Es war schon sehr spät. doch bei diesem Film bin ich dann doch hängen geblieben: „Das Meer in mir“ erzählt die Geschichte des Ramon Sampedro, der seit 26 Jahren vom Hals abwärts gelämt ist und für sein Recht auf ein selbst bestimmtes Sterben kämpft. Mit 25 hatte er einen Badeunfall, bei dem er – abgelenkt durch den Blick auf eine schöne Frau – kopfüber in allzu flaches Wasser sprang und sich dabei das Genick brach.
Die vielen Jahre seitdem gehörte Ramon ganz offensichtlich zu den glücklicheren Schwerbehinderten: die Familie seines Bruders kümmert sich aufopferungsvoll um ihn, er bekommt viel Besuch, schreibt mit einem Stift im Mund veröffentlichungsfähige Gedichte und ist – man staunt ein wenig! – meist ziemlich gut gelaunt. Dennoch empfindet er sein komplett von Anderen abhängiges Leben als würdelos und will es beenden, wofür er dann auch eine Anwältin engagiert, die sich (ebenfalls von einer tödlichen Krankheit betroffen) auf dem Rechtsweg für sein Anliegen einsetzt.
Mit dieser Anwältin entwickelt sich gar noch eine richtige Liebesgeschichte, wobei sie nicht einmal die einzige Frau ist, von der Ramon geliebt wird. Auch Rosa, die Fabrikarbeiterin, kümmert sich rührend um ihn und bezieht durch seine Zuwendung „Kraft zum Leben“, wie sie sagt. Ramon wird insgesamt ziemlich viel geliebt, doch ändert das nichts an seinem Sterbewunsch, worüber man sich als Zuschauer dann schon manchmal wundert: er steht bzw. liegt doch so „mitten im Leben“! Warum nur will er nach 26 Jahren immer noch sterben?
Das Recht, diese Frage selbst zu entscheiden, wollen auch die meisten dieser Ramon-Liebenden ihm zunächst nicht zugestehen. Bruder und Vater empfinden den Wunsch als Undankbarkeit und fast persönlichen Angriff. Rosa gesteht ihm ihre Liebe, doch als er sagt: „Wenn du mich wirklich liebst, dann hilfst du mir“, verweigert sie das erschrocken. Der (noch) egoistische Charakter ihrer Liebe wird damit deutlich, doch am Ende ist sie es, die ihn bei sich aufnimmt, auf dass sein „Abgang“ ungestört von statten gehen kann.
Das Sterben zelebriert Ramon nach wie erwartet verlorenem Prozess vor einer Kamera. Er trinkt ein Glas mit Wasser und Zyankali und stirbt unglaubhaft schmerzfrei binnen einer halben Minute.
Wechselnde Identifikationen und ein Hinweis auf falsche Prioritäten
Richtig gut an diesem Film fand ich, dass man als Zuschauerin gezwungen ist, beide Seiten mitzufühlen: den Wunsch Ramons, seine abhängige und bewegungslose Situation zu beenden, ganz ebenso wie die Seite der liebenden Angehörigen, die nicht wollen, dass er sie verlässt. Der Streit ums Recht auf Sterbehilfe tritt dem gegenüber in den Hintergrund. Letztlich geschieht ja auch, was er will, eben ohne staatlichen Segen.
Das Schicksal Ramons hat mir überaus deutlich gemacht, dass ich den (kostenlosen!) Basisbereich des Lebens, das sinnliche Dasein, sich bewegen, riechen, hören, sehen, schmecken, berührt werden und berühren können nicht genug schätze. Das alles scheint so selbstverständlich und steht ja auch „ganz von selbst“ zur Verfügung. Und doch führe ich viele Stunden pro Tag freiwillig ein Leben, das sich von dem Ramons faktisch nur durch den Netzzugang unterscheidet: zwar sitze ich (noch!) aufrecht und muss nicht liegen, kann mir selbständig Essen und Getränke besorgen und schaffe es auch alleine aufs Klo. Dennoch sind das Unterbrechungen der „Default-Stellung“ vor dem Monitor, die ich kaum wahrnehme, solange ich im Netz meinen den Geist fesselnden Aktivitäten nachgehe. (Hätte Ramon auch mit Netzzugang sterben wollen?)
Vermutlich verhält es sich mit alledem so, dass erst der Verlust klar macht, was man einst mal „hatte“, aber gar nicht richtig schätzen konnte: Das Wunder, einfach nur da zu sein und mit allen Sinnen die Welt wahrzunehmen!
Was wäre, wenn…
Genau wie die Liebende im Film würde auch ich zunächst den Freitod eines Geliebten abwehren wollen. Dann aber, wenn ich sehe, dass er leidet und wirklich abtreten will, würde ich es akzeptieren und im Rahmen meiner Möglichkeiten auch helfen. Wenn ich mich aber nicht als Angehörige sehe, sondern als diejenige, die demnächst sterben wird (sei es als Freitod oder auf natürlichem Weg), dann erlebe ich in dieser Identifikation etwas ganz Erstaunliches: meine Liebe zu den Hinterbleibenden macht einen Quantensprung! Nicht dass ICH sie verlassen muss, tut dann am meisten weh, sondern ihr möglicherweise vorhandenes Leiden daran – überhaupt jegliches ihrer Leiden, einschließlich des Leidens an der Endlichkeit.
Der Film hat mir also viel gegeben, nämlich gezeigt, was wirklich wichtig ist – im Leben und im Sterben.
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9 Kommentare zu „Das Meer in mir: Film über das Recht auf selbstbestimmtes Sterben“.