Als Kind bekam ich genau wie meine Schwestern einen jungenhaften Kurzhaarschnitt und trug die meiste Zeit Hosen. Wir wurden von den Eltern so zugerichtet, fernab von jeglichem Kleinmädchen-Schick. Den vermisste ich allerdings auch nicht, sondern litt schwer darunter, dass ich zum Spielen im Hof nicht die neuen, angesagten „Blujeans“, sondern nur altertümliche Trainingshosen bekam – ein Elend!
Mein Vater behandelte mich eher wie einen Sohn, verlangte Mut und Kampfkraft im Umgang mit der manchmal grausamen Kinderbande (wobei ich hoffnungslos versagte) und förderte Wissen, Leistung, Intellekt. Schon vor der Einschulung hatte ich mir das Lesen und Schreiben „zusammen gereimt“, hatte immer gute Noten, las mich begeistert durch die öffentliche Bibliothek und merkte erst in der Pubertät, dass mir etwas fehlte.
Zwar war es hoch spannend, dass sich auf einmal Jungs für mich interessierten, doch hatte ich echte Schwierigkeiten, im exzessiven „wir machen jetzt auf Frau-Wettkampf“ der anderen Mädchen mitzuhalten. Binnen kürzester Zeit waren meine Klassenkameradinnen echte Koryphäen in Sachen Schminken, konnten die Marken und Produktlinien besser aufsagen als die englischen Vokabeln und besuchten in den Freistunden die Kosmetikabteilungen umliegender Kaufhäuser. Ich ging mit, weil ich dazu gehören wollte, doch langweilte ich mich zu Tode! In der Tanzstunden-Zeit mühte ich mich ab, auch ein wenig „gestylt“ zu erscheinen, für den Disko-Besuch kämpfte ich stundenlang mit dem Auftrag eines blauen „abziehbaren“ Eyeliners, der mir partout nicht in gebotener Ästhetik gelingen wollte – alles in allem eine Würgerei! Ich erkannte: mir fehlt es irgendwie an kompetenter „Weiblichkeit“.
Alles verändert sich, wenn wir es verändern
Das war damals nicht weiter schlimm, denn um uns her tobte die 68er-Kulturrevolution. Es gab andere, neue Identifikationsmöglichkeiten und alsbald machte die neue Frauenbewegung von sich reden, die das „Schmücken, um Männer aufzugeilen“ sowieso grundsätzlich ablehnte. Frau verbrannte die BHs (für mich gut, denn ich hatte mich eh nie daran gewöhnen wollen!) und althergebrachtes Rollenverhalten war nicht mehr angesagt. Sondern: SELBST ist die FRAU!!
Ich hatte sowieso nie daran geglaubt, aufgrund meines Geschlechts irgendetwas schlechter zu können oder nicht tun zu dürfen, was Männer können und dürfen. Und ich war ein wenig zu jung für die ganz große politische Ernsthaftigkeit, sondern pickte mir aus allem das heraus, was mir passend und nützlich schien. Mit der Frauenbewegung verband mich der Frust, den ich empfand, als ich bemerkte, wie geil all die Jungs im Grunde waren, die sich an mich heran machten. Wollte ich doch für meinen INTELLEKT geliebt und begehrt werden – und nicht für meine weiblichen Formen, für die ich ja gar nichts konnte! Trotzdem hatte ich früh Sex und bemühte mich, darin „gut“ zu sein, wie es der Zeitgeist verlangte. Es ging nicht um Lust (die lernte ich erst später kennen), sondern um Rebellion: wir zeigen den Alten, dass wir heute GANZ FREI sind und alles machen, was sie uns gerne verbieten würden! So mühte ich mich also ab mit meinen damaligen Kurzzeitpartnern, die sich ebenfalls schwer bemühten, den neuen Anforderungen gerecht zu werden und alles genau so zu machen, wie es in den Magazinen stand (Vorspiel!!! Klitoris-Stimulation etc. usw.). Vermutlich machen das heutige Jugendliche ähnlich, nur haben sie das krasse Vorbild der Pornofilme statt einfühlsamer Anleitungen von Oswald Kolle – muss schrecklich sein!
