Wo Menschen zusammen kommen, gibt es nicht nur gemeinsame, sondern auch individuelle, oft widerstreitende Interessen. Trotzdem hat das „Streiten“ einen schlechten Ruf. Man fürchtet den Streit, denn allzu schnell hat man sich gegenseitig verletzt, ohne es zu wollen. Streiten widerspricht der Harmonie, die man sich in nahen Beziehungen wünscht, doch ist das zwanghafte Vermeiden jeglicher Auseinandersetzung auch keine Lösung. Es ist unwahrhaftig, unauthentisch und man wird sich innerlich einsam fühlen, wenn man – warum auch immer – nicht wagt, für die eigenen Interessen offen einzutreten.
Jenseits des Alltags
Banal aber wahr erscheint mir der Grundsatz: Je mehr Alltagsnähe, desto größer das Streitpotenzial. Nicht zuletzt deshalb sind heutzutage „Fernbeziehungen“ übers Netz so verbreitet, die im wesentlichen vom Austausch von Texten leben. Mit den direkten emotionalen Reaktionen des Gegenübers ist man dabei nicht „in Echtzeit“ konfrontiert, sondern kann jede Botschaft und jede Antwort gut überlegen. Es gibt viel Raum für wortreiche Erklärungen des eigenen So-Seins, die das Gegenüber wiederum als Zeichen großer „Nähe“ auffassen kann. Zudem projiziert man unweigerlich alles Gute und Ersehnte aufs Gegenüber, so lange da nichts kommt, was der geliebten Illusion widerspricht. Immer wieder lese ich in anderen Blogs, wie tief und nahe und berührend solche Beziehungen erlebt werden und selbst erlebt hab‘ ich das natürlich auch. Allerdings wurde mir dann doch irgendwann klar, dass es sich hier mehr um „gelebte Literatur“ als geliebte Realität handelt – aber das ist eine andere Geschichte.
Ich erwähne sie, weil die „virtuelle Beziehung“ eine pseudo-Nähe vermittelt, die nur einen Ausschnitt unserer Selbst und des jeweiligen Gegenübers ausmacht. Es ist leicht, Konflikte zu vermeiden, denn man stößt ja nicht im Alltag auf die anderen Interessen und Verhaltensweisen des Partners. Anders, wenn die Beziehung eine „reale“ wird, wobei das zusammen Wohnen wohl die schärftste Form konfliktgeneigten Miteinanders ist, die man wählen kann. Gleichwohl gilt das als der Normalfall, was ich im Fall der Familiengründung auch verstehe. Da braucht es das „gemeinsame Nest“ für die Kinder, die als großes gemeinsames Projekt ganz anders verbinden als eine ganz normale Liebe mit mehr oder weniger Romantik.
Will man aber keine Familie oder hat das schon hinter sich, frag ich mich manchmal, warum sich die Menschen das mit dem Zusammenwohnen antun. Meine eigenen Erfahrungen haben mir gezeigt, dass ich gut daran tue, mit dem Liebsten NICHT Tisch und Bett, Küche und Bad zu teilen. Zu krass sind die Anpassungserfordernisse, die ein gedeihliches Miteinander ermöglichen – mal abgesehen vom seltenen Fall großen Reichtums, dank dessen man sich z.B. ein weitläufiges Schloss teilt, wo jeder seinen eigenen Wohntrakt hat, mit separatem Eingang. :-)
Streiten tut weh, nicht streiten auch
In jungen Jahren waren meine Zusammenwohn-Versuche äußerst problematisch: Durch die Alltagsnähe verschwand bei mir alsbald das erotische Verlangen, was schon allein ein großes Konfliktpotenzial bot. Der unterschwellige Dissens, der sich daraus ergab, führte zu Streitigkeiten über Kleinigkeiten und bezüglich des Mega-Themas zu durchwachten Nächten mit heftigem Streit, Tränen und endlosem, einer Besserung nicht wirklich förderlichem „drüber reden“.
Mit 40plus hatte ich diese Art Beziehungswirrwar erstmal hinter mir und konnte zehn Jahre friedlich mit einem Mann zusammen leben, der mir noch heute lieber Freund und Wahlverwandter ist. Das klappte allerdings nur, weil Erotik nicht das Verbindenden zwischen uns war und wir uns – jeder für sich – bis an die Grenze des Möglichen zurücknahmen. Offener Streit war undenkbar, weshalb unser Miteinander mehr und mehr zu einem oberflächlich harmonischen, aber auch unlebendigen, gleichförmigen Leben geriet. Irgendwann war mir das zu wenig, ich hatte Affären, unter denen er litt, und wir beschlossen, auseinander zu ziehen.
Seit Anfang 2003 wohne ich also wieder alleine und will das auch nicht mehr ändern. Mein jetziger Liebster wohnt 15 Fußminuten von mir, eine optimale Nähe bzw. Ferne! Was wir zusammen erleben wollen, machen wir zusammen, ansonsten macht jeder seins. An sich eine super Situation, um sämtliche möglichen Streitanlässe weiträumig auszulassen, doch entgeht man den Grundtatsachen des Lebens auf Dauer nicht, sofern man noch bereit ist, sich zu entwickeln.
Nun doch: gemeinsamer Alltag mit Konfliktpotenzial
2006 fiel uns ganz unerwartet ein Garten zu, der allerdings derart perfekt als „wilder Garten“ angelegt war, dass sich gar keine Gelegenheit bot, über seine Gestaltung und Pflege aneinander zu geraten. Anders im neuen Garten, den wir nach Verlust dieses kleinen Paradieses suchten und fanden. Hier war quasi „Tabula rasa“, kahle Erde mit hässlichen Beton-Einfassungen – wir wollten und mussten alles ändern, um wieder in die Nähe eines „wilden Gartens“ zu kommen, wie er uns gefällt.
Tja, da hatten wir ihn nun doch: den gemeinsamen Alltag mit tausend Anlässen, anderer Meinung zu sein als der Partner. Da wir um unsere mangelnde Streitkultur wussten, pflegten wir zunächst lange die Haltung „ignoranter Hingabe“: Sowohl er als auch ich betonten immer wieder, dass wir bereit seien, alles so zu machen, wie der Partner es wünscht – basierend auf dem gemeinsamen Wunsch nach einem möglichst „naturnahen“ Garten.
So richtig voran kommt man mit dieser Art der Konfliktvermeidung allerdings nicht, wie wir bald bemerkten. Alles lassen, worüber keine Einigkeit besteht, ODER sich aufraffen, „den Hut aufzusetzen“ und nach je eigenem Gutdünken zu werkeln: beides war nicht wirklich befriedigend. Und so begannen wir, bei unseren Rundgängen durch den Garten jede Ecke zu besprechen. Frisch fröhlich verkündete ich, was aus meiner Sicht im Argen lag und anders werden sollte. Er verstand das zu meiner Verwunderung dann schon mal als Kritik, dass er das noch nicht längst so gestaltet hatte, oder auch als fertigen Arbeitsauftrag, den ich ihm bzw. uns zumuten wollte. Dabei war ich doch erstmal nur dabei, meine Gedanken zu teilen, um im Austausch mit seinen Ideen zu einem Konsens zu kommen!
Konstruktiv streiten
Anfänglich verliefen diese Gespräche sehr sperrig, doch nach und nach wurden wir besser. Ich konnte Missstimmungen und aus meiner Sicht „falsche Reaktionen“ sehr viel besser ertragen und ausgleichen als in früheren Lebensjahren. Humor, Offenheit, keine „Weiterungen“ der strittigen Themen auf andere Aspekte der Beziehung übertragen – das sind die mir zugewachsenen Fähigkeiten, die es ermöglichten, nach und nach auch konstruktiv zu streiten. Und er versteht meine Änderungswünsche heute erstmal nur als Vorschlag und hat kein Problem mehr damit, seine Sicht der Dinge dagegen zu stellen. Im Garten kommen wir jetzt gut voran! :-)
Das zu erreichen, hat schlappe vier Jahre gedauert. Ich kann also nicht behaupten, ein leuchtendes Beispiel in Sachen „Streitkultur“ zu sein! Was ich durchweg bei allen Gelegenheiten, in allen Beziehungen und bei allen Themen mit Streitpotenzial mittlerweile beachte, ist das „von mir sprechen“: Meine Gedanken und Gefühle kann mir niemand absprechen und übel nehmen – anders als wenn ich sie verallgemeinere und Aussagen über das Gegenüber, den Partner, „die Frauen“ oder „die Männer“ mache, was quasi immer irgend jemanden verletzt.
Ein weiterer Tipp für konstruktive Auseinandersetzungen ist, beim Thema und in der Gegenwart zu bleiben. Nichts ärgert mehr als Bemerkungen wie „Du kannst ja nicht anders, du bist ja immer schnell dabei, SO zu reagieren“ und andere Vorhaltungen, die auf ein angebliches „So-Sein“ des Gegenübers hinweisen. Ja, es gibt die Vergangenheit, aber wir haben alle die Möglichkeit, hier und jetzt anders zu handeln. Dies dem Partner abzusprechen ist fast so schlimm wie ein gewalttätiger Übergriff. Und weit weg von aller Liebe.
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23 Kommentare zu „Von der Streitkultur in Beziehungen“.