieder in die Innenstadt ziehen.

    Leute aus dem Haus kannte ich alle, bei den meisten half ich auch mal mit dem einen oder anderen Nachbarschaftsdienst aus. Aus den Geschäften kannte ich einige der Straßennachbarn. Im Biergarten „um die Ecke“ oder beim Ausstellungsbesuchen, Theaterpausen etc kam man auch smaltalk-mässig ins Gespräch, ohne durch einander durch zu schauen. Alles im selben Rahmen wie hier im Vorort auch.

    Es liegt an einem selber, wie viel man zulässt.

  8. „Vernetzung schafft Nähe, Transparenz, Austausch und Einsehbarkeit.“

    Ja, für den, der dieses möchte, schafft das die Vernetzung echter Menschen, nicht aber die Vernetzung von Internet-Phantomen.

    Einen Menschen mit dem zu verwechseln, was es von ihm oder über ihn an Bildern oder Texten gibt, halte ich für einen grotesken Irrtum und sehe keinen Sinn darin, quasi-soziale Beziehungen zu „dargestellten Persönlichkeiten“ zu unterhalten. Die große Vernetzung zwischen frei erfundenen Persönlichkeitssurrogaten wird ohne mich stattfinden. Nicht, weil ich in einem Haus wohnen will, das von außen uneinsehbar ist oder was sich dieser Vernetzungsliebhaber noch so ausgedacht hat, um andersdenkende blöd aussehen zu lassen, sondern weil es Zeitverschwendung ist, Selbstbefriedigung eines leerlaufenden Geistes, ohne seelischen Nährwert.

  9. Selbstbefriedigung eines leerlaufenden Geistes… so so, da kennst Du aber die Menschen und ihre Innerlichkeiten, die innerhalb des Internetes sich glatt einbilden, soziale Kontakte zu haben, sehr gut. Wobei ich mich frag: woher nur?

  10. @Iris, ja, unschwer zu erkennen, dass du kein Großstadtfan bist :) Aber beide Lebensräume, Stadt oder Dorf, haben ihre spezifischen Schwächen und Stärken, die dem einen liegen, dem anderen nicht und Masken werden in beiden Lebensräumen getragen, im Dorf wie in der Stadt, real wie im Netz.

    Genau so wenig, wie ich jemals alles über einen Menschen zu wissen meine aus den Informationen, die mir das Netz bereit stellt, genau so enttäuscht mich immer wieder das reale Leben. Das ist wahrscheinlich so gewollt, wenn nicht sogar zwingend, denn eine bis ins letzte berechenbare und einschätzbare Person wäre ja dann nur noch knetbare Masse in anderen Händen.

    Somit ist es für mich auch eine Frage der Erwartungshaltung, die bei mir im Netz schon deutlich geringer ist als real, einfach auch, weil viele Informationen fehlen. Aber ich nehm es, so wie es ist, auf einem anderen Level und Überraschungen, für mich positiv oder negativ, sind immer wieder dabei.

    Ich glaube, dass das Netzt nicht Bedürfnisse erst weckt, sondern, dass es eine Möglichkeit ist sie zu befriedigen, für jeden Teilnehmer vielleicht ganz unterschiedlich, vielleicht auch für alle gleich. Im Umgang damit sind wir glaube ich noch im Lernprozess, mit Versuch und Irrtum.

  11. Also wenn mich jetzt Menachem, Cräcker, Iris oder Uwe um Hilfe bei einem Problem im Rahmen meiner Kompetenzen bitten würden, wäre ich durchaus bereit, mal hinzuschauen, zu analysieren, Tipps zu geben etc. Anders als bei Achim, der mir hier (noch!) zu „neu“ ist und den ich als Person noch kaum wahrnehme – verglichen mit denjenigen, die schon öfter hier (oder anderswo) mit mir in „virtuellem Kontakt“ standen.

    Auch bin ich gegenüber Netzbekannten bereit, sie mal zu treffen, wenn sie in die Hauptstadt kommen.

    Es ist also nicht so, dass Netzkontakte grundsätzlich leer, unpersönlich, sozial unverantwortlich usw. sind – nur ist es halt nicht der Spiegelschrank, der an die Wand gehangen werden muss, sondern das muckende Blog, das zum Laufen gebracht werden soll… oder ähnliche IT-Probleme.

    @Iris: nein, keine Sorge, ich nehm das nicht persönlich! Und der Vergleich mit Zombies ist mir auch schon gekommen. :-) Es ist aber halt ein zwingendes Zombie-Tum, da man seine endliche Psyche vor ZUVIEL von allem schützen muss. Landbewohnern fällt das schwerer als solchen wie mir, die in der Stadt AUFGEWACHSEN sind.

    Dieses Blog hieß zu Anfang mal „Vom Leben auf dem Land und in den Netzen“. Bin nämlich 1999 von Berlin nach Mecklenburg in ein 500-Seelendorf (Gottesgabe) gezogen, weil ich von der Stadt die Nase gestrichen voll hatte und endlich meinen Traum vom Leben auf dem Land verwirklichen wollte. Wer mal hier ins Gesamtinhaltsverzeichnis schaut, kann leicht die Einträge aus der Land-Zeit, vom Umzug, von der Begeisterung und ihrem Nachlassen finden. Nach zwei Jahren „weite Horizonte“ bin ich aus schierer Reizarmut wieder zurück in die Stadt – und nie mehr ging sie mir seither auf die
    Nerven! :-)

    @Cräcker: dieses „Dorfleben“ hatte ich genauso in einem „Kiez“ in Berlin: ich konnte keinen Gang zur Markthalle mehr machen, ohne mindestens 10 Bekannte zu treffen, wobei ich mit dreien ein wenig plaudern musste – das war mir dann auch mal zuviel. Durch meine 12-Jährige Stadtteilarbeit mit vielerlei Engagement war ich bekannt wie ein bunter Hund… War das schön, in die Einöde von Mecklenburg zu kommen!

  12. Ich glaube es ja eh nicht, Claudia, aber dennoch: nur damit kein Missverständnis aufkommt: ich denke auch, das Netzkontakte die selben Wege gehen können, wie Realkontakte (inklusive Ortsspezifische Hilfen, wobei ich persönlich sogar soweit gehen würde, daß wenn „eine Claudia“ oder ein „Münz“ eines Tages hier an der Tür klingeln würde, ich jederzeit ein Lager vorbereiten würde.)

    Manche Leute „kenne“ ich etwas(!) näher, wie eben auch Dich, manche gar nicht. Das „näher“ ist sicher ganz anders als im realem Raum es wäre, aber es langt für eine bestimmte Art von Vertrauensbasis. Es ist eine Art Respekt Ebene durch das lange zulesen und zuschreiben in diesem Netzwerk.

    Und Menachem? Finde ich auch. *zwinkert* – nein, ehrlich, sehr treffend geschrieben!

  13. @Chräcker
    Sicherlich gelingt es mir ebensowenig wie jedem anderen, den Blick aus meiner subjektiven Höhle, hinaus ins Internet, zu verobjektivieren. ;)

    Der Ansatz, entweder uferlose Vernetzung oder krankhafte Isolation und Abschottung, (siehe Zitat Münz) hat mich verärgert und diese Verärgerung hat wohl meine Wortwahl beeinflußt.

    Ja, ich denke wirklich, das rein internetmäßige Kontakte auf weit mehr Einbildung basieren, als Auge-in-Auge-Kontakte. Es entfallen ja etliche Wahrnehmungsmöglichkeiten, das Hören, das Sehen und das Riechen betreffend. Für mich persönlich ist soviel Einbildung und Projektion im Spiel, daß ich darauf verzichte, mir „soziale Kontakte“ vorzustellen.

    Ein gutes Gespräch ist natürlich jederzeit möglich. :)

  14. @Claudia:

    Nach zwei Jahren “weite Horizonte” bin ich aus schierer Reizarmut wieder zurück in die Stadt – und nie mehr ging sie mir seither auf die
    Nerven! :-)

    Oh, ich empfinde die ländliche Umgebung ganz und gar nicht als reizarm – erst recht nicht im Vergleich zur Großstadt. Das kommt wahrscheinlich nur Menschen so vor, deren Sinne abgestumpft sind gegen die Stressoren der Großstadt. Da Du damit aufgewachsen bist, hätten Deine Sinne vielleicht mehr als zwei Jahre Training gebraucht, um eine einigermaßen ’normale‘ Reizwahrnehmung zu entwickeln (btw von Berlin in ein 500-Seelen-Dorf ist ein echt krasser Wechsel). Aber etwas davon holst Du ja jetzt in Eurem wilden Garten nach ;o).

    Nebenbei: Die weltweit fortschreitende Urbanisierung geht vielerorts einher mit einer grassierenden Desertifikation ländlicher Lebensräume. Daher betrachte ich das Großstadtleben nicht nur als nicht erstrebenswert für mich persönlich, sondern langfristig auch als Bedrohung für unsere natürlichen Lebensräume und -ressouren. Dazu kommt, dass diese Bedrohung von immer mehr Stadtmenschen gar nicht mehr wahrgenommen wird, weil sie – wie bereits weiter oben erwähnt – gar keine Beziehung mehr zu ihrer natürlichen Umwelt haben. Infolgedessen realisieren sie nicht, dass wir (und unsere Nachkommen) von ihr abhängig sind – egal, ob uns das nun gefällt oder nicht. Und mal ehrlich: Wer von Euch will Kinder in solchen Umgebungen aufwachsen sehen? Und wer glaubt wirklich, dass sie dort ein ’normales‘ Umweltbewusstsein entwickeln? Wie viele werden noch eine natürliche Abscheu gegen Legebatterien empfinden, wenn sie selbst aus einer stammen?

  15. Hehe, Uwe, verstanden. Ich kenne ja Stefan schon eine Weile (jaja, übers Netz, übers Netz) und er hat auch schon einige Polarisationsschelten von mir tapfer ertragen.

    Es gibt auch und gerade in den Medien wie im Netz sehr viele, die bei bestimmten Reizthemen nur schwarz oder weiß sehen mögen. Ähem, so wie meine diesbezügliche Aussage ja jetzt auch eine solche (hier schwarz) ist, jaja.

    Ich zucke da (sicherlich genauso pawlisch) immer. Denn es gibt doch noch mehr Lebenswahrheiten wie sich der Netzbürger oder der Internetfernere oder der kleine Chräcker so denken.

    Besonders zucke ich dann immer, wenn ein verbal verallgemeinernde Abwatschvokabular eingeführt wird. Hier haben sich Teile der Netzgemeinde in den letzten Jahren nicht wirklich mit Ruhm bekleckert, finde ich.