Endlich erwachsen und in einer eigenen Wohnung angekommen, machte ich begeistert Ernst mit dem „selbst ist die Frau“. Renovierte meine Bude von Grund auf, agierte mit Säge, Bohrmaschine, heftigen Chemikalien und Lacken. Spielte Schach in einem Verein, in dem es nur eine andere Frau (um die 70) gab, kämpfte mich ans erste Brett vor… bis alle begriffen hatten, dass auch Frau Schach kann und mich nicht mehr für die Bedienung hielten, wenn ich bei den Turnieren erschien. Dann verließ mich der Ehrgeiz, denn es gab nichts mehr zu beweisen und „tote Holzklötzchen herum schieben“ erschien mir auf einmal recht öd.
Wer bist du? Arbeite an dir!
Mittlerweile hatte die Psychotherapie-Bewegung ihre große Zeit. „Therapie-erfahren“ galt als Plus in Kontaktanzeigen und bei Bewerbungen um den freien Platz in einer WG. Ich lernte, dass ich offensichtlich „meine männliche Seite lebe“ und dass es angesagt wäre, auch den weiblichen Anteilen mehr Raum zu geben. Hm… so richtig was damit anfangen konnte ich nicht. Sollte ich meinen Verstand (auf den ich doch so stolz war) etwa herunter dimmen, hübsche Kleidchen tragen und spät, aber doch noch das „weibliche Styling“ erlernen? Wenn ich verliebt war, nahm ich durchaus mal ein paar Kilo ab und kleidete mich ein wenig aufreizender – aber das hielt immer nur ein paar Wochen oder Monate an. Und das „Gefühlige“?? Himmel, mein Verstand erschien mir doch gerade als das Bollwerk, das mich vor allen Einbrüchen und Schwachheiten gut schützen konnte. Warum das freiwillig abbauen?
Man lernt nicht durch Gehörtes und Gelesenes, sondern begreift die eigenen Unvollständigkeiten meist allein durch das Leben. Durch das Scheitern, genauer gesagt. Ende 30 erlebte ich den Burnout meines ersten Lebensentwurfs, kündigte dem inneren Sklaventreiber und lernte die zweite Hälfte des Himmels kennen: geschehen lassen statt streben und kämpfen, auf die eigenen Gefühle achten und sie auch mal an die erste Stelle setzen, Schwachheiten zugeben und nicht gleich bemänteln und bekämpfen, auf Andere hören, zuhören, um Hilfe bitten können, statt immer alles allein schaffen zu wollen. Die eigenen „Schattenseiten“ anschauen und akzeptieren, nicht mehr ignorieren, sondern ihnen sogar Raum im Leben geben. Mein eigenes So-Sein von Augenblick zu Augenblick als gegeben annehmen, genauso wie das Wetter – anstatt fortwährend die tolle Person sein zu wollen und für den „den guten Eindruck“ und die Ausweitung persönlicher Macht zu leben.
In dieser Entwicklung erkannte ich irgendwann, dass ich jetzt meine weibliche Seite integrierte. Die auch etwas mit meiner Mutter zu tun hat: Sie liebte mich für mein bloßes Dasein, war aber „weltlich“ (=dem Vater gegenüber) machtlos, wofür ich sie stellenweise verachtete. Weil sie mir nicht helfen konnte gegen das Erziehungsversagen meines Vaters, der für mich die „Terrorperson“ in Kindheit und Jugend gewesen war. Der mir dennoch erfolgreich das Leistungsdenken eingepflanzt hatte, das mich Liebe und Zuwendung um meiner selbst willen nicht wahrnehmen ließ. Sondern immer nur die Anerkennung aufgrund von Leistung und Machtgewinn.
