Claudia am 13. März 2013 —

Lebst du noch oder liest du nur?

Bewundernswert, wie Thinkabout es schafft, täglich etwas zu schreiben – und gar nicht langweilig, oft inspirierend, mindestens nachdenklich stimmend. Im heutigen Blogpost geht es um das veränderte Verhalten beim Bahn-fahren. Kaum jemand schaut mehr aus dem Fenster, fast alle gucken auf ihr Smartphone. Thinkabout nicht:

„Wir lassen es stecken und schauen aus dem Fenster, der Landschaft nach oder entgegen, die an uns vorbei streicht. Wir sehen immer wieder Menschen, stellen uns Geschichten vor, sehen sie gehen, arbeiten, schwatzen, wohnen, wie in einem farbigen Stummfilm bahnt sich der Zug seinen Weg durch tausende Leben. So viel, was selbst Ungeübte sehen können – aber unmöglich verarbeiten. Eine kurze Bahnfahrt reicht, um uns so viel reales Erleben zu vermitteln, wie wir auf unseren Screens in einem ganzen Tag nicht erlebt bekommen.“


Ich fühle mich ertappt, auch ohne Smartphone. Gehöre ich doch zu jenen, die im Zug lieber ein Buch oder eine Zeitung lesen anstatt mich viel für die Umwelt zu interessieren. Warum? Weil das gelobte „reale Leben“ da draußen nichts mit mir zu tun hat. Erst am Ziel, am Ort, wohin ich unterwegs bin, findet mein persönliches Leben seine Fortsetzung. Der Weg dahin erscheint mir vornehmlich als Zwangspause, die ich gerne mit Medienkonsum fülle – allerdings eher mit solchen Medien, die ich zuhause am Bildschirm nicht konsumiere.

Geschichten stelle ich mir nur selten vor, nur dann, wenn wirklich etwas Spektakuläres passiert: ein heftiger Streit, ein Besoffener, der laute Reden hält, aber sowas war und ist ja eher selten. Normalerweise denke ich mir beim Blick auf fremde Mitreisende höchstens mal: Sie alle sind für sich genauso der Mittelpunkt der Welt wie ich für mich. Wie seltsam!

Thinkabout weiter:

Das Leben im Smartphone schwurbelt sich in Aufregungen hoch, die so künstlich sind, dass sie in sich zusammen fallen, kaum lässt man das Gerät sinken. Es vorbei streichen zu lassen, ist nicht so dramatisch wie der verpasste Ausblick aus dem Fenster. Dabei könnten wir einfach mal nichts tun und schauen. Betrachten. Gedanken ziehen lassen und willkommen heissen. Uns selbst nachhängen statt der Nachricht, die womöglich so wenig von uns handelt oder nicht wirklich nach uns fragt.

„Mir selbst nachhängen“ in meditativer Versunkenheit ist für mich eine Praxis des Sommerhalbjahrs. Im Garten, wenn der Körper durch leichte Arbeit entspannt ist, liege ich gerne im Liegestuhl, blinzle in die Sonne und beobachte den Atem, das Summen der Insekten, die kommenden und gehenden Gedanken, die jedoch immer weniger werden. Das ist ungemein erholend und doch etwas ganz anderes als der – oft gelangweilte – Blick aus einem Zugfenster oder auf irgendwelche Mitreisenden.

Ja, da versage ich angesichts des viel zitierten Spruchs „der Weg ist das Ziel“. Beamen würde ich jederzeit vorziehen.

„Leben findet statt. Vor dem Fenster. Auch vor dem Screen?…. Ich lebe mein Leben nicht, und das, was war oder hätte sein können, ist endgültig verloren.“

Ein deprimierendes Fazit. Aber stimmt das? Was hätte denn sein können, wenn ich meine Mitreisenden mit größerem Interesse betrachtet hätte? Wenn ich mich über die agrarischen Monokulturen oder die unterschiedlich vermüllten Stadtlandschaften da draußen aufregte, anstatt über die aktuelle Krisenlage im Euro-Raum oder die neuesten Angriffe auf Menschenrechte, Meinungsfreiheit, informationelle Selbstbestimmung? Hätte das mehr mit mir zu tun, mehr mit „richtigem Leben“?

Besinnungen dieser Art gehen allesamt vom großen Unterschied zwischen „realem Leben“ und medial vermitteltem Leben aus. Das große Projekt, dass derzeit betrieben wird, ist allerdings das vollständige Zusammenwachsen dieser Ebenen. Einen – zugegeben noch futuristischen – Ausblick, wie das Erleben als Individuum bald sein könnte, zeigt das Video Sight.

Ist das einmal umgesetzt, werden diese Menschen der Zukunft gar nicht mehr verstehen, über was wir uns hier Gedanken gemacht haben. Denn das „Gedanken machen“ ist dann auch schon ausgelagert. Und wird vielleicht gar nicht vermisst.

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Diskussion

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22 Kommentare zu „Lebst du noch oder liest du nur?“.

  1. „Das Erwachen ist nicht mehr aufzuhalten.“

    Indem Zusammenhang des Beitrages: Toll ! Damals wurde noch anders geschrieben.

    Gefunden, @Claudia, nach deinem Beitrag „14 Jahre Digital Diary“. Erinnerst du dich noch an diesen Artikel?

    Insgesamt:
    Ich habe schon den Eindruck, dass sich viel Gedanken gemacht werden. Sie sind vielleicht nicht mehr so hochliterarisch verpackt, aber inhaltlich wird m.E. schon nach dem „Sein“ und der „Zukunft“ gefragt. Mehr – als vielleicht früher und – auf breiter Ebene. Auch intensiver.

    Oder täusche ich mich da?

    So ätzend ich selbst die Smartphone`s finde und fest davon überzeugt bin, dass eines Tages die Kinder auf die Welt kommen und schon ein Smartphone dabei in der Hand halten :) – so gigantisch haben sie mich auch in ihren Diensten untersützt, seitdem ich selbst Nutzer bin ( seit 3 Monaten. Das sind echte Arbeitsmaschinen)

    Vielleicht Claudia ist es aber auch eine Frage, was können/müssen wir Älteren (sorry :)) tun, um in diesen neuen Strömungen als aktiver Mitgestalter teilnehmen zu können.

  2. Liebe Claudia,
    das Fazit, das Thinkabout zog, ist richtig für ihn. Für andere auch – es gilt in ähnlicher Weise auch für mich.
    Er hätte es als „persönliches “ Fazit betiteln müssen, dann wäre es korrekt gewesen.
    Was er meinte (so denke ich), ist, daß dem unmittelbaren Erleben immer weniger Raum eingeräumt wird. Das Sehen und Schauen, das Fühlen und Nachfühlen, all das erscheint als Tand, als wertlos. Wertvoll dagegen ist der Screen und das, was auf ihm angeboten wird.
    Das Video übrigens war erschreckend für mich – vorgefertigte Erlebnis-Bilder und totale Abhängigkeit vom Funktionieren der Technik.
    Thinkabouts Artikel erinnerte mich an so manche lang zurückliegenden Bahnfahrten, die ich nachwievor im Kern in mir trage.

  3. Mein Schluss ist kein Fazit. Sondern schlicht die laufend und immer gültige Schlussfolgerung: Wenn ich nicht da bin, kann ich nichts erleben. Ist es nicht geradezu paradox?: Reisende informieren sich, was andernorts geschieht…
    Hinzu kommt: Meine Mitreisenden kann ich jetzt betrachten, die Screenbotschaft auch später. Mein Leben würde reicher, würde ich wirklich aufnehmen, was mir das örtliche Jetzt bietet. Ich würde gleichsam das, was ich über die Screens vielleicht tatsächlich gelernt habe, anwenden, mit Leben füllen, mit ihm „TATSÄCHLICH ERLEBTES JETZT“ deuten, mich durch Erfahrungen in meinem Denken korrigieren lassen. Mit eigenen Erfahrungen, nota bene….

  4. Seid herzlich bedankt für Eure Resonanzen!!

    Ja, im Grunde hätte ich auch so einen Artikel wie Thinkabout mit derselben Schlussfolgerung (und Mahnung) schreiben können. Vermutlich habe ich ihn sogar geschrieben, gefühlte 10 mal in den letzten 14 Jahren, hier und anderswo.

    Da reizt es mich dann einfach, die andere Seite zu betrachten: WARUM bleiben solche Anwandlungen meist nur „philosophische Seufzer“? Ernst gemeint, aber nicht Teil der persönlichen Praxis. bzw. höchstens „punktuell“, so mit der Erlebnis-Erwartung: jetzt zeig mal, reales Leben, was du zu bieten hast! :-)

    Tatsächlich aber „übe“ ich so etwas z.B. in einem Zug höchstens ein paar Minuten. Dann hab‘ ich „alles gesehen“ und greife doch zur Zeitung. Dass es kein Smartphone ist, liegt daran, dass ich dann das Gefühl der „Auszeit“ verlieren würde, wogegen statische Medien für mich mittlerweile als Ausnahme-Erlebnis taugen.

  5. früher war es nicht das smartphone, sondern das buch oder der walkman. der hintergrund immer das gleiche: wenn du jeden tag mit den öffis fährst, kennst du das geschehen draußen schon und hast eher den wunsch, dich in eine unsichtbare blase zurückzuziehen, um dich vor dem übermaß mitmensch, das da in den vollen nahverkehrsmitteln unweigerlich in deinen eigentlich „unberührbaren“ nahbereich eindringt, auszublenden – ähnlich wie im voll besetzten aufzug, wo man blickkontakt instinktiv vermeidet. wenn zwischendrin was sehenswertes ist, sehe ich auch hin – aber das meiste von dem, was ich zu sehen und hören bekomme, blende ich lieber aus, aus gutem grund.

    macht man dieses ausblenden und abschotten nicht, zieht die aufgedrängte präsenz der anderen (incl. gerüchen und geräuschen) einfach zuviel energie. das ist ein reiner schutzreflex. wenn man irgendwo auf urlaub ist und z. b. eine sightseeingtour macht oder mit einer museumsbahn fährt, stellt man sich sofort um und saugt die landschaft in sich auf. dann ist es was ganz anderes.

  6. also, ich stelle fest: in halb vollen Zügen sind trotzdem alle smartphones im Betrieb…

  7. @limone: stimmt, in Sizilien hab ich im Bus nicht gelesen, sondern den Ätna und das Meer und auch die furchtbar versifften Vorstadtlandschaften bestaunt!

  8. Ich bedauere die Menschen, die in einen Zug, eine S-Bahn oder Straßenbahn einsteigen und gleich ein Handy usw. rausholen und sich damit beschäftigen. Die wenigsten Passagiere „erledigen“ etwas, sie vertreiben sich nur die Zeit mit einem Ding, aber nicht mit der Gegenwart, die an ihnen draußen vorbeizieht. auch wenn es immer das Gleiche Bild ist. Ist es aber nicht, die 4 Jahreszeiten zeigen immer etwas Neues oder auch anderes.
    Ich hatte mal eine Tätigkeit, die mit viel Streß (Menschen, Geld usw.) zu tun hatte. Die Heimfahrt dauerte manchmal 2 Stunden mit U-Bahn, S-Bahn, Bus. Aber wenn ich dann zu Hause ankam, war alles vorbei und meine Familie bekam die vorherigen Anstrengungen gar nicht mit, einfach nur aus dem Fenster sehen kann sehr erholsam sein.
    Und mein Mitgefühl mit Menschen, die sich über die Hektik des Alltags beklagen, aber selbst mitmachen, hält sich in Grenzen.

  9. Da laesst sich das reale Leben nicht lange bitten. Es hat was zu bieten, immerzu.
    Was wir machen, ist Flucht…wir ziehen kuenstliches Leben vor. Schon vor 40 Jahren war das Thema, quasi als Vorrausschau: Ich erinnere mich hierbei an den Film „Silent running“, in dem der Hauptakteur sich dem natuerlichen Leben „verpflichtet“ fuehlte, waehrend die anderen Akteure auf Zeitvertreib und Vergnuegungen auch technischer Art aus waren. Kennt jemand den Film?

  10. Ja, über das allgemeine Handy-Starren und Wischen in öffentlichen Verkehrsmitteln hab ich auch schon oft gespottet. Und im Artikel berichtet, dass ich auf Reisen mit Zeitungen auch nicht „besser“ bin, wenn ich auch eine S-Bahn-Fahrt in Berlin noch ganz ohne Hang zum Medium überstehe. Dafür ist der Blick auf die Stadt und die Verschiedenheit der Mitfahrenden dann doch zu abwechslungsreich und interessant. (Aber ich fahre auch nicht oft und nie jeden Tag diesselbe Strecke.)

    Ich möchte dem genauer nachspüren, was der Grund für dieses Verhalten ist. Selber empfinde ich auf längeren Reisen Langeweile, wenn ich nichts lese. Mehr kann ich da aus eigenem Erleben nicht beitragen. Interessant ist auch, warum das Verhalten teilweise negativ bewertet wird (von Älteren? Die es für sich nicht mehr adaptieren können?).

    Und dann ist da eben noch der immer wieder kehrende Hinweis aufs „reale Leben“, das (noch) vielfach als einzig echtes, richtiges Leben betrachtet wird. Wogegen das medial vermittelte Leben nur Unterhaltung, Ablenkung, unecht und was noch alles sei.

    Thinkabout:

    „Wenn ich nicht da bin, kann ich nichts erleben.“

    Helen:

    „Die wenigsten Passagiere “erledigen” etwas, sie vertreiben sich nur die Zeit“

    Gerhard:

    „Was wir machen, ist Flucht…wir ziehen kuenstliches Leben vor.“

    Für mich wird zunehmend fraglich, ob diese alte Bewertung der Lage noch gerecht wird.

    Zum „erleben“: Ganz sicher ERLEBE ich auch etwas, wenn ich z.B. hier mit Euch ein Gespräch führe, obwohl wir nicht zusammen irgendwo physisch „da“ sind. Ich bin mit Gedanken und Gefühlen involviert, nur der Körper sitzt auf dem Stuhl und muss sich nicht groß bewegen.

    Eigentlich weiß jeder, dass man auch „medial vermittelt“ sogar Heftiges ERLEBEN kann: Ärger über Angriffe, glückliche Gefühle der Übereinstimmung und ein Hauch von Gemeinschaft, Entsetzen bei manchen Nachrichten, Trauer, Wut, Sehnsucht, Überdruss, Genervtheit, Freude – alles ist drin. Und nicht etwa „unecht“ oder „künstlich“, weil „nur“ medial angestoßen!

    So gesehen kann man das Handy-Tum im öffentlichen Raum auch als ein Verlangen nach „MEHR erleben“ verstehen: die reale Umwelt bietet nicht genug Reize, die aufs persönliche Leben zu beziehen sind – also greift man zum Handy und klinkt sich so in die EIGENEN Bezüge ein.

    Helens Bemerkung geht für mich in Richtung: Nur „Hard Working“ ist akzeptabel, alles andere ist „Zeit totschlagen“. Wenn also jemand der Firma Bescheid gibt, dass man sich verspätet, ist das Handy ok. Schaut man aber nur, was für neue Tweets zum Hashtag #aufschrei gekommen sind, ist das bloße Ablenkung, bzw. FLUCHT, wie Gerhard meint.

    FLUCHT? Ist es nicht einfach nur WAHL? Und ist es nicht schön, die Freiheit der Wahl zu haben, worauf ich gerade fokussiere? Wir können von Glück sagen, nicht in Gegenden wie Aleppo zu leben, wo man fortwährend die Umgebung im Auge haben muss, weil die Gefahr besteht, erschossen zu werden!

    Ich kann nicht erkennen, WAS die Leute mit ihrem Handy gerade machen. Das kann „Unterhaltung“ sein, aber auch Kommunikation, Information, Arbeit. Von daher belächle ich meine eigene spontan negative Bewertung ein wenig – es ist ja durchaus möglich, dass mir das nur schräg vorkommt, weil ICH es nicht mache…

    Was ich wirklich unangenehm finde, sind Handy-Ablenkungen WÄHREND realer Kommunikation. Leute, die alle drei Minuten auf ihr Gerät gucken oder auf Klingeln und Vibrieren reagieren, sind tatsächlich nicht wirklich BEI MIR. Das nervt und solche „Gespräche“ meide ich bzw. meide dann auch solche Menschen, wo es geht.

  11. Ich hab mich auch schon öfter gefragt, @Claudia, wo meine Antipathie herrührt, die ich beim Betrachten dieser Szenerien in Tram und Bahn habe. Dein Kommentar schiebt da etwas in mir an.

    Worüber ich etwas erstaunt war:
    Als ich vor gut zwei Jahren in Lyon gearbeitet habe und dort in Straßencafe`s saß, war es für alle am Tisch sitzenden Jugendlichen o.k., dass jeder beim klingen an sein Handy geht und „sehr geduldig“ und ohne „erkennbaren Missmut“ wartet, bis der Gegenüber sein Gespräch in aller Ruhe und Ausführlichkeit beendet hat.

    Mir ist das nicht gegeben, aber irgendwie bewundert habe ich diese Ruhe schon, die die Jugendlichen dabei an den Tag legten.

  12. @thinkabout: stimmt. aber früher war es dann die zeitung oder ein buch, heute nimmt man die gleichen inhalte (news oder unterhaltung) nur über ein anderes gerät auf. wenn ich z. b. meine twitter-timeline lese, dann mache ich das, weil das teil meiner tagesaufgaben ist und ich ich zuhause für was anderes zeit haben will. die zeit, die mir zur verfügung steht, ist endlich. und wenn ich mir mit zeitunglesen oder dem elektronischen äquivalent ein bild davon verschaffen will, was in der welt (und in meiner virtuellen „nachbarschaft“, die mir ein bisschen vertraute umgebung liefert inmitten lauter fremder menschen) los ist, muss ich zwangsläufig auf was anderes verzichten. und das wird dann in der regel der blick nach draußen sein, außer das draußen hat was spannenderes oder wichtigeres zu bieten. da mir das netz ohnehin zwangspausen aufdrängt, weil es zwischendrin immer mal wieder wegbricht und mir einen leeren screen beschert, scanne ich dann auch immer mal die umgebung – um meist festzustellen, dass ich nichts verpasst habe.

    ich denke, es kommt auch dazu, dass die zeit, die man in diesem öffentlichen verkehrsmittel verbringt, meist nicht freiwillig dort verbracht wird, sondern aufgrund der notwendigkeit, die schule oder arbeitsstätte zu besuchen. vielleicht ist der griff zum smartphone, e-reader oder buch dann auch der wunsch, diesen fremdbestimmten weg selbstbestimmt zu gestalten. denn das, was am fenster an mir vorbeizieht, kann ich ja auch nicht beeinflussen. (nebenbeobachtung: wenn ich autofahre, bekomme ich viel mehr von meiner umgebung mit, zwangsweise, weil ich ja raussehen muss als fahrer, fühle mich aber auch besser damit, weil ich buchstäblich am steuer sitze.)

    und dann muss ich noch an sherlock holmes denken, der das gehirn mit einem dachboden verglich, dessen fassungsvermögen endlich ist und der sich daher nur auf ausgewählte informationen beschränkte und nur diese in diesen „speicher“ hineinräumte, um sein gehirn nicht mit unnötigem zu belasten. das unnötige können dann auch die gespräche um mich herum sein, die ich durch die beschäftigung mit der eigenen welt (repräsentiert durch das smartphone oder den e-reader, in dem ich vielleicht gerade in für meine ausbildung relevanten unterlagen lese) dann ausblende. es ist unglaublich, wie hartnäckig sich manchmal irrelevante informationen festsetzen können (beispiel: ohrwurm) und die konzentration auf das, was gerade wichtiger ist (z. b. die anstehende prüfung) trüben können.

    wenn ich dann abschalten will, tue ich das lieber gezielt und gehe eine halbe stunde zu einer nahegelegenen blumenwiese spazieren – wieder das stichwort autonomie. selbst steuern, wann ich was tue.

    und wenn dann die s-bahn wegen einer störung stehenbleibt und der jungen frau, die gegenüber steht, schlecht wird, werden sofort mindestens drei menschen aufmerksam, bieten ihr einen platz, wasser und was zu essen an, auch wenn sie vorher in was anderes vertieft waren. solange das passiert, mache ich mir immer noch wenig sorgen.

    was ich hingegen wirklich irritierend finde, ist, wenn z. b. auf barcamps, wo ich eigentlich freiwillig und selbstbestimmt hinkomme, um gleichgesinnte kennenzulernen, alles in sein smartphone starrt, statt mit dem gegenüber am tisch zu reden. das verstehe ich dann nicht. vielleicht kann mich da jemand über den sinn aufklären.

  13. Jeder beschäftigt sich mit seinem Handy usw. aus verschiedenen Gründen. Ich akzeptiere alle Gründe, die hier ausgeführt und beschrieben sind. Wenn ich aus dem Fenster sehe, kann es passieren, daß ich die Umgebung und die Bilder draußen gar nicht bewußt wahrnehme. Ich sehe etwas, aber ich denke dabei an nichts. Und wenn mir das dann bewußt wird, kann es durchaus passieren, daß Ärger, Streß, Gekränktsein, schon nicht mehr so hart empfunden wird, es hat meine Seele erleichtert. So geht es mir, das betone ich hier. Warum das so ist, kann ich nicht sagen. Ich bin kein Arzt oder Psychiater. Wenn ich dann aussteige, kann es passieren, daß ich die Welt umarmen könnte, und daß alles/vieles nicht so heiß gegessen wird wie es gekocht ist.

    Und Menschen, die sich über ihren großen Streß beklagen, müssen eben auch versuchen, etwas von sich selbst zu verlangen. Daß das nicht einfach ist, kann ich bei mir selbst sehen. Jeden Abend nach 8.00 Uhr sitze ich hier am Computer, das weiß auch meine Familie, ich könnte es also auch lassen. Aber ich surfe weiter. Verrückt ist das schon.

  14. @Claudia –
    Deine Beispiele in Ehren – wahrscheinlich geht es mir darum, dass die Menschen mit BeugeGenickStarre in dieser Weise, wo sie sich auch befinden, das gleiche tun. Die Gegend darum herum ist austauschbar, und diese Aussage finde ich selbst für den Pendler beklemmend.

    @limone
    was mir ein wenig fehlt, ist die Bemerkung, dass ich vor dem Blick in den Twitter-Feed-Strang auch nicht weiss, dass ich justament da auch nichts verpassen würde, liesse ich es weg. Wie viel Aufmerksamkeit von uns im Netz ist wegdenken und -clicken von Leerlauf? Derweil huscht die Landschaft vorbei, die ich vielleicht einfach verlernt habe, wahrzunehmen. Was du hingegen mit dem selektiven bewussten E-Reading ansprichst, kann ich gut nachvollziehen: Ich habe als Student im Zug sogar sehr gut gelernt, so bald ich diese Glocke schaffen konnte, in der ich als Fahrgast glitt und meine Gedanken gleichsam gebündelt in einem Stream bei einem Thema blieben.

  15. @thinkabout: Naja, für mich ersetzt Twitter die Zeitung. Ich weiß schon gern, worüber meine Kollegen den Tag über dann reden, was die Netzgemeinde bewegt oder was im Bekanntenkreis los ist. Das „weiße Rauschen“ überfliege ich, den Stream scanne ich auf Wesentliches und setze mir mit Favoritensternchen Lesezeichen für die Artikel, die ich später mit „vollwertiger“ Netzverbindung in Ruhe lesen will. Oder ich prüfe via S-Bahn-App mit Echtzeitverbindungsanzeige, ob sich bei der übernächsten Station das Rennen treppauf-treppab zum Nachbargleis lohnt, um den Anschlusszug zu kriegen – und sehe, dass der junge Mann schräg gegenüber das gleiche tut. Den halb vergammelten Weihnachtsmann mit seinen Rentieren und Schlitten auf der Garage draußen, der da sicher schon vor Jahren vergessen wurde, kriege ich trotzdem mit und bedaure dann, dass ich ihn nicht fotografieren und euch zeigen kann, weil die Bahn sich dafür zu schnell bewegt.

    Auch der Fensterplatz ist freilich oft Luxus. Und, was noch nicht erwähnt wurde: der Blick in ein Medium (ob nun Smartphone, Buch oder Zeitschrift) entlastet oft auch die Mitfahrenden, weil sie sich nicht angestarrt fühlen, wenn man die Umgebung beobachtet. (Geht mir übrigens genauso, ich fühle mich auch entlastet, wenn ich den Eindruck habe, dass meine Mitreisenden mit sich selbst beschäftigt sind. Ist aber sicher auch eine Mentalitätsfrage.)

    @Helen: Zustimmung.

  16. @Claudia, Du schriebst: „Für mich wird zunehmend fraglich, ob diese alte Bewertung der Lage noch gerecht wird. „.
    Ich würde hier nur ein Beispiel anführen, das für alles andere als Maßstab dienen kann: Es ist etwas anderes, etwa einen Berg selbst zu besteigen als dies virtuell zu tun. Das Virtuelle kann das simulieren, aber nicht in allen Aspekten. Und ich denke auch, daß unser pähistorischer Organismus genau diese direkten stofflichen Anregungen braucht, damit all seine Sinne weiterhin funktionieren und „die Seele gut gesättigt“ wird.

  17. Als häufige Nutzerin des ÖPNV (jeweils um 50 Minuten Bahnfahrt je Strecke) und bei Kontakten mit Jüngeren (unter 20 Jahre) beobachte ich (ohne Anspruch auf statistische Signifikanz meiner intuitiven Vergleiche) eher das Gegenteil dessen, was hier halb dräuend, halb hoffnungsvoll und halb gelassen konstatierend beschrieben wird. Meiner Ansicht nach ist nämlich der peak einer ‚Virtualisierung‘ des Alltags bereits erreicht und vielleicht sogar schon überschritten.

    In der Bahn höre ich inzwischen wieder häufiger richtige, laute Unterhaltungen direkt von Mensch zu Mensch, während in sich gekehrt ins mobphone zu starren oder aufs netbook zu gucken wieder mehr zum Symbol oder Begleitumstand eines Außenseitertums wird. Was unter anderem den wenig sympathischen, aber einsichtigen Grund hat, daß unter (vor allem besser gestellten) Jugendlichen offenbar klar differenziert wird zwischen unmäßiger, hirnamputierter Nutzung von Telefonen und Computern durch ‚Assis‘ und sinnvoller, intelligenter Nutzung durch die eigene Person und peer group. Wobei eine gewisse Zurückhaltung und Distanz offenbar immer ‚cooler‘ wird und nerds, die auf jeden Zug aufspringen, Hauptsache er klingt nach etwas, das nur sie selbst begreifen können, als ‚loser‘ angesehen werden.

    Der Umgang mit Telefon, Spielekonsolen und Internet, den ich unter Jugendlichen mit mindestens Mittelschichthintergrund sehe, tendiert meiner Ansicht nach (wieder mehr) zu einer kalkulierten Nutzung statt Faszination oder Verdammung. Geräte und Vernetzung scheinen nicht (mehr) die Bedeutung für das sich entwickelnde Ego zu haben, wie es für frühere Generationen womöglich der Fall war, die jede Neuerung von Microsoft oder Apple wie die Ankunft des Messias beklatschten. Ich nehme an, dies passiert vor allem, weil der Wunsch nach Differenzierung, nach Exklusivität und natürlich damit auch der nach Privilegiertheit einer zu eifrigen Netzaffinität offenbar den Glanz der dazu passenden Besonderheit nicht mehr zuerkennt, nachdem diese sich allgemein, d.h. vor allem in ältere Kohorten und sozial ‚verachtete‘ Schichten, verbreitet hat.

    Ich kann natürlich nur schwer beurteilen, ob das ein stabiler Trend ist oder nur einigen zufälligen Beobachtungen und einem gewissen middle-class bias meines sozialen Umfeldes geschuldet ist, halte aber eine solche Entwicklung auch ohne empirischen Beleg für durchaus erwartbar, da ich in solchen Verhaltenskomplexen wie social networking dort kein Mittel elitärer Reproduktion sehe, wo es durch sozial und ökonomisch Unterprivilegierte ausgeübt wird. Hier ist es eher ein Mittel der (Selbst-)Domestizierung (wie etwa Starkulte in Film, Musik und Sport), das, einmal angestoßen, als ein Selbstläufer seine fans an die lange Leine nimmt und eine Menge an sonst problematischen Emotionen sozialverträglich bindet und obendrein noch viele Geschäftsmodelle entstehen läßt.

    Ich finde @Gerhards Beispiel in diesem Zusammenhang sehr passend, wenn ich ihm auch nicht zustimme. Ich denke, es gibt bereits oder wird bald Geräte geben, die das Bergsteigen und andere Abenteuer auf eine Weise simulieren, die sowohl psychisch wie physisch dem ‚echten‘ Erlebnis nicht mehr nachstehen, sondern es sogar übertrumpfen, an grandioser Kulisse, an thrill der action und an Abwechslung der locations.

    Da z.B. absehbar ist, daß in einigen Jahrzehnten das Herumfliegen immer größere Menschenmassen quer über den Globus sich nicht mehr rechnen wird und wohl auch die ‚Paradiese‘, zu denen sie gekarrt werden könnten, immer mehr den ‚Höllen‘ ähneln werden, in denen sie ansonsten leben, sind virtuelle Formen der Befriedigung nicht weg zu schaffender Bedürfnisse (Bewegung, Sex, Ruhe, Abenteuer usw.) ein sich anbietender Ausweg, wie er in der Geschichte immer wieder vorkam, etwa in der Form institutionalisierter Religionen mit einem jenseitigen Heilsversprechen oder als Massenunterhaltung per Medien wie Buch, Film oder Fernsehen.

    Ich sehe das zentrale Problem einer solche Virtualisierung der Welt nicht in der Tatsache des (für meinen Geschmack sicherlich wenig erfreulichen) Ersatzes von Handgreiflichkeit durch Hirnrissigkeit (um es einmal etwas polemisch auszudrücken), sondern darin, ob und wie und von wem diese Virtualisierung kontrolliert wird, da sie materiale Geräte und Ressourcen, ständige physische Wartung und Reproduktion benötigt, und was das für die Entwicklung der Gesellschaft(en) bedeuten wird.

    Nicht daß Menschen irgendwann in einem vorwiegend virtuellen Haus leben werden, stört mich, sondern daß dieses Haus womöglich Leuten gehört, deren Interessen mir absolut zuwider sind und die alle Wohnungen darin nur zu Wucherpreisen vermieten werden. Und daß es offenbar teuflisch schwierig ist, den Finger auf dieses Thema, seine vielen Details und langfristigen Konsequenzen zu legen, ohne als selbstbestimmtes Individuum aus Frustration irgendwann zu resignieren oder sich wegen der Komplexität der Sache in die psychischen Abgründe vereinfachender Weltverschwörungsängste zu verlieren.

    Wogegen vielleicht ein gutes Ballerspiel hilft. Oder eine Tasse Tee.

  18. @Susanne: danke für diese Beschreibung!
    Meine Beobachtung heute ging in eine ähnliche Richtung, als ich sensibilisiert durch die Diskussion hier ein bisschen näher hingesehen und hingehört habe auf der täglichen ÖPNV-Tour. In unmittelbarer Nachbarschaft vier junge Männer (maximal 20), die zwar alle ein Smartphone in der Hand hatten und nutzten, gleichzeitig aber ganz locker f2f kommunizierten, unter Einbindung dessen, was sie gerade an Infos und Nachrichten von Freunden aus dem Smartphone zogen.

    Dazu noch ein Gedanke zur Beobachtung von @Menachem in Lyon: Vielleicht ist es bei diesen Jugendlichen schon so, dass körperlich anwesende und „virtuell“ anwesende Gesprächsteilnehmer gleichwertig behandelt werden. Ähnlich wie in Firmen-Meetings, wo ein paar Teilnehmer über Telefon (alternativ: Videokonferenz) eingeklinkt sind und genauso Redezeit haben und ins