Wellen der Empörung über das Urteil im Prozess gegen den Massenmörder Breivik ergießen sich in die Kommentarspalten der Großmedien. 21 Jahre Haft plus Sicherungsverwahrung sind vielen nicht genug, noch mehr finden es ärgerlich, dass der Angeklagte nicht für unzurechnungsfähig erklärt wurde. Der sei doch ganz offensichtlich geisteskrank, angesichts dessen, was er verbrochen, verlautbart und bis heute nicht bereut hat.
Ein Leser namens NewHuman schrieb dazu unter einem Artikel mit dem vorwurfsvollen Titel „Das Urteil, das er wollte“ (SPIEGEL ONLINE) folgenden beeindruckenden Kommentar:
Aufgehobene Mitmenschlichkeit. Gedanken zur Ursache.
NewHuman heute, 15:49 Uhr
Oft beeinträchtigt eine seelische Störung auch den Geisteszustand, was die Zurechnungsfähigkeit entsprechend einschränkt. Aber im Einzelfall können geistige Funktionen (vorausschauende und selbsteinsichtige Handlungsplanung) auch trotz einer schweren seelischen Störung (Verlust jeglicher Mitleidensfähigkeit) gut funktionieren. Das ist bei Breivik offensichtlich der Fall. Und im Grunde ist diese Kombination auch die Basis für alle kaltblütig geplanten Morde. Nach dieser Interpretation wäre er zwar geistig zurechnungsfähig (er ist sich über die Konsequenzen voll bewußt), aber seelisch nicht (er empfindet keine Schuld und keine Reue). Das Spezifische an der Tat Breiviks ist seine politische Ideologie, die die Ursache für die eigenen Existenz- und Statusängste auf die zugewanderten Moslems und die politischen Unterstützer dieser Zuwanderung projiziert. Sie lenkt den über Existenz- und Statusängste aufgebauten latenten Hass auf eine vermeintlich schuldige Gruppe von Menschen. Die politische Ideologie stellt eine Kanalisierung von latentem Hass dar, ist meines Erachtens jedoch nicht ursächlich für die offen ausgeführten Gewalttaten. Bei einem Einzeltäter muss wie oben beschrieben eine schwere seelische Störung hinzukommen, die die normalerweise starke Hemmung der Verletzung und Tötung anderer Menschen aufhebt. „
Und jetzt der Passus, den ich gerne weltweit plakatieren lassen würde:
Will man Taten wie diese verhindern, reicht es nicht aus, extremistische Ideologien zu bekämpfen. Man muss man sich vor allem ernsthaft darüber Gedanken machen, welche Faktoren bei Individuen zu einem solchen Verlust der Mitleidensfähigkeit führen können, dass kein Schuldempfinden mehr auftritt, wenn sie andere Menschen verletzten. Im weitesten Sinne geht es dabei um die Pflege der Mitmenschlichkeit und des gegenseitigen Respektes und Vertrauens in der gesamten Gesellschaft.“
Leider kann ich „NewHuman“ aufgrund seiner Anonymität nicht wegen des Zitats fragen. Ich bringe es trotzdem, in der Hoffnung, dass ihn die Verbreitung eher freut. Rechtlich gesehen ist es ja durchaus erlaubt, zu zitieren. Allerdings nur im Rahmen „einer eigenen geistigen Auseinandersetzung“ mit dem zitierten Inhalt – und das fällt mir grade schwer, denn ich möchte eigentlich nur applaudieren.
Der letzte Satz ist wunderbar, allerdings dürfte es bei dessen Konkretisierung schon gleich problematisch werden, sich zu einigen: Hat denn auch noch ein Breivik Anspruch auf Mitmenschlichkeit? Und: Sollen wir Menschen respektieren, die sich nach unserem Verständnis vom richtigen Leben völlig abseitig verhalten? Vom Vertrauen gar nicht zu reden…
Was ist los?
Apropos richtiges Leben: ist mein Eindruck, dass eine wachsende Zahl Mitmenschen in den letzten Jahren zunehmend barbarischer wird, Folge meiner exzessiven Netz-Lektüre – oder ist das auch in der „ganzen Wirklichkeit“ so?
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3 Kommentare zu „Krank an der Seele, nicht geisteskrank“.