Neue Irritationen
Um die 40 bekam meine nun eigentlich „komplette“ Sicht auf das Thema Geschlechtsrollen nochmal einen weiteren Impuls: eine lesbische Kollegin, mit der ich in einem Projekt zwei Jahre zusammen arbeitete, hörte sich meine Geschichte an und fragte: Was bewegt dich dazu, deine intellektuellen Fähigkeiten, deine geistige Klarheit und deine Power, hier mehrere Arbeitsgruppen zu leiten, als „deine männliche Seite“ anzusehen? Du bist doch durch und durch weiblich und packst das ganz locker: Warum ordnest du ein paar wunderbare Aspekte des Menschseins dem Männlichen zu? Bloß weil man das kulturell so tradiert?
Sie war in keiner Weise kämpferisch oder verbissen und was sie sagte, leuchtete mir unmittelbar ein! Ich hattte immer schon Männer jeden Alters kennen gelernt, die eher das traditionell „Weibliche“ lebten – und ebenso eine Menge Frauen, die durch Eigenschaften glänzten, die man dem „Männlichen“ zuordnet. Warum also tun wir immer noch so, als sei das alles in Stein gemeiselt und sehen immer noch „männliche“ bzw. „weibliche“ Seinsweisen – obwohl das lange schon nicht mehr so zutrifft? Selbst viele „Girlies“ zelebrieren ihre Koketterie doch eher spielerisch, quasi als mutwilliges Rollenspiel auf dem Hintergrund einer fortgeschrittenen Unabhängigkeit von Geschlechtsrollen, von der ihre Großmütter nur träumen konnten?
Susanne fasste die alten, aus dem analogen Denken stammenden Zuordnungen im vorigen Kommentargespräch (zur Monogamie) so zusammen:
Männlich – das ist die nüchterne Analyse, mit kantigem Kinn in den Raum gestellt, damit es jeder sieht.
Weiblich – das ist die augenzwinkernd vorgebrachte Beobachtung, und dabei rasch den Rocksaum zurecht gezupft, bevor es einer sieht.Männlich – das ist sich extrem zum Affen zu machen und gerade deswegen für seinen Mut und seine exorbitante, gedankliche Schärfe bewundert zu werden.
Weiblich – das ist sich schrecklich ungeschickt zu geben, wenn du was Dummes oder vielleicht doch Schlaues sagst, und dabei auszusehen, als würde es sich dennoch lohnen, dich flach zu legen.Männlich – das ist das Wort Substanz.
Weiblich – das ist das Wort Form.
Und weiblich ist der Mond, männlich die Sonne. Frauen können nicht einparken und Männer hören nicht zu. Männlich ist der Geist und weiblich das Gefühl. Natur, Erde und die Nacht sind weiblich, wogegen Technik, Himmel und Tag dem Männlichen zugeordnet werden.
Wem nützt es – und wenn ja, wie?
Haben wir heute noch irgend einen echten Nutzen von dieser Denkungsart? Wir leben im Zeitalter der Wissenschaft und die zeigt uns immer wieder, dass die Unterschiede zwischen den Geschlechtern lange nicht so drastisch sind: ein wenig mehr räumliches Vorstellungsvermögen hier, etwas mehr Sprachkompetenz da – und beide Geschlechter können das jeweils Andere locker „nach-trainieren“.
„Als Frau“ fühle ich mich vor allem in der erotischen Begegnung mit einem Mann. Ansonsten bin ich in der Selbstwahrnehmung einfach nur „ich“: ein Konglomerat aus verschiedensten, mal mehr mal weniger in den Vordergrund tretenden menschlichen Eigenschaften und Kompetenzen. Warum sollte ich die nach Geschlecht auseinander sortieren, obwohl sie doch allesamt IN MIR existieren?
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20 Kommentare zu „Geschlecht und Geschlechtsrolle: weiblich, männlich, menschlich?“.