  16. @Iris: ich mag die Mecklenburger Landschaft, allerdings waren in unserer Gegend fast nur Mega-Felder ringsum: sehr sehr eintönig. Dazu ein „Schlosspark“ hinter dem ehemaligen Herrenhaus, das zu Mietwohnungen umgewandelt worden war. Der war abwechslungsreich und schön, aber bald kennt man jeden Halm und gärtnern war nicht wirklich möglich.
    Ich dachte, da bleibe ich – aber als ich nach 1,5 Jahren Berlin besuchte und nur einfach mal eine belebte Kiezstaße mit den vielen kleinen Geschäften, den schönen Altbaufassaden, den so unterschiedlichen Menschen sah, war ich völlig perplex, was für einen „aktivierenden“ und inspirierenden Schub mir das gab. Dein verlinktes „Stadtbild“ ist nicht typisch, sondern ein Extrem, das auch schon wieder überwunden ist, wenn man heutige Neubauten betrachtet.
    Was die Bedrohung der Natur angeht, gilt unter hiesigen Umweltschützern die „Zersiedelung der Landschaft“ und das damit verbundene Pendeln auch als sehr zerstörerisch. Also wie mans macht, ists falsch…

    @Uwe: ok, bist also nicht „sozialer Kontakt“, sondern „frei erfundenes Persönlichkeitssurrogat“. Macht nix, im Netz darf ja jeder wählen, was er sein mag :-) – und solange es nur um gute Gespräche geht, ist das ja auch kein Problem!

    Jetzt geh ich auf den Berliner Staudenmarkt – es ist verdammt mieses Wetter und sehr früh, aber es heißt ja „nur die Harten kommen in den Garten“… :-)

  17. @Claudia
    Ja, jeder wählt, was er sein mag und was die anderen für ihn sein sollen (… und muss dann mit den Folgen seiner Wahl klarkommen). :)

    Der Unterschied zwischen Stadt- und Landleben besteht für mich vor allem darin, daß ich auf dem Land nicht in Warteschlangen anzustehen brauche und viel mehr Luft, Stille und Raum um mich habe. Angenehm finde ich, daß mich fast jeder, dem ich hier so begegne, mit Namen begrüßt und bereit ist, mit mir zu freundschaftlich zu plaudern, falls mir danach ist. Meine Privatsphäre empfinde ich dabei als absolut gewahrt und als selbst bestimmbar. Manchmal ist mir danach, tagelang keinen Menschen zu sehen und das klappt prima.

  18. @Claudia:

    Dein verlinktes “Stadtbild” ist nicht typisch, sondern ein Extrem, das auch schon wieder überwunden ist, wenn man heutige Neubauten betrachtet.

    Doch, dieser Anblick ist ein typisches Stadtbild, was ich so bisher in jeder Großstadt gesehen habe, in der ich Gast war. Viele tausend Kinder wachsen auch bei uns in Deutschland nach wie vor in solchen tristen Betonwüsten auf. Diese Stadviertel werden nämlich überwiegend von kinderreichen Familien bewohnt, da diese sich vielfach die Mieten in den schöneren Stadtvierteln nicht leisten können. Zynischerweise nannten es die Errichter und Bewirtschafter dieser Anlagen ’sozialen Wohnungsbau‘. Und die leeren Kassen vieler Städte werden imo noch lange dafür sorgen, dass sich diese m.E. menschenunwürdigen Wohnsituationen für kinderreiche Familien nicht ändern.

    Was die Bedrohung der Natur angeht, gilt unter hiesigen Umweltschützern die “Zersiedelung der Landschaft” und das damit verbundene Pendeln auch als sehr zerstörerisch.

    Nun, zunächst sprach ich nicht von Natur (im Sinne von unberührter Wildnis), sondern von unserem natürlichen Lebensraum. Und der besteht aus z.T. jahrtausendealten Kulturlandschaften (in denen aber eben außer uns noch eine große Vielfalt anderer Arten ihren Lebensraum findet). Was das Pendeln betrifft: Das ist ja ursächlich durch eine immer stärkere Konzentration von Produktions- und Arbeitsstätten bedingt, die auch eine Begleiterscheinung der Urbanisierung ist. Noch vor zwei Generationen haben Menschen auf dem Lande mehrheitlich in unmittelbarer Nähe ihrer Wohnorte gearbeitet. Doch städtische Großkonzerne haben zwischenzeitlich ihre ortsnahen klein- und mittelständischen Unternehmen größtenteils vernichtet, weil sie gegen deren Massenproduktionen nicht konkurrieren konnten. Und diese Produktionsgiganten bieten mittlerweile nicht mal mehr genügend Menschen Arbeit und/oder Löhne, von denen sie sich und ihre Familien unterhalten können.

    Also wie mans macht, ists falsch…

    Das sehe ich nicht so. Ich denke eher, alles hängt mit allem zusammen. Und weil ich es so sehe, halte ich die weltweit fortschreitende Urbanisierung für lebensfeindlich – der Natur, unseren Mitgeschöpfen und uns gegenüber. Das bedeutet zwar nicht, dass ich das Leben auf dem Land für perfekt halte, doch es ist in meinen Augen auf jeden Fall die lebensfreundlichere (und für mich persönlich auch lebenswertere) Alternative.

  19. @Iris: dem Thema sollte ich mal einen eigene Raum gönnen! Dazu hab ich nämlich schon sehr viel erlebt, ausprobiert und drüber nachgedacht.

    Was die Umwelt angeht, lebe ICH jetzt jedenfalls nachhaltiger als damals in Mecklenburg: das Auto, das ich auf dem Land unverzichtbar brauchte, konnte ich in Berlin wieder abschaffen, genau wie mein damaliger Lebensgefährte seines. Und ich fahre insgesamt sehr viel weniger herum, weil ja alles Erdenkliche recht nah ist und mit Bus/UBahn/SBahn erreichbar. Damit ist mein Ökologischer Fußabdruck definitiv kleiner geworden.
    Unsere Nachbarn in Mecklenburg hatten 3 Kinder: was es allein für eine Action war, die dauernd überall hin zu kutschieren, wohin sie neben der Schule noch so hin sollten! Und sag jetzt nicht, heutige Kinder könnten sich damit begnügen, im Wald zu spielen – es gab dort keinen erwähnenswerten Wald und der ersetzt nun mal keine Theater-AG und keinen Musik-Unterricht.

    Hach ja, das Thema hat viele Seiten… ich lass es aber mal dabei.

  20. @Claudia:

    Wie gesagt, für mich hängt alles mit allem zusammen. Darum komm ich auch in Diskussionen häufig von Höckschen auf Stöckschen. Sorry, falls ich Dich damit genervt habe.

    Abschließend:
    Du hast Dir Dein ökologisches Bewusstsein offenbar hart erarbeitet. Vielfach wird eine derart intensive Auseinandersetzung mit unserer natürlichen Umwelt aber m.E. durch die typisch menschliche Trägheit verhindert – insbesondere wenn sie nicht von Kindesbeinen an gegenwärtig ist. Davon abgesehen halte ich es einfach intuitiv für falsch, sich räumlich und damit m.E. unweigerlich auch emotional zu weit von unserem natürlichen Lebensraum zu entfernen. Man kann nur eine wirkliche Bindung zu etwas aufbauen, was man kennen und schätzen gelernt hat. Oder anders formuliert: Mensch schützt nur, was er liebt. Und das gibt er auch an seine Nachkommen weiter (womit ich allerdings keineswegs sagen will, dass wir Landeier alle ökologisch unbedenklich leben ;o).

  21. Na, im Grunde ist der Platz hier ja nicht beschränkt… :-)

    Deine Bemerkungen provozieren halt meinen Widerspruch (bitte nicht persönlich nehmen!), denn ich empfinde die Stadt durchaus als meinen natürlichen Lebensraum. Du sagst ja selbst weiter oben, das auch das Land hierzulande nicht etwa Wildnis ist, sondern uralte Kulturlandschaft. Ebenso sind Städte uralte Kulturlandschaften, denn Städte gibts sein einigen tausend Jahren. Hierzulande hatten sie im Mittelalter ihren großen Aufstieg.

    Und was die Liebe angeht: ich war ca. 15 Jahre in einem sehr bunten Berliner Kiez auf allen Ebenen aktiv – vom Häuser besetzen über Mieter vertreten hin zu Verkehr beruhigen und Plätze beplanen, Kultur für Erwachsene und Jugendliche veranstalten, Kiez-Zeitungen heraus geben und Kneipen gestalten. „Dorfleben“, in dem jeder jeden kennt, hab ich DA kennen gelernt. Und wenn ich durch eine Straße ging, erzählte mir jedes Haus und jede Straßenecke, jeder „Poller“ und jeder in große Kübel gesetzte zusätzliche Baum seine Geschichte – ich war ja überall dabei und kannte in fast jedem Haus die Sanierungsgeschichte, die Grundrisse und ein paar Bewohner….
    Es ist heute eines der beliebtesten Kieze in Berlin – so richtig schön!

    Was nun den Vergleich Stadt/Land aus Umweltgesichtspunkten angeht, meine ich, dass die Bilanz für Stadtbewohner bisser ausfällt. Und zu den politischen Zielen der Stadt- und Landschaftsplaner gehört es lange schon, lieber die Städte zu verdichten anstatt weiter unbebauten Raum auf dem Land voll zu bauen. Der sogenannte „Flächenverbrauch“ ist viel zu groß, auch jetzt schon, noch ganz ohne dass alle Städter aufs Land ziehen – was ja in deiner Vorstellung vom „natürlichen Leben“ die Konsequenz wäre.

    Dann lass dir sagen: Auch der Artenreichtung (Tiere, Pflanzen) ist in der Stadt größer als auf dem Land – zumindest vielerorts. Das liegt an der Landwirtschaft, soweit sie nicht ökologisch ist: die rottet alles aus, was nicht erwünscht/nutzbar ist – also verziehen sich immer mehr Tierarten in die Stadt.

    Natürlich hängt alles mit allem zusammen – aber was sagt das denn in diesem Fall? Wenn man auf dem Land wohnt, ist ein Auto insofern zwingend, als niemand einen Familieneinkauf im 15 Minuten entfernten Supermarkt mit dem Fahrrad erledigen will – mal als Beispiel. Bäuerliche Landmenschen von vor 100 Jahren haben sich aus ihren Höfen ernährt und hatten das Problem so nicht. Heute gibt es nur ganz wenige, die SO leben wollen würden – wirfst du das den Menschen vor?

  22. @Claudia:

    Deine Bemerkungen provozieren halt meinen Widerspruch (bitte nicht persönlich nehmen!)/blockquote>

    Das macht’s ja gerade interessant. Wenn wir uns in allem einig wären, worüber sollten wir dann diskutieren? Gegenseitige Lobhudelei langweilt mich schnell. Außerdem, wenn’s zwickt, tut sich immerhin was ;o).

    ich empfinde die Stadt durchaus als meinen natürlichen Lebensraum.

    Obwohl ich das verstehe, weil diese Stadt ja Dein Lebensmittelpunkt und Deine Heimat ist (auf dem Land bist Du nur ein Gast in einer Dir innerlich fremden Welt), sehe ich genau darin ein zentrales Problem: Du fühlst und denkst wie eine geborene Urbanerin und mit Dir Milliarden von Menschen weltweit. Und täglich werden es mehr…

    Du sagst ja selbst weiter oben, das auch das Land hierzulande nicht etwa Wildnis ist, sondern uralte Kulturlandschaft. Ebenso sind Städte uralte Kulturlandschaften, denn Städte gibts sein einigen tausend Jahren. Hierzulande hatten sie im Mittelalter ihren großen Aufstieg.

    Das stimmt. Allerdings sind die Städte der Vergangenheit schon längst nicht mehr mit den modernen Mega-Cities vergleichbar. Jahrtausendelang konnten städtische und ländliche Kulturräume nebeneinander existieren. Heute jedoch verschwinden immer mehr ländliche Lebensräume durch die zunehmende Urbanisierung (z.T. wie in Spanien unwiederbringlich!) – einerseits weil die Großstädte sich immer schneller ausdehnen, andererseits durch die weiter fortschreitende Landflucht der Bevölkerung. Städter ziehen nicht massenhaft aufs Land, das Gegenteil ist die Regel. Lange Zeit ging das gut – ja – aber mittlerweile hat die Urbanisierung Ausmaße erreicht, die m.E. schon längst nicht mehr vertretbar sind.
    Nebenbei bemerkt: Ich lebe übrigens auch nicht in einem 500-Seelen-Dorf, sondern in einer Kleinstadt in ländlicher Umgebung.

    Und zu den politischen Zielen der Stadt- und Landschaftsplaner gehört es lange schon, lieber die Städte zu verdichten anstatt weiter unbebauten Raum auf dem Land voll zu bauen.

    Wenn das wirklich zu ihren politischen Zielen gehört, sind sie aber zumindest hierzulande bislang nicht besonders erfolgreich damit, diese zu erreichen.

    Zitat:

    In Deutschland liegt der Verstädterungsgrad wesentlich über dem weltweiten Durchschnitt. Die elf Agglomerationsräume mit mehr als einer Million Einwohnern zählen allein rund 25,6 Millionen Menschen.

    Wenn man auf dem Land wohnt, ist ein Auto insofern zwingend, als niemand einen Familieneinkauf im 15 Minuten entfernten Supermarkt mit dem Fahrrad erledigen will – mal als Beispiel.

    Ein Auto wäre auch auf dem Land nicht zwingend, wenn hier genausoviel in öffentliche Verkehrsmittel investiert würde wie in den Großstädten. Wird’s aber nicht – im Gegenteil – seit Jahrzehnten werden die öffentlichen Verkehrsnetze hier immer löchriger. Stattdessen werden lieber jährlich Unsummen für Straßenbau und -erhaltung ausgegeben. Das ist m.E. ein politischer Fehlkurs.

    Natürlich hängt alles mit allem zusammen – aber was sagt das denn in diesem Fall?

    In aller Kürze: Kapitalismus -> Industrialisierung -> Urbanisierung
    Dieses ganze System (mitsamt seinen Bedingungen und Folgen) ist aus meiner Sicht langfristig (selbst)zerstörerisch.

    Dann lass dir sagen: Auch der Artenreichtung (Tiere, Pflanzen) ist in der Stadt größer als auf dem Land – zumindest vielerorts. Das liegt an der Landwirtschaft, soweit sie nicht ökologisch ist: die rottet alles aus, was nicht erwünscht/nutzbar ist – also verziehen sich immer mehr Tierarten in die Stadt.

    Das glaubst Du aber nicht wirklich, oder? Klar, in einigen Stadtgegenden gibt es mehr Wildtiere, als mancher vielleicht dort vermuten würde, aber immer noch so wenige, dass die Urstädter erst mal aufgeklärt müssen, wie sie sich ihnen gegenüber zu verhalten haben, wenn sie unversehens auf Wildtiere treffen. Aber stimmt, die konventionelle Landwirtschaft war und ist ebenso wie die fortschreitende Urbanisierung eine Ursache des weltweiten Artensterbens. Doch sie allein der Landbevölkerung anzulasten (quasi als Gegengewicht zu den Folgen der Verstädterung von ländlichen Natur- und Kulturräumen), finde ich unfair. Essen Großstädter etwa mehrheitlich nur Öko-Produkte? Ich plädiere für ländliche Lebensräume, nicht für konventionelle Landwirtschaft. Davon abgesehen ist die ökologische Landwirtschaft hierzulande bereits seit Jahrzehnten auf dem Vormarsch (ein Trend, den man allerdings m.E. politisch noch erheblich forcieren könnte, indem man die Erzeuger zwingt, die Konsumenten über die Produktionsmethoden aufzuklären).

    Bäuerliche Landmenschen von vor 100 Jahren haben sich aus ihren Höfen ernährt und hatten das Problem so nicht. Heute gibt es nur ganz wenige, die SO leben wollen würden – wirfst du das den Menschen vor?

    Mit Verlaub, das ist Quatsch. Meine Großeltern haben noch bis vor ca. zwanzig Jahren (für sich und ihre Kinder) jedes Jahr drei Schweine aufgezogen, dazu Hühner und Karnickel gehalten, hatten einen großen Nutzgarten und die Milch wurde in Kannen direkt beim Bauern gekauft. Ich hab es als Kind geliebt, sämtliche Ferien dort zu verbringen. Mein Opa hat außerdem bis zu seiner Rente als Heizer in einem Sand- und Tonwerk gearbeitet, das etwa 5km von seinem Haus entfernt war, um seiner Familie einen gehobenen Lebensstandard zu ermöglichen. Diese Art der teilweisen Selbstversorgung durch Mini-Landwirtschaften war hier auf’m Dorf in meiner Jugend nicht die Ausnahme sondern die Regel. Ja, es stimmt, ihre drei Kinder wollten bequemer leben. Heute sind sie alle (mit Fahrtzeiten) mindestens 10 Stunden berufstätig – fremdbestimmt! – und sind auf den Verdienst zweier Partner angewiesen, um ihren Lebensstandard halten zu können. Und dabei haben sie noch Glück, denn sie haben wenigstens Arbeitsplätze. Wo ist also letztlich der verheißene Gewinn an Lebensqualität? Ich finde, man hat sie betrogen. Denn sie haben für ein vermeintlich leichteres Leben einen Preis gezahlt, der m.E. viel wertvoller ist als unblutiges Fleisch aus der Supermarkttheke – ihre Unabhängigkeit.
    Ich werfe den Menschen gar nichts vor. Doch einige hier werfen sich inzwischen selbst vor, auf die Versprechungen des kapitalistischen Wirtschaftswunderlandes hereingefallen zu sein. Vorwürfe gegen die bewusst oder unbewusst Betrogenen bringen nichts. Erkenntnisse über die ökologischen, ökonomischen und sozialen Zusammenhänge des jetzigen Systems sind m.E. vonnöten, um irgendwann ein neues zukunftsträchtiges Gesellschaftssystem entwickeln zu können, das den Menschen tatsächlich mehrheitlich zu mehr Lebensqualität verhilft und dabei unsere natürlichen Lebensräume und -ressourcen schont.

  23. *leise* immer wenn ich bei Bekannten auf dem Land bin, sitze auch ich mit denen mehr im Auto als zu hause, lasse die Kinder lieber nicht draussen „Vor der Tür“ spielen (eher hinter der Ortsgrenze im Wald hinter dem Feld, wohin man sie fast wieder fahren muß) und erinnere mich abends daran, daß viele Tiere in die Städte geflohen sind, weil sie dort saubere Umgebungen vorfinden. Deswegen aber freilich *leise* gesagt, weil sich wiederum das alles auch trefflich widerlegen lässt…. bis man vom Ping Pong müde wird.

    Gleichwohl: ziehen alle aufs Land, wäre da Stadt.

    PS. Claudia, schaltest Du noch weit oben meinen Kommentar frei? *zwinkert*

  24. @Chräcker:

    und erinnere mich abends daran, daß viele Tiere in die Städte geflohen sind, weil sie dort saubere Umgebungen vorfinden.

    Die Wunschvorstellung, dass es in der Stadt mehr nichtmenschliches Leben gäbe als auf dem Land, lässt sich schon allein durch die enormen städtischen Flächen an versiegeltem Boden widerlegen. Wusstest Du, dass schon eine Handvoll Humusboden mehr Lebewesen enthält als Menschen auf diesem Planeten leben? Zugegeben, es gibt einige Kulturfolger, die sich in den Städten wohler fühlen als auf dem Land (‚Flugratten‘ z.B. ;o) – besonders wenn Letzteres intensiv bewirtschaftschaftet wird. Doch von einer erhöhten Biodiversität in der Großstadt kann ihretwegen längst nicht die Rede sein. Zudem gehören zur Vielfalt tierischer Arten ja nicht nur die Wildtiere, sondern auch unsere Nutztiere.

    Und was Städter machen, wenn sie zu Gast auf dem Lande sind (oder ihre Gastgeber zu ihrer Unterhaltung), sagt m.E. wenig über das ländliche Alltagsleben aus.

    ——————————————-
    P.S.:
    Was das Ping Pong betrifft: Für gewöhnlich spiele ich online nicht. Wenn mir ein Thema wichtig ist, dann diskutiere ich – dann allerdings oft engagiert und beharrlich ;o).

  25. *Piep* ich bin noch da…

    Ja ja, ich weiß, ist schon wieder ganz schön lange her, seit ich hier das letzte Mal von mir hören ließ. Aber es ist doch gerade Frühling. Und der ist nun mal draußen viel schöner als drinnen vorm Bildschirm.

    Außerdem hab ich ja auch noch einen Garten…

  26. @Iris
    Ich verstehe, was Du meinst und teile Deine Vorliebe für das Landleben. Deshalb bin ich froh, daß Menschen dazu neigen, sich auf kleinem Raum zu ballen, so entsteht wenigstens außenherum etwas Bewegungsraum. Stell´ Dir vor, alle Menschen wären gleichmäßig über den Planeten verteilt! ;)

  27. Obwohl es ganz gut klappt, gehe ich natürlich in der Rolle des Advocatus diaboli nicht wirklich auf – schließlich liebe ich auch das Land in tausend Gestalten, sonst hätte ich nicht zweimal im Leben Anstalten gemacht, meinen Wohnort dauerhaft „raus“ zu verlegen! :-)

    Aber egal, eine/r muss ja Babylon verteidigen:

    @Iris: nicht die totale Zahl lebender Wesen war gemeint, sondern die Artenvielfalt. Ein aufmerksamer Spaziergang durch die Friedhöfe in der Kreuzberger Bergmannstraße zeigt z.B. eine Greifvogel-Vielfalt und Dichte, die man in Brandenburg lange suchen kann.
    Neben einer Neuköllner Saunalandschaft hausen ganze Horden von Kaninchen, die gerne den leeren Parkplatz aufsuchen – warum auch immer. In Stadtparks und Brachgrundstücken gibts sogar Füchse, während vielerorts die Marder den Autofahrern das Leben schwer machen, indem sie unter der Haube nächtigen und die Kabel anknabbern. In den Randbezirken Berlins stürmen immer wieder Wildschweine die Gärten und Terassen – sogar Bushaltestellen und ganz normale Straßen sind ihnen Ausflugsziel. Waschbären finden Müllwerker in Tonnen, in die sie gerne steigen, aber nicht gut wieder heraus kommen. In der Zitadelle Spandau leben alle europäischen Arten von Fledermäusen und Flughunden – gut geschützt per Denkmalschutz.

    Na, ich stoppe hier, könnte aber locker weiter machen! Du musst bedenken: Stadt (wie ich sie in Berlin erlebe) ist ja nicht nur 70ger-Jahre-Plattenbau & Wohnsilo, sondern auch Parks, Grünanlagen, Kleingartensiedlungen, begrünte Hinterhöfe und Vorgärten, Stadtwald und Wäldchen, Spontangrün, Straßenbäume & Baumscheiben, grüne Fluss- und Kanalufer, grüne Inseln, Brachgrundstücke, verlassene Gewerbeflächen, geplegte Öko-Biotope & Ökohöfe, jede Menge Bahngleise/Schneisen – es wundert gar nicht, dass all das zusammen eine ziemliche Artenvielfalt beherbergt. In Berlin ist nicht mal die Spatzenpopulation zurück gegangen wie in anderen Städten, las ich kürzlich: es ist so schön unordentlich, da finden die genug Nistplätze.

    Es könnte gut sein in so einer Stadt, wenn sie sich ihres Reichtums bewusst wäre und ihn schützen würde. Da aber geht der Trend wie überall in die falsche Richtung: Vernutzung möglichst jeglichen Raums, auf irgend eine Art, „die sich lohnt“ – finanziell natürlich.
    So soll ein Stück blödsinniger Stadtautobahn, gegen die Bürger schon ganz lange kämpfen, für 400 Millionen errichtet werden – und dafür müssen auch Kleingärten weichen. Dafür haben Baufirmen für einige Zeit mehr zu tun – der Arbeitsplatz als oberster Wert. Ich finds zum Kotzen!

    Anderes Thema: UNABHÄNGIGKEIT??? Nun ja, ich kenne auch noch ein bisschen diese Nebenerwerbslandwirtschafts-Kultur und das „eingebunden sein“ in einer Dorfgemeinschaft (schwäbische Sippen mütterlicherseits). Ich wollte dort nicht gegen Bezahlung leben, so vorbestimmt und „überwacht“ erschien mir das Leben dort: gleich zur Heirat das Haus, vorfinanziert von den Verwandten, auf Grundstück vom Onkel, den Ernährerjob in der Weltmarkt-beliefernden Tech-Industrie – da kann ja nichts mehr schief gehen. Es war gerade das Gegenteil von Unabhängigkeit: ein enges soziales Netz, das einerseits sehr hilft, andrerseits stark kontrolliert. Je nach Charakter und Temperament ist einem da das coole Hartz4 dann im Fall des Falles doch lieber..

    Was das „große Ganze“ angeht, sehe ich schon lange nicht mehr die Menschen als „auf den Kapitalismus herein Fallende“, sondern den Kapitalismus als – hier mehr da weniger – in Schranken gehaltene/abgefederte Selbstorganisation aller wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräfte. Man kann versuchen, mehr zu regeln und abzufedern, aber eine echte Alternative sehe ich nicht.

  28. Aus irgendeinem Grund habe ich von Wikidot keine Benachrichtigung über Claudias Forumsposting erhalten und bin deshalb nur zufällig über einen Tweet von Claudia hierhin gelangt. Interessante Diskussion mit guten Beiträgen hier!

    Ich kann vielleicht insofern etwas mitreden, als ich ein Vierteljahrhundert in München gelebt habe und seit zwei Jahren in einem Dorf in Südwestdeutschland, dessen Einwohnerzahl sich allein in diesen zwei Jahren von 670 auf 580 reduziert hat. Kurz: es löst sich schön langsam auf. Die Art von Bevölkerung, die es früher zusammengeshalten hat, stirbt allmählich dahin. Was noch bleibt, sind vorwiegend angesiedelte Leute, die gerne auf dem Land leben wollen, aber eher aus dem Grund, in ruhiger, naturnaher Umgebung zu sein, oder wegen preiswerten Baugrundstücken, und weniger, um dem „klassischen Sozialraum Dorf“ zu huldigen. Auf dem Hintergrund dieser eigenen Erfahrungen finde die Diskussion über Stadt- vs. Dorfleben etwas müßig. Man kann auf dem Dorf längst genauso leben wie in der Stadt, und was Claudia und Chräcker schildern, kommt mir auch so vor: die klassische, direkte Nachbarschaft hält sich im „Kiez“ typischer Altstadtviertel hartnäckiger als auf so manchem Dorf.

    Was sich geändert hat und immer schneller ändert, ist: es gibt keine Schicksalsgemeinschaften mehr, weder auf dem Land noch in der Stadt. Schicksalsgemeinschaften gibt es allenfalls noch im familiären Bereich, doch selbst da ist eine Tendenz erkennbar, dass die Bereitschaft, sein Leben in solche Schicksalsgemeinschaften zu investieren, abnehmend ist. Was stattdessen überall zunimmt ist: Wahlfreiheit. Man lebt in der Stadt oder auf dem Land, ganz nach Gusto. Dadurch werden alle Beziehungen leichter, unverbindlicher, lebensabschnittsorientierter (auch der Schmunzelbegriff „Lebensabschnittsgefährte/in“ kommt nicht von Ungefähr). Das sogenannte „reale“ Leben verliert dadurch auch ohne das Netz immer mehr an Gewicht. Denn diese Tendenzen sind bereits seit Jahrzehnten am Werk und haben ihre Ursachen nicht im Internet. Zivilisationskritiker sagen, die Ursachen seien problematische Entwicklungen wie Urbanisierung, Isolierung und was weiß ich noch alles. Meine Ansicht ist: das sind überhaupt keine problematischen Entwicklungen, sondern natürliche Entwicklungen des Menschen, dessen Geist sich immer mehr aus den Gesetzen der Biosphäre herauslöst. Schulanfängern fallen Zähne aus, Pubertierende werden mürrisch. Entwicklung ist nicht immer toll, weder für die Betroffenen noch für die Nahestehenden. Das hält die Entwicklung aber letztlich nicht auf.

    Was immer mehr Leute an der Netzkommunikation schätzen, ist, dass diese ihr längst ausgebildetes Verständnis von wahlfreien Beziehungen sehr gut trifft. Das kann man beklagen. Ich sehe es aus dem zuvor skizzierten Entwicklungsgedanken einfach so, dass die Netzkommunikation gerade so ungeduldigen Menschen wie mir, die, wenn sie in einer Zeitmaschine sitzen würden und die Getriebeauswahl „R“ oder „D“ hätten, erst mal in die Zukunft statt in die Vergangenheit reisen würden, als Vorbote einer künftigen, anders organisierten Zivilisation erscheint. Das ist einem natürlich nicht in jedem Moment in dieser Form bewusst, und es wäre auch schlimm, ständig mit so einem Missionsgedanken herumzulaufen. Was sich aber nach Jahren der Netzkommunikation nicht mehr ablegen lässt, ist ein tatsächlich „anderes Erleben“, egal ob das eine Fahrt mit der U-Bahn, ein Einkauf beim Bäcker, ein Besuch auf der Dorfkirmes, eine Familienfeier oder das Einschalten des Computers am Morgen ist.

  29. @Stefan: was meinst du mit dem „anderen Erleben“ am Ende deines schönen Kommentars? (Keine Ahnung, warum der in die Moderation gegangen ist – WP nervt manchmal schon sehr… )

  30. Ich glaube „dann“ aber, das wir einen Ersatz für diese „kümmernden Schicksalsgemeinschaft“ mit einer hohen Verlässlichkeit brauchen, denn wenn ich mal in Not, im Alter, beim Tot gar, jemanden brauche, will ich nicht von der lockeren Wahlentscheidung meines Umfeldes abhängig sein, die dann plötzlich sagen: diesen Lebensabschnitt wollten wir aber nicht begleiten, tschüs.

  31. Hi Stefan,

    prima, so verstehe ich Dich viel besser!
    Ich sehe auch eine Auflösung von Schiksalsgemeinschaften und eine Zunahme von Wahlfreiheit. In meiner Vorstellung lösen sich gewillkürte Schiksalsgemeinschaften, die vordem mit allerhand Druck von außen „zusammengeklammert“ wurden, zugunsten von innen gewählter Schiksalsgemeinschaften auf. So ganz ohne Gemeinschaft mögen wohl nur die wenigsten gerne sein. Hier und in diesem Augenblick geht es um rein geistige (spirituelle) Gemeinschaft. Die lässt sich via Internet sehr schön umsetzen. Aber was ist mit den Freuden körperlicher Gemeinschaft?

    @Chräcker
    Dir scheint frei gewählte Gemeinschaft nicht verlässlich zu sein? Glaubst Du, Deine Nächsten und Liebsten würden Dich im Stich lassen, wenn Du in Not gerietest?

  32. @Chräcker: zu diesem Zweck wurde das soziale Netz erfunden, ohne das all diese Unabhängigkeit von den archaischen Sippen und Clan-Gemeinschaften gar nicht möglich wäre.

    Krankheit -> Krankenversicherung
    Pflege -> Pflegeversicherung
    Arbeitslosigkeit -> Arbeitslosenversicherung, Hartz 4
    Alter -> Rentenversicherung

    und jede Menge Angebote zusätzlicher Versicherungen und Vermögensbildungsmethoden, die über die Defizite dieser Systeme demjenigen helfen, der es sich leisten kann.

    Es braucht soziale Netze im lokalen Raum

    Da wir alle in Zukunft keinen materiell wachsenden Wohlstand, sondern dessen Schrumpfung erleben werden (das ist ja schon im Gange), wird von staatlicher Seite da kaum Besserung zu erwarten sein, im Gegenteil.

    Aus meiner Sicht ist es dringlich nötig, soziale Online-Netze im lokalen Raum zu etablieren, die nicht dem Amusement oder der Partnersuche dienen, sondern der gegenseitigen Hilfe im Alltag. Die Techniken, sowas ganz toll zu erschaffen, sind vorhanden – inkl. Verrechnungssysteme / Bonuspunkte etc. Was es dafür braucht, sind kundige Akteure, die nicht zuvorderst Gewinn im Auge haben – und das Problem des Vertrauens muss umfänglich bearbeitet/gelöst werden.

    So, wie derzeit das Thema Social Media in den Mainstream dringt, denke ich, es wird nur noch wenige Jahre kollektiven Lernens dauern, bis solche Dinge machbar werden. Evtl. ist das dann auch eine Ebene, auf der man „mit Ausweis“ (der ja geplant ist und wohl kommen wird) agieren muss.

    Ich stell mir ein Netz vor, in dem zwar einander Fremde, aber in räumlicher Nähe wohnende Menschen Hilfen leisten, wenn Sie dazu Lust und Zeit haben. Von der Hilfe beim Regal-Aufstellen über Babysitting, Hilfe im Haushalt, Besuche bei KRankheit und Unterstützung der Pflege.

    Die „Tauschringe“ könnten ein Vorbild darstellen – sie sind derzeit geradezu kastriert durch verschiedenste Gesetzeslagen. Mit einem anderen Ansatz (Organisation freiwilliger Unterstützung) könnte man dem allerdings entgegen treten – es wird kaum anders gehen!

  33. @Claudia:

    nicht die totale Zahl lebender Wesen war gemeint, sondern die Artenvielfalt.

    Das war mir schon klar. Im Boden Leben aber auch wahnsinnig viele verschiedene Arten. Und die Tierarten, auf die man in den Grünanlagen von Berlin treffen kann, hättest Du wegen mir hier nicht alle aufzählen müssen (die gibt’s hier übrigens alle auch – und mehr ;o). Doch in einem hast Du aus meiner Sicht recht: Berlin hatte, aufgrund seiner jüngeren Geschichte als ‚Inselstadt‘ und der lange Zeit damit verbundenen Zuführung finanzieller Mittel, tatsächlich einen Sonderstatus unter den deutschen Großstädten. Ich selbst war – als ich in den 80ern das erste Mal nach Berlin kam – überrascht, wie grün eine Großstadt sein kann. Die Hasen und Eichhörnchen mitten in der Stadt hab ich selbst gesehen. Doch als Hauptstadtmetropole hat Berlin in den letzten Jahrzehnten schon viel von seinem einstigen Charme einer Vorzeigestadt des Westens verloren …und verliert rasant weiter. Nicht nur, weil inzwischen an allen Ecken das Geld fehlt (in manchen Kiezen nicht mal mehr der einfach auf die Straße gestellte Müll zeitnah abgeholt), sondern auch weil ein unkontrollierbarer Menschenstrom aus allen Himmelsrichtungen in die Hauptstadt floss (darunter auch reichlich skrupelloses Spekulantenpack). So entwickelt sich auch Berlin zusehends zu einer ’normalen‘ Großstadtmetropole. Ich wünschte sehr, ihr Berliner könntet das aufhalten, aber ich glaube ehrlich gesagt nicht daran. Denn Geld regiert die Welt, auch Eure Stadt.

    Kapitalismus als – hier mehr da weniger – in Schranken gehaltene/abgefederte Selbstorganisation aller wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kräfte.

    So haben bestimmt auch viele über den Absolutismus gedacht (ach nee, der war ja noch gottgewollt und -geregelt, also musste man erst Gott abschaffen, um ihn zu überwinden).
    Ich hingegen halte inzwischen nicht mal mehr unsere demokratische Ordnung für ausgewogen und zeitgemäß, weil sie vom Lobbyismus der Kapitalisten und geldgeilen Karrierepolitikern ausgehölt wurde. Das Volk hat keine wirkliche Macht mehr, das Großkapital hat sie ihm längst hinterrücks abgekauft. Wahlen sind in meinen Augen nur noch ein öffentliches Schmierentheater, denn egal was ich ankreuze, ich krieg immer das gleiche Programm. Aus meiner Sicht wird das noch so lange ‚gut‘ gehen, bis der Leidensdruck bei genügend Menschen (die nun nur noch wertloses Humankapital sind, das von seinen vorgeblichen Vertretern als Sozialschmarotzer diffamiert wird) groß genug ist. Und dann scheppert’s. Das war schon immer so. Auch viele Verantwortliche sehen m.E. diese Zeiten längst kommen. Darum versuchen sie mit aller Macht immer neue Kontroll- und Disziplinarstrukturen einzuführen. Nicht die Angst vor fremden Terroristen treibt sie dazu, sondern die Angst vor ihrem eigenen Volk.

    Die Auswirkungen des Kapitalismus martern und töten derzeit mehr Menschen weltweit als irgendwas anderes – darunter unvorstellbar viele, die von Geburt an nicht den Hauch einer Chance haben, ihn in irgendeiner gewaltlosen Weise in die Schranken zu weisen. Das zu leugnen oder nicht wahrhaben zu wollen ist m.E. immer noch unserer mehrheitlich satten Trägheit geschuldet und nicht etwa der Einsicht in eine höhere gerechte Ordnung.

    So, und jetzt hab ich hier schon wieder ein neues Fass aufgemacht. Diesmal hast Du mich provoziert ;o).

  34. @Iris: das vertage ich aber wirklich! :-) Lese gerade das Buch von Meinhard Miegel „Wachstum ohne Wohlstand“, das die Problematiken unserer Zeit umfänglich beschreibt. Mit alten Feindbildern wird man m.E. nicht mehr viel erreichen, denn WOHIN sollte denn eine Revolution (= „dann schepperts“) führen? Wenn der zu verteilende Kuchen schrumpft und zudem immer mehr Menschen davon essen, hilft auch mehr Umverteilung nicht wirklich weiter. Genau davon handelt dieses Buch – ich werde dazu was schreiben, wenn ich durch bin.

  35. @Claudia:

    Okay, vertagen wir das ;o). Eine Frage möchte ich Dir aber eben noch ansatzweise beantworten:

    WOHIN sollte denn eine Revolution (= “dann schepperts”) führen?

    Was dabei rauskommt, werden wir erst sehen, wenn es so weit ist. Es richtet sich m.E. danach, was für eine Weltanschauung derjenige hat, dem zuerst die Pulle überläuft und der das Charisma hat, genügend Menschen für eine Revolution hinter sich zu scharen. Diese Frage solltest Du aber m.E. nicht den Massen stellen, die man mit dem Rücken an die Wand treibt, sondern denjenigen, die ihre Gier nicht zügeln können und es kaltblütig bis zu einer erneuten Gewalteskalation kommen lassen. Sie bestimmen den Blutpreis einer neuer Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, denn sie werden ihre Macht nicht gewaltlos aufgeben, wenn die Mehrheit des Volkes es verlangt – Wetten.

    Ein paar abschließende Denkanregungen noch von mir (zum späteren Ausdiskutieren ;o): Wir müssen uns m.E. vom Gedanken verabschieden, dass unser Heil in einer permanenten Wachstumssteigerung liegt (die imo gar nicht auf Dauer funktionieren kann, weil sie ein Schneeballsystem ist). Wirtschaftswachstum bedeutet nicht per se mehr Lebensqualität. Die damit verknüpfte Konsumsteigerung ist längst zum Selbstzweck geworden.

    Und eine von Gandhi:

    Die Welt hat genug für Jedermanns Bedürfnisse, aber nicht genug für Jedermanns Gier.

  36. @Claudia: mit dem “anderen Erleben” habe ich so ein unbestimmtes Gefühl gemeint, wie man es hat, wenn man nach drei Jahrzehnten zum ersten Mal wieder auf einen Spielplatz kommt, auf dem man als Kind oft gespielt hat. Man sieht es aus der Distanz, wohlwollend durchaus, vielleicht auch kritisch, aber eben nicht mehr mit dem Bewusstsein des Kindes, das einst dort einen wichtigen Lebensraum hatte.

    @Chräcker: Wer garantiert dir, dass eine familiäre oder nachbarschaftliche Schicksalsgemeinschaft im Sinne eines „unausweichlichen Milieus“ wirklich mehr Lebensqualität im Alter und mehr Würde beim Sterben schenkt? Würde es dich wirklich glücklich machen, als Pflegefall über Jahre hinweg den Alltag deiner Kinder so zu belasten, dass ihre eigenen Beziehungen dabei Schaden nehmen?
    Ich steuere selber auch mit großen Schritten aufs Alter zu und mir ist klar, dass ich eigentlich keine Schicksalsgemeinschaft habe, die mich auffängt, wenn ich schwächer und schwächer werde. Meine Reaktion ist aber nicht, mir krampfhaft eine solche Gemeinschaft aufbauen zu wollen, damit ich mich sicher fühlen kann. Meine Reaktion ist eher, die Dinge auf mich zukommen zu lassen. Denn ich weiß, dass ich kein Einzelfall bin, sondern zu den sogenannten „geburtenstarken Jahrgängen“ gehöre. Viele, sehr viele von denen befinden sich längst nicht mehr in Schicksalsgemeinschaften. Sie werden sich andere Lösungen suchen müssen. Claudia hat ja schon etwas davon angedeutet: lose, durch elektronische Vernetzung organisierte lokale Netzwerke. Dazu Alten-Wohngemeinschaften, eine Zunahme ehrenamtlicher Pflegetätigkeit (könnte möglicherweise wichtiger werden als „freiwillige Feuerwehr“) und vieles mehr.

    Ein anderes, immer weiter um sich greifendes Phänomen gehört übrigens ebenfalls in dieses Gemälde mit rein: die Tatsache, dass immer mehr Sterbende nach ihrem Tod kein herkömmliches Begräbnis und kein namentliches Grab mehr wünschen. Möglichst restlose materielle Entsorgung und Anonymität sind ihr Wunsch. Lieber eine Memorial-Seite bei Facebook oder dergleichen. Man kann das alles furchtbar finden. Muss man aber nicht, und aufhaltbar ist es ohnehin nicht. Besser ist es, man versucht zu verstehen, warum das alles so ist. Es hat jedenfalls nichts mit Armut zu tun, oder mit sozialer Einsamkeit, oder mit Minderwertigkeitsgefühlen. Es ist Ausdruck eines „anderen“ Lebensgefühls. (Da ist es wieder, dieses „andere“, Claudia ;-)

    viele Grüße
    Stefan Münz

  37. Naja, Uwe, ich denke, die Gefahr, gerade in einem wichtigen Lebensabschnitt gerade keine Lebensabschnittskontakte mit tieferen Wurzeln zu haben, wenn ich sie brauche, ist höher, je mehr wir eben diese in einem Leben tauschen. Eine Menge alleinerziehende Frauen und Männer dürften da ein Lied von singen können. „Und plötzlich war keiner mehr da.“

    Und Claudia, die in der nähe helfenden „Fremden“ sind nur da, wenn man die auch vorher mal „angeschaut“ und ab und „gegrüsst“ hat, im anfassbaren nachbarschaftlichen Raum. Und sich auch „präsent“ gemacht hat.

    Denn von Euch würde ja keiner meinen Spiegelschrank mir aufhängen helfen. ;-)

  38. @Stefan Münz:

    Zunächst hatte das Netz für mich persönlich eine zeitlang schwerpunktmäßig die Funktion eines zwischenmenschlichen Kommunikationsmediums. Doch das hat sich mittlerweile drastisch reduziert. Mir fehlen hier einfach zu viele Aspekte der Zwischenmenschlichkeit: Das Netz zeigt mir (noch nicht), ob mir ein Gegenüber während einer Unterhaltung in die Augen schauen kann. Und ich kann auch nicht, anhand von Mimik und Gestik, die Ernsthaftigkeit oder den Wahrheitsgehalt von Äußerungen einschätzen. Nicht mal so banale Dinge wie ein gepflegtes Äußeres oder Tischmanieren kann ich erkennen. Oberflächlichkeiten ja, doch auch die Oberfläche eines Gegenübers ist mir persönlich in Sympathie- und Vertrauensfragen nicht völlig egal. Klar, man kann online in kürzerer Zeit mehr Menschen ‚kennenlernen‘ als offline. Aber Quantität bedeutet mir (nicht nur) in sozialen Fragen nicht so viel wie Qualität.
    Viel spannender und revolutionärer finde ich inzwischen das Netz als gigantische Wissensquelle. Ich kann mich schnell und unkompliziert über nahezu alles informieren, was mich interessiert. Nie zuvor habe ich schneller mehr gelernt, als in der Zeit, seit ich Internetanschluss habe.

  39. Wenn ich mal, selten genug, Samstags abend in der Friedrichstrasse sitze, denke ich immer, woh.., die Stadt atmet einfach ganz anders. Und genau so, wenn ich in Paris oder London meinen Cappucciono trinke. Wahnsinn, toll, das uns das alles heutzutage möglich ist. Meine Eltern wagten noch nicht mal davon zu träumen. Geniessen wir es, solange wir noch können.
    Dabei ist es auch nicht mein erstes Wunsch, in einer solch großen Stadt zu leben, aber immer habe ich auch so eine Art Respekt vor den Menschen die dort leben, die Bewunderung des Kleinstädters, wie die das alles gemanaget bekommen, und mir damit persönlich immer wieder mal ermöglichen, diese Luft zu atmen.

  40. @Iris: Ich habe im Netz schon diverse Leute kennengelernt, die ich dann irgendwann auch mal „in Echt“ getroffen habe. Das Erstaunliche war dabei, dass ich eigentlich nie enttäuscht war. In vielen Fällen musste ich zwar eine nicht ganz so erwartete äußere Erscheinung mit dem verknüpfen, was ich von den Leuten im Netz kannte. Doch das war eigentlich nie das große Problem. Auch nicht, ob so jemand schmierige Haare hat, immer den Blick abwendet oder beim Essen schmatzt. Liegt vielleicht auch daran, dass ich bei so was relativ flexibel bin. Entscheidend war wohl eher, dass ich in allen Fällen meine „Bewertung“ der Person schon längst erarbeitet hatte, bevor sich die RL-Eindrücke hinzugesellten. Wenn jemand interessante Argumente in Netzdiskussionen bringt, sich fachlich hervorragend mit etwas auskennt, womit ich mich auch befasse, oder einfach im Laufe von Monaten und Jahren ein treuer Weggefährte in Communities und Netzwerken geworden ist, dann hat dieser Mensch für mich eine Bedeutung, und ich vertraue ihm. Dazu muss ich ihn nicht zwangsläufig persönlich kennengelernt haben. Natürlich ist Betrug nie ausgeschlossen. Aber ist er das im RealLife? Nur weil jemand einem Blick standhält, ist das noch kein verlässliches Vertrauensindiz.

    Und nachdem du hier fleißig mitdiskutierst, scheinst du das Netz ja nicht nur zu nutzen, um dich an der Fülle des dort enthaltenen Wissens zu erfreuen. Du hast längst begonnen, dich einzumischen. Willkommen im Club! :-)

  41. @Stefan Münz:

    Ich habe im Netz schon diverse Leute kennengelernt, die ich dann irgendwann auch mal “in Echt” getroffen habe. Das Erstaunliche war dabei, dass ich eigentlich nie enttäuscht war.

    Das freut mich für Dich – ehrlich! Ich hatte damit nicht so viel Glück. Vielleicht bin ich auch einfach nicht so talentiert beim Kennenlernen übers Netz wie Du oder anspruchsvoller, was die Sinneseindrücke betrifft, die man erst face to face wahrnehmen kann. Ich habe jedenfalls für mich persönlich festgestellt, dass mich der Aufbau zwischenmenschlicher Kontakte übers Netz unterm Strich erheblich mehr Zeit kostet und zu mehr Fehleinschätzungen führt als bei Offline-Bekanntschaften.

    So intensiv und ausdauernd wie in diesem Thread diskutiere ich mittlerweile online selten, früher hingegen hab ich mich täglich z.T. stundenlang in Foren rumgetrieben.
    Aber Danke für Deinen netten Willkommensgruß, auch wenn er etwa 10 Jahre zu spät kommt ;o).

  42. @Stefan, ich habe bisher nur zweimal die Menschen aus dem „Netz“ in Echt getroffen, aber auch meine Erfahrung war dabei nur die Beste. Ich denke, dabei kann man sich ganz gut auf sein eigenes Gefühl verlassen, ob man es will, oder im anderen Fall mal nicht.

  43. Wow, dieses Gespräch hebt den Artikel intern auf Platz 7 der meist kommentierten Beiträge – hätt ich nicht gedacht!

    @Stefan: wir sind uns in diesem Empfinden wohl sehr ähnlich – 15 aktive Netzjahre sind halt prägend.. :-)
    Ich frage mich aber schon, ob es für unsereiner angesagt ist, „die Dinge auf sich zukommen zu lassen“. Was die persönliche Gelassenheit angeht, natürlich schon, aber WER wird denn die stützenden „neuen sozialen Netze“ anregen, einfordern, konzeptionieren, dafür werben, sie letztlich umsetzen in all ihrer menschlichen und softwaretechnischen Komplexität?
    Klar, es sind die geburtenstarken Jahrgänge, die das zuerst brauchen – aber wieviel davon sind „Netzbewohner“, die nicht nur nutzen, sondern auch gestalten & organisieren? Und wieviel von denen interessieren sich für DIESES Thema….

    Darüber denk ich öfter mal nach!

  44. @Iris: in meinen ersten Netzjahren hab ich massiv persönlich gemailt – mit Wildfremden, die mir aber bald wie nahe Freunde erschienen, so gefühlsmäßig. Ich lernte aber auch schnell, wie sehr man projiziert und alle Info-Lücken, die das Gegenüber lässt (immer eine Menge!), mit den eigenen Vorstellungen füllt. Und zwar den Vorstellungen vom „optimalen“ oder „schlimmstmöglichen“ Gegenüber – je nach Charakter. Meins war durchweg die Überhöhung, doch bringt das auch eine eigene Qualität, denn wer ans „optimale Gegenüber“ schreibt, ist engagierter und disziplinierter: man aktiviert sozusagen das Maximum an Herzblut und Ehrlichkeit – auf jeden Fall eine gute Selbsterfahrung.

    Bei dir scheint mir durchzuklingen, dass die dann real Angetroffenen nicht deinem ästhetischen Empfinden entsprachen. Wenn jemand kein ganz krass verlumpter Typ ist, der womöglich meine Nase beleidigt, bin ich da eher tolerant – aber natürlich nur dann, wenn ich ihn nicht mailend als potenziellen Partner/Lover/Gespielen in Betracht gezogen habe. Doch auch dann kann daraus noch eine wundervolle Freundschaft werden, wenns auch im ersten Augenblick eine krasse Ent-Täuschung sein mag.

    Siehe dazu auch Liebe per Email

  45. Ja Claudia, ich glaube, wir vertun uns heute auch gerne arg, was die vermeintliche Wichtigkeiten des Netzes (heute) angeht. Ich selber bin seit etwa 20 Jahren in digitalen sozialen Netzwerken unterwegs, der Anteil der Leute aus meinem doch recht großen Freundeskreis aus dieser Zeit im Netz hat sich nicht vergrössert, er blieb bei 0. (Die das Netz nutzenden Freunde bekam ich erst durch selbiges….)

    Klar haben die alle inzwischen auch eine Internetanbindung, aber ein einziger hat, hey, seine Partnerin über eine Partnersuchseite gefunden, das war schon die Spitze des sozialen Netzaufbaus.

    Das einzige, was sich bei manchen leidlich durchgesetzt hat, ist stayfriends. Selbst facebook wird meist nur als Spieleplattform genutzt, und die heutige Kinder, die mit Schüler-VZ „üben“ machen mir da auch nicht so viel „Hoffnung“. Da sind die Apps auch am wichtigsten.

    Und ich bin da eher bei Schirrmacher, der mit dem iPad eine neue Generation von Black Boxes aufkommen sieht, mit denen die Leute endlich das bekommen, was die meisten haben wollen: ein Internet-Abspielgerät.

    Es sind eher nur einige wenige, die zur Zeit sich im Netz verbandeln und Netze knüpfen üben mit diesem für die anderen immer noch sehr sperrigem Werkzeug. Und „bis wir es endlich können“ wird für diese Technik vielleicht gar kein „Markt“ (Gesellschaft) oder schlicht keine Luft neben den Blackbox-Apps sein.

    *leise* wohl dem, der da noch den Namen seines Nachbarn kennt und die alte Technik in peto hat ;-)

  46. @Craecker: du lieber Himmel, klingst du deprimiert! Deine Sicht der Dinge teile ich definitiv nicht. Laut Erhebungen steigen die Zahlen der Nutzer auch in DE Jahr für Jahr – auch die der aktiveren Nutzer. Meine nicht im Netz kennen gelernten Freunde haben alle lange schon Anschluss, nutzen das Netz für die eigenen Zwecke und zur Information: das „Agenda-Setting“ der Blogger-Szene bekommen sie ebenfalls weitgehend durch mich mit – z.B. über meine Friendfeed-Seite. Vielleicht wären auch deine Freunde interessierter, wenn DU z.B. bloggen würdest? Gar zu einem Thema, das dein Umfeld dort interessiert?

    In der Apple-Flunder und anderen Tablets sehe ich nicht die große Gefahr: auch dort ist das Web nur einen Touch entfernt, was die Verleger mit ihren teuren Apps ohne Mehrwert noch schmerzlich merken werden. Und wer nur spielen will, findet eh überall Gelegenheit, egal ob am eigenen PC, im Web oder auf dem Smarthandy und Tablet.

    Menschen nutzen das Netz aktiver, wenn sie erkennen, dass sie es brauchen können – und ich könnte dir jetzt endlos Geschichten aufzählen, wie das auf zig Gebieten/Themen so individuell von statten ging. Dann ist da noch der Einfluss der traditionellen Medien – keine Tagesschau mehr ohne Verweis auf „mehr dazu im Internet“.

    Und dann die allgemeine Wirtschaftslage: viele müssen nolens volens aufbrechen zu neuen Ufern, zu neuen Horizonten möglichen Erwerbs – und man wird sich mehr selbst organisieren müssen, weil der Staat seine helfenden und schützeden Hände tendenziell zurück zieht (Verschuldung). Da erscheint das Internet geradezu als das im Hölderlinschen Sinne Rettende, das ebenfalls wächst, wenn die Gefahr groß ist.

    Soweit für jetzt. Schau mal die Artikel und Vorträge rund um die Re:publika: die Szene hat sich vom wie-verdiene-ich-Geld-mit-dem-Blog-und-darf-ich-das-Thema gelöst und diskutiert die großen Themen der Geselschaftsveränderung auf diversen Gebieten. Gleichzeitig ist das Netz im Mainstream angekommen – wie schnell da ein echter kollektiver Lernprozsss abgehen kann, siehst du daran, wie überzeugt jetzt fast alle die Unsinnigkeit von Netzssperren vertreten, die vor einem Jahr noch ganz anders und recht ahnungslos drauf waren.

    Hm, ich muss arbeiten… so weit für jetzt!

  47. @Claudia:

    Bei dir scheint mir durchzuklingen, dass die dann real Angetroffenen nicht deinem ästhetischen Empfinden entsprachen.

    Nicht allein meinem ästhetischen Empfinden. Mir ist es z.B. unangenehm bis peinlich, in einem Restaurant/Café mit jemandem gemeinsam zu essen, der das Servierte so gierig verschlingt, als wäre er total ausgehungert, bei Tisch raucht oder sich in der Öffentlichkeit laut und aufdringlich gebärdet – und das durchaus nicht nur bei potenziellen Partnern ;o). Ich finde keine Worte, die das vollumfänglich beschreiben könnten. Es ist die gesamte Ausstrahlung eines Menschen, sein Erscheinungsbild als Ganzes. Und das betrifft nicht nur die Ästhetik, sondern Mimik, Gestik, Stimme, Geruch (unerträglich finde ich z.B. stark Parfümierte), Höflichkeit, Haltung – eben auch das, was ich unter guten Manieren verstehe. Und wenn ich offline Leute kennenlerne, fällt mir sehr schnell auf, wenn jemand diesbezüglich nicht mit mir auf einer Wellenlänge liegt.

    Das mit der tendenziellen Überhöhung beim Auffüllen von Info-Lücken ging mir allerdings bei einigen früheren Mail-‘Freundschaften’ auch so. Ich denke, das ist typisch, wenn man jemanden sympathisch findet (oder eben auch nur seine Art zu kommunizieren). Doch in der sogenannten Realität ist derlei Selbstbetrug meist nicht so lange haltbar.

    Das bedeutet allerdings nicht, dass ich heute online nicht mehr mit Menschen kommuniziere. Es bedeutet lediglich, dass ich es mittlerweile i.d.R. bei (meist flüchtigen) Online-Kontakten belasse, wenn ich jemanden nur übers Netz ‘kenne’. Das frühere Bedürfnis, Leute, die ich im Netz sympathisch, interessant oder unterhaltsam finde, dann auch offline kennenzulernen und sie zu dauerhaften Freunden werden zu lassen, hat sich weitgehend verflüchtigt. Alles andere kostet mich einfach zu viel Zeit (das imo kostbarste Gut von allen), und es kommt am Ende zu wenig dabei heraus.

  48. Keine Sorge, nicht deprimiert, Claudia, ich denke nur, die Netzgemeinde nimmt sich teilweise noch zu wichtig. So wichtig ist für das Alltagsleben der meisten Leute das „Gestalten“ im Netz gar nicht. Es wird konsumiert (überhaupt nichts dagegen) und ansonsten abgeschaltet.

    Und zum eigenen Blog, es freut ja immer meine eitle Seele… aber ich bin doch eher ein zwinkernder und leicht oberlehrerhafter Leserbriefschreiber. (komme, um Stefans Schimpfwort mal zu nutzen, ja erzieherisch aus der „Sozpäd-Ecke“ eher)

    Ein Zuleser sozusagen.

    Als ich übrigens noch aktiv Internetseiten gestaltete, hatte das aus meinem Bekanntenkreis, ausser höflichen Beifall, auch keinen interessiert. Eitel glaube ich aber auch, die haben die nie verstanden. So eine Stempelseite ging noch als lustig und technisch damals „neu“ durch, bei Schubaldendinge.de wars schon schwerer mit der Vermittlung.

    Bei Blogkommentaren hat man den Vorteil: den muß wenigstens der Blogbetreiber lesen. ;-) – Nene, nicht das das jetzt auch zu deprimiert klingt, aber ich trau mir eben doch eher ein „Zettelhinterlegen“ zu als ein „selbst-Bloggen“. Würde ja sonst eh nur alles „auch noch mal schreiben“.

    Aber freu mich immer, wenn Du mich stupst da. ;-)

  49. Eine rein geistige (spirituelle) Gemeinschaft lässt sich via Internet sehr schön umsetzen. Deswegen bin ich dankbar, daß es da ist und nutze es oft. Es ist toll, Ideen und Gedanken von Menschen wahrzunehmen, mit denen man sonst niemals hätte sprechen können oder wollen, auch mit Leuten, deren Aussehen oder Verhalten einen sonst abgestoßen und negativ voreingenommen hätte. :)

    Ein offener geistiger Austausch mit bunt gemischten Wildfremden, kann einem die Basis menschlicher Gemeinsamkeit, das Verbindende zwischen Menschen bewußt machen. Die gefühlte „Verbindung“ kann gute Gefühle vermitteln und die persönliche Entwicklung voranbringen. Es besteht für mich aber kein Anlass, dieses mit „Beziehung“ oder „Freundschaft“ zu verwechseln oder mir einzubilden, ich würde jemanden deswegen kennen, weil ich einen Ausschnitt seiner/ihrer Gedanken und Ideen erfahren habe.

    Meine Liebste habe ich auch über das Internet gefunden aber kennengelernt habe ich sie erst in den Jahren des Zusammenlebens.

  50. @ Claudia: Was, wann, bei wem ankommt, ist die grosse Unbekannte beim Schreiben. Aber ich staune auch über die Resonanz, die das Thema ausgelöst hat. Und noch mehr über die Länge und die Qualität der Beiträge. Aber Blogger brauchen ja auch diese Art von Erfolgserlebnis, in Kompensation zu den sorgfältig ausgesuchten Themen und mit Herzblut verfasstem Text, wenn völlig unerklärlich das „lesbare“ Echo ausbleibt.

    Den langen Thread ergänzen möchte ich mit der Feststellung, dass ich Stadt und Land benötige. Einerseits ist das Landleben herrlich, vor allem wenn damit das Wohnen im eigenen Haus und mit schönem Garten verbunden ist. Von jetzt an bis in den Herbst hinein, findet abends ein Teil vom Leben im Garten statt. Gut, dass bei uns Spaziergang oder Jogging direkt vor der Haustüre starten kann, ist ein Privileg der Lage, das nicht zwingend jedem Landbewohner zufällt.

    Andererseits werde ich nie darauf verzichten, solange ich mobil und frei in der Wahl meiner Präferenzen bin, das soziale Kontaktnetz in der Stadt zu pflegen. Besser gesagt auf Stadtboden, denn die Netzwerkkontakte wohnen ja auch weit verstreut in der Agglo. Allgemein betrachtet, ist bei Treffen in der Stadt der Themenkreis grösser und interessanter, wie bei Treffen auf dem Land, wo halt immer schnell lokale Themen und lokale Personen, Teil der Unterhaltung werden. Ein Teil der Unterhaltung ist dann zwar auch von Interesse, geht es doch um den frei gewählten Wohnort. Die ausgiebigen Details bringen jedoch nichts.

    Bei Treffen in der Stadt, kann man eher auch mal was Privates von sich geben, weil für das Weitergeben der Geschichte durch die Anwesenden beim nächsten Schwatz in der Wohngemeinde, nur der Themeninhalt zählt und nicht die Person, welche mit der Geschichte verzahnt ist. Auf dem Land ist es umgekehrt. Wichtig wird, wer wann, was und wo erzählt hat. Der Inhalt der Geschichte macht sich selbständig und entzieht sich der Kontrolle.

    Wohnen auf dem Land ist herrlich und ich mache es seit 36 Jahren. Wer sich jedoch nur auf dem Land aufhält und auf Themenfluss und Diskussionsqualität vom Land angewiesen ist, hat ein grösseren Risiko früher „kurrlig“ zu werden, bei der Wahrnehmung von Gesellschaft und der unaufhaltsam ablaufenden Veränderungsgeschwindigkeit.

  51. @Relax: sei willkommen! Wie möchtest du angeredet werden?

    Danke für den substanziellen Beitrag zur Stadt/Land-Kontroverse! :-) Man merkt, dass da lange Lebenserfahrung spricht! Du hast gut in Worte gefasst, was mich bei meinem ersten Versuch, auf dem Land zu leben, so abgestoßen hat: die gesamten Themen der Ansässigen (zugewanderte Deutsche in der Toskana, die in Tourismus / Agrikultur machten) drehte sich um Hausbau, Umbau, Tier- und „Touristenhaltung“ – anfänglich war es interessant, dann nicht mehr, sofern man nicht genau DAS auch machen wollte.

  52. @ Claudia: Danke für die sympathische Begrüssung. Relax bin ich, Relax-Senf das Produkt, das mich in der Google Trefferliste von den unendlich vielen obskuren und zweideutig eindeutigen Treffern unterscheidet. Für meine ersten Bloggerkontakte bin ich Relax geblieben. Du hast die freie Wahl.

  53. @Relax:

    Wer sich jedoch nur auf dem Land aufhält und auf Themenfluss und Diskussionsqualität vom Land angewiesen ist, hat ein grösseren Risiko früher „kurrlig“ zu werden, bei der Wahrnehmung von Gesellschaft und der unaufhaltsam ablaufenden Veränderungsgeschwindigkeit.

    Ein wesentlicher Vorteil des Internets ist ja gerade, dass ich keinen radikalen Ortswechsel mehr vornehmen muss, um meine Weltsicht zu erweitern. Ich bin nicht mehr auf die Auswahl an Gesprächspartnern in meiner unmittelbaren Umgebung angewiesen. Und vielen anderen geht’s doch mittlerweile genauso. Sie werden ebenfalls durch ihre Teilnahme ‘am großen Gespräch’ mit Ansichten aus vielen Regionen konfrontiert. So kann ich z.B. hier mit Claudia diskutieren, ohne nach Berlin fahren zu müssen. Ist das nicht toll? ;o)

  54. Ich sehe leider nicht, worin eigentlich der Unterschied zwischen Stadt und Land nun liegen soll. Nicht allzu schnell und ohne Auto irgendwo hin zu kommen trifft doch auf uns Landpomeranzen mittlerweile ebenso zu wie auf das städtische Prekariat. Die einen hindert die Entfernung, die anderen das fehlende Geld oder die mangelhafte Wartung von Maschinen. Und das Internet und der Mobilfunk bieten sich beiden wohlfeil an.

    Die Diskussion hier fokussiert auch (wie ich sie lese) mehr die Frage, wie Einzelne an der Allgemeinheit teil haben können. Wozu sicherlich auch das Beobachten von Kaninchen und anderen Populationen gehört.

    Aber geht es dabei um Stadt versus Land? Oder um Armut und Ohnmacht versus Reichtum und Macht?

    Für mich liegt eine sehr bedeutsame Erfahrung des Lebens auf dem Lande (zugegeben, begleitet von ziemlichem Luxus und mit viel Zugang zum urbanen Leben) im bloßen Anschauen von Landschaft, die da ist. Etwas, das ich zuvor nie so erlebt habe.

    Ich habe zuvor Landschaft (Gestrüpp, Sand, Brachen usw.) als Moment meines Daseins immer nur dann erfahren, wenn es meinen Gefühlen (Angst, Einsamkeit, Verliebtheit, Eifersucht, Gier usw.) entsprach. Ich habe Landschaft konsumiert.

    Seit ich ‚auf dem Lande‘ lebe, schlich sich anderes ein. Manchmal sitze oder stehe ich irgendwo und gucke (vermutlich ziemlich blöde dabei aussehend) in die Gegend. Und sie kommt mir ganz anders vor, nämlich als etwas Eigentliches.

    Das hat nichts mit Artenvielfalt (die ich nur theoretisch wahrnehme, ich kann kein Wiesel von einem Marder unterscheiden und Vögel sehen mir fast alle gleich aus) zu tun. Ich gärtnere gerne, wie ein Kind, das Eis macht, weil es Spaß macht, der Maschine dabei zuzugucken. Ich rieche gerne Erde, die ich mit dem Spaten aufgeworfen habe, wie ich gerne Leute gucke, die durch die Stadt flannieren. Ich sehe aber darin nicht den Unterschied zwischen Stadt und Land.

    Stadt scheint mir ein lokales, vorübergehendes Phänomen zu sein. Weil Stadt nur bleibt, wenn ihre Physik gesichert ist. Ohne Strom, ohne Markt, ohne Technik wird sie schnell wieder Land. Land aber kann warten. Stadt eben nicht.

    Was also wäre das Besondere von Land? Blicke bis zum Horizont, ohne Gebäude dazwischen? Die Ahnung, daß die Erde unter mir mich nur duldet, mich aber jederzeit abschütteln könnte, wenn ein Trafo versagte, ein Relais fehl schaltete, eine Kettenreaktion außer Kontrolle geriet?

    Ich gucke oft in den Filter beim Kaffeekochen und stelle mir vor, wie sich Fluß und Meer und See bilden. Wie Landschaft entsteht und bleibt. Etwas nicht Menschliches wirkt dabei, etwa Schwerkraft. Keine Bagger, kein Dynamit, eine einfache, gelassen wirkende Kraft. Ich versuche, Gegend zu sehen, weiche, lange Linien und Flächen. Und zu riechen, wie sie ist. Das mag alberne Sentimentalität sein. Wie das Entzücken, wenn die Zwiebeln zu Blüten werden und die Stauden, mühsam überwintert und behütet, Blüten ergeben.

    Land ist mir etwas sehr Wildes und Gewaltiges. Stadt ist mir eher lächerlich. Ein Gefühl, das ich nicht gerne umdrehe, weil ich nicht weiß, was es mir bedeutet. Aber es ist eine Ahnung von einer Gewißheit, die kein grelles Licht braucht und keine regelbare Heizung und kein Taxi um die Ecke.

    Deine Frage, Claudia, war, ob die Anonymität des Stadtlebens verschwindet. Ich verstehe diese Frage nicht wirklich. In der Stadt fühlte ich mich nie anonym, sondern viel mehr her gezeigt. Jeder hatte das Recht und die Macht, mich zu beschauen. Weil Stadt ein emsiges Machen und Tun mir schien. Menschen, die sich Bedeutsamkeit zusammen rafften und einander vor zeigten, was sie geschafft hatten, sich zu nehmen. Seht her, wie ich bin! Und all das.

    Auf dem Land fühle ich mich ruhiger. Einsamer, vielleicht, aber diese Einsamkeit ist nicht schlimm. In meiner Stadtwohnung war Einsamkeit eine tödliche Gefahr. Ein Mangel. Hier ist Einsamkeit etwas Einfaches. Ich brauche keine fremde Buntheit, um dem, was ich sehe, Farbe zu verleihen. Ich brauche keinen fremden Klang, um dem, was ich höre, Melodie einzuschreiben. Vielleicht ist das dumme Gefühlsduselei, ich weiß das nicht. Aber für mich ist Pflaster nur zu ertragen, wenn ich weiß, daß darunter Strand ist.

    Kurz noch zum Internet: ich mag es, mir gefällt es, wie ein spannendes Buch. Aber viel Realität würde ich ihm nicht zumessen. All das ‚virtuelle Miteinander‘ ist für mich nichts anderes als das zufällige Miteinander einer Gruppe Feiernder, Reisender. Jeder kehrt früher oder später dennoch heim. Seufzt und sagt sich, was es doch für ein netter Abend, eine nette Reise war. Und daß der Hund noch mal raus muß und wo die Katzen nur bleiben. Und schläft dann beruhigt ein, wenn alles an seinem Platz ist.

  55. Hallo Susanne,
    das Verhalten des Gefühls der Anonymität, je nachdem ob Du in der Stadt bist (beruflich, privat?) oder nicht – wie ist das genauer zu erklären? Ich verstehe Deine Ausführungen nicht grundsätzlich. Auch tauchte Widersprüchliches auf: In Deinen Texten zeigst Du Dich sehr weit und Dir macht es nichts, wenn es zig Leute lesen „und Dir dabei ins Gesicht schauen“.
    Auf dem Land wird auch ins Gesicht geschaut – und dort schaut man i.d.R. genauer hin, meine ich. Weil man das Gesicht kennt und vielleicht wissen möchte, ob sich Veränderungen gemütsmässiger Art darin zeigen.

    Gruß
    Gerhard

  56. @Gerhard:

    Auf dem Land wird auch ins Gesicht geschaut – und dort schaut man i.d.R. genauer hin, meine ich. Weil man das Gesicht kennt und vielleicht wissen möchte, ob sich Veränderungen gemütsmässiger Art darin zeigen.

    Nein, ich denke, dieses genauere Hinschauen bei alltäglichen Begegnungen mit Menschen hat grundsätzlich erst mal nichts damit zu tun, ob man sie persönlich kennt oder nicht. Ich vermute vielmehr, dass es unwillkürlich geschieht, weil es ein Mensch ist (Artgenosse, Spiegelbild).

  57. @alle, @Susanne: Was für ein wunderbarer Text über das Erleben auf dem Land, wow!

    Ja, das kann ich voll unterschreiben und habe es ganz genau so erlebt: in den Weiten von Mecklenburg, im Blick auf die schier unendlichen Horizonte, im Wahrnehmen und auch BETROFFEN SEIN vom Wetter, das nicht mehr nur nach Gusto zur Kenntnis genommen wird, sondern dominante Umwelt darstellt, die mich beeinflusst und beeindruckt, auch wenn mir gar nicht danach ist. Das laute Heulen eines Sturms, die Gewalt, mit der er die Bäume schüttelt und neigt – nie zovor gehört und gesehen. Denn in der Stadt gehe ich ja nicht aus, wenns auch nur regnet.. zudem ist da alles Wetter sehr gedämpft durch die Häuser, die den Wind abhalten und Temperatur speichern.

    Ich verbinde Land mit Erde, Himmel, unabhängiger Natur und gewaltigem Spiel der Elemente – und von alledem bin ich ein Teil, was man in der Stadt leichter vergisst. Denn dort hat man den zivilisatorischen Komfort derart auf die Spitze getrieben, dass man „von selber“ von alledem nicht mehr viel mitbekommt. Es sein denn, man macht explizit einen „Ausflug“ oder Spaziergang zum gelegentlichen Konsum befriedeter (Park-)Landschaft und schönen Wetters.

    Gleichwohl teile ich deine Bewertung der Stadt als „lächerlich“ gar nicht. Stadt treibt andere Seiten des Menschen auf den Gipfel: das Denken, die Kultur, die Kreativität – sie lässt Gegensätze auf engstem Raum erleben und versammelt ein große Vielfalt menschlicher Seinsweisen. Penner, Banker, Verwalter, Verkäufer, Schauspieler, Künstler, Freaks, Handwerker, Studierende, zufriedene und unzufriedene Arbeitslose, Einheimische und Zugewanderte aus vielen Ländern, die wiederum ihre Kultur mitbringen und damit die Vielfalt bereichern. Dazu die „Schatz-Speicher“ mit dem kulturell Wertvollsten (Museen, Archive), die Orte des Forschens und Lernens (Universitäten, Institute, verschieden ausgerichtete Schulen), historische Gebäude / Architektur aller Zeiten, sowie jede Menge Gruppen, Initiativen, Vereine, Verbände und Parteien, die um die „öffentlichen Angelegenheiten“ ringen. Dann die Religionen, spirituelle Szenen, Sekten, Anders-Lebenden – und, na klar, auch die Shopping- und Wellness-Welten gehören zur Stadt, wobei ich die erstere weitgehend ignoriere, die letztere aber durchaus nutze.

    Das alles ist nicht lächerlich, sondern in der Gesamtheit schon schwer beeindruckend: ein riesiges Potenzial möglichen Tuns und Sich-Beteiligens, das durch sein bloßes Da-Sein und Nah-Sein das Gefühl der Freiheit vermittet: ja, ich könnte, wenn ich wollte, mich morgen neu erfinden und ganz andere Dinge tun – und definitiv auch OHNE reich zu sein!

    Dass keiner vom Anderen, den man auf der Straße oder in der U-Bahn sieht, weiß, wo er/sich sich in diesem Spektrum bewegt, ist die Anonymität der Stadt. Es liegt in meinem Belieben, sie gegenüber frei gewählten Menschen aufzuheben, mit denen ich mich „bekannt machen“ will – niemand weiß von vorne herein, dass ich in Lichtenberg einen Garten habe und mehrere Blogs im Web. Klar kann man die Namenschilder anschauen und mal den einen oder anderen „googeln“ – aber wer macht das schon ohne guten Grund? Und jenseits der physischen Adresse ist da erstmal gar nichts zu wissen…

    Wenn aber mal „alle“ z.B. bei Facebook sind und das Netz mehr mobil als stationär genutzt wird, wenn die Begeisterung fürs GEO-Targeting in Gestalt einer „Bewegungsmeldung“ sich so weiter entwickelt, dann rechne ich damit, dass die Anonymität der Stadt tendenziell den Bach runter geht. Damit meine ich nicht, dass WIR hier uns das ganz persönlich demnächst antun werden (wir sind vermutlich zu alt und zu old school), aber der gesamtgesellschaftliche Trend könnte sich durchaus SO entwickeln.
    Ob das gut oder schlecht ist, werden die Späteren wissen – vermutlich ist es beides, vor allem aber ANDERS.

  58. @all: bitte wartet mit weiteren Kommentaren einen Moment! Ich schreibe grade einen neuen Beitrag zur Fortsetzung dieses Themas – das Handling und die Wartezeiten sind unter DIESEM Artikel aufgrund der Textmassen langsam unzumutbar! (Binnen einer Stunde kann es dort dann weiter gehen – wenn Ihr mögt. :-)

  59. Hier gehts zum neuen Artikel über Stadt, Land, Netz.

    Hinweis:
    Es spricht nichts dagegen, unterm neuen Artikel auf Kommentare aus dieser Seite Bezug zu nehmen. Zitiere einfach ein kleines Stück Text, so dass man weiß, auf was du dich beziehst.

    Den Stopp hier hab ich gemacht, weil ich gefühlte Minuten brauchte, um hier noch einen Kommentar zu editieren – echt unzumutbar!