Eine ZEN-Geschichte:
“Ein Mann ruderte an einem sehr nebligen Morgen sein Boot stromaufwärts. Plötzlich sah er ein anderes Boot stromabwärts kommen, das keine Anstalten machte auszuweichen. Es kam ihm genau entgegen. Er rief: `Vorsicht! Vorsicht!´, aber das Boot fuhr genau in seins hinein, das fast sank. Der Mann war außer sich und begann die andere Person anzuschrein, ihr gehörig die Meinung zu sagen. Aber als er genau hinschaute, sah er, daß in dem anderen Boot überhaupt niemand war. Es stellte sich heraus, daß das Boot sich gelöst hatte und stromabwärts trieb. All sein Ärger schwand, und er lachte und lachte.”
(Thich Nhat Hahn: Innerer Friede – Äußerer Friede – via Abraxandria)
Diese kleine Erzählung soll uns die Erkenntnis vermitteln, dass es nicht das Geschehen selbst ist, das Gefühle wie Wut, Ärger und schlimmstenfalls Hass entstehen lässt, sondern die Annahme, da sei jemand, der uns das Geschehen absichtsvoll zumutet, warum auch immer.
Üblicherweise wird die Geschichte genutzt, um zu einer Haltung zu kommen, die auch im anderen Menschen das „leere Bot“ erkennt: Jeder tut ja in jedem Moment genau das, was aus der je individuellen Historie heraus als das Machbare und Erforderliche erscheint. Zwar kann man oft tun, was man will, aber nicht bestimmen, was man wollen soll. So gesehen bin ich nie „persönlich gemeint“, wenn irgend jemand mich (vermeintlich oder tatsächlich) angreift oder missachtet – er kann ja nicht anders, weiß es nicht besser, ist gefangen in seinem beschränkten So-Sein, das keine Alternative kennt.
Es ist sehr entspannend, zu dieser Sicht der Dinge zu kommen! Heute will ich die Lehre vom „leeren Boot“ aber mal in einen anderen Kontext stellen:
Die Geschichte der Neuzeit lässt sich lesen als zunehmende Befreiung des Individuums von althergebrachten Zwängen, Abhängigkeiten und einschränkenden Traditionen. Aus der Stände-Gesellschaft wurde die Bürgerliche, der funktionale Rechts- und Sozialstaat trat an die Stelle von Adel, König und Kirche. Wo wir von konkreten Mitmenschen und deren Wohl- oder Übel-wollen abhängig waren, ersetzten wir diese oft leidvoll erlebten Abhängigkeiten durch abstrakte, allgemeingültige Systeme, die uns mit dem versorgen, was wir nach wie vor brauchen. Heute haben wir gesetzlich gesicherte Ansprüche und sind nicht mehr vom Wohlverhalten in Clan und Familie abhängig. Welch eine Befreiung! Sogar das Paar als die kleinste Einheit menschlichen Zusammenseins basiert (in der Regel) nicht mehr auf alternativlosen wirtschaftlichen Notwendigkeiten, sondern gründet allein in Gefühl und Gefallen, in der freien, jederzeit kündbaren Entscheidung des Individuums.
Endlich frei?
Heute sind wir nun soweit, dass wir uns den möglicherweise nervigen Mitmenschen weitgehend vom Hals halten können, wenn wir das wollen. Als Webworkerin, die über das Netz arbeitet, sehe ich praktisch nur noch Leute, mit denen ich mich aus freiem Willen verabrede. Zwar gehe ich noch ins Lädchen oder in den Supermarkt, um Waren des täglichen Bedarfs zu besorgen, doch selbst die könnte ich mir bringen lassen, wenn mir das zu stressig wäre. Wen es dann doch noch ab und zu nach einem „Bad in der Menge“ gelüstet, dem bietet die Event-Kultur alles Nötige in 1000 Varianten: folgenloses, unverbindliches Miteinander bzw. Nebeneinander für ein paar Stunden. (Ich persönlich präferiere die öffentliche Sauna zur Befriedigung meines Affenfelsen-Bedarfs).
Soviel Freiheit war nie, einerseits. Den Mitmenschen haben wir entmachtet, uns dafür aber massiv in die Abhängigkeit von Systemen und Geräten begeben. Gestern hab‘ ich das mal wieder schmerzlich bemerkt, als auf einmal „mein Internet kaputt“ war. Abgeschnitten von allem, was meine Arbeit, meine Versorgung, meine Ökonomie und den Großteil meiner täglichen Kommunikation ausmacht, fühlte ich mich wie ein Fisch auf dem Trockenen: zurück geworfen auf meine physische Existenz, die allerdings auch in Gefahr geriete, würde „das System“ mal allgemein versagen und nicht nur bei mir. Die paar Freunde, die ich im Nahraum erreichen könnte, wären in genau derselben, komplett machtlosen Situation. Die Tatsache, dass wir einander nicht brauchen, sondern nur mögen, zeigt hier ihre Rückseite: wir könnten uns gegenseitig auch nicht retten.
Warum haben wir das alles so kommen lassen? Weil es viel angenehmer ist, von einem „leeren Boot“ abhängig zu sein als von einem Menschen oder Menschengruppen. Unsere Computer, das Internet, das Rechts- und Sozialsystem: Sie alle funktionieren mittels Algorithmen: Wenn dieses vorliegt, folgt jenes – seelenlos, berechenbar, ohne Ansehen der Person (vom Missbrauch und den Unvollkommenheiten sehe ich jetzt mal ab). Da ist niemand, der uns etwas absichtsvoll antut oder zumutet. Wir sind von „leeren Booten“ umgeben und fühlen uns damit viel besser und freier als in den alten Abhängigkeiten von konkreten Personen. Gleichzeitig sind wir unfreier und abhängiger denn je – von unseren Geräten und Systemen, ohne deren Funktionieren wir nicht mehr leben können.
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26 Kommentare zu „Verführt vom „leeren Boot“: Zur Abhängigkeit von Menschen, Systemen und Geräten“.