Bewundernswert, wie Thinkabout es schafft, täglich etwas zu schreiben – und gar nicht langweilig, oft inspirierend, mindestens nachdenklich stimmend. Im heutigen Blogpost geht es um das veränderte Verhalten beim Bahn-fahren. Kaum jemand schaut mehr aus dem Fenster, fast alle gucken auf ihr Smartphone. Thinkabout nicht:
„Wir lassen es stecken und schauen aus dem Fenster, der Landschaft nach oder entgegen, die an uns vorbei streicht. Wir sehen immer wieder Menschen, stellen uns Geschichten vor, sehen sie gehen, arbeiten, schwatzen, wohnen, wie in einem farbigen Stummfilm bahnt sich der Zug seinen Weg durch tausende Leben. So viel, was selbst Ungeübte sehen können – aber unmöglich verarbeiten. Eine kurze Bahnfahrt reicht, um uns so viel reales Erleben zu vermitteln, wie wir auf unseren Screens in einem ganzen Tag nicht erlebt bekommen.“
Ich fühle mich ertappt, auch ohne Smartphone. Gehöre ich doch zu jenen, die im Zug lieber ein Buch oder eine Zeitung lesen anstatt mich viel für die Umwelt zu interessieren. Warum? Weil das gelobte „reale Leben“ da draußen nichts mit mir zu tun hat. Erst am Ziel, am Ort, wohin ich unterwegs bin, findet mein persönliches Leben seine Fortsetzung. Der Weg dahin erscheint mir vornehmlich als Zwangspause, die ich gerne mit Medienkonsum fülle – allerdings eher mit solchen Medien, die ich zuhause am Bildschirm nicht konsumiere.
Geschichten stelle ich mir nur selten vor, nur dann, wenn wirklich etwas Spektakuläres passiert: ein heftiger Streit, ein Besoffener, der laute Reden hält, aber sowas war und ist ja eher selten. Normalerweise denke ich mir beim Blick auf fremde Mitreisende höchstens mal: Sie alle sind für sich genauso der Mittelpunkt der Welt wie ich für mich. Wie seltsam!
Thinkabout weiter:
Das Leben im Smartphone schwurbelt sich in Aufregungen hoch, die so künstlich sind, dass sie in sich zusammen fallen, kaum lässt man das Gerät sinken. Es vorbei streichen zu lassen, ist nicht so dramatisch wie der verpasste Ausblick aus dem Fenster. Dabei könnten wir einfach mal nichts tun und schauen. Betrachten. Gedanken ziehen lassen und willkommen heissen. Uns selbst nachhängen statt der Nachricht, die womöglich so wenig von uns handelt oder nicht wirklich nach uns fragt.
„Mir selbst nachhängen“ in meditativer Versunkenheit ist für mich eine Praxis des Sommerhalbjahrs. Im Garten, wenn der Körper durch leichte Arbeit entspannt ist, liege ich gerne im Liegestuhl, blinzle in die Sonne und beobachte den Atem, das Summen der Insekten, die kommenden und gehenden Gedanken, die jedoch immer weniger werden. Das ist ungemein erholend und doch etwas ganz anderes als der – oft gelangweilte – Blick aus einem Zugfenster oder auf irgendwelche Mitreisenden.
Ja, da versage ich angesichts des viel zitierten Spruchs „der Weg ist das Ziel“. Beamen würde ich jederzeit vorziehen.
„Leben findet statt. Vor dem Fenster. Auch vor dem Screen?…. Ich lebe mein Leben nicht, und das, was war oder hätte sein können, ist endgültig verloren.“
Ein deprimierendes Fazit. Aber stimmt das? Was hätte denn sein können, wenn ich meine Mitreisenden mit größerem Interesse betrachtet hätte? Wenn ich mich über die agrarischen Monokulturen oder die unterschiedlich vermüllten Stadtlandschaften da draußen aufregte, anstatt über die aktuelle Krisenlage im Euro-Raum oder die neuesten Angriffe auf Menschenrechte, Meinungsfreiheit, informationelle Selbstbestimmung? Hätte das mehr mit mir zu tun, mehr mit „richtigem Leben“?
Besinnungen dieser Art gehen allesamt vom großen Unterschied zwischen „realem Leben“ und medial vermitteltem Leben aus. Das große Projekt, dass derzeit betrieben wird, ist allerdings das vollständige Zusammenwachsen dieser Ebenen. Einen – zugegeben noch futuristischen – Ausblick, wie das Erleben als Individuum bald sein könnte, zeigt das Video Sight.
Ist das einmal umgesetzt, werden diese Menschen der Zukunft gar nicht mehr verstehen, über was wir uns hier Gedanken gemacht haben. Denn das „Gedanken machen“ ist dann auch schon ausgelagert. Und wird vielleicht gar nicht vermisst.
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22 Kommentare zu „Lebst du noch oder liest du nur?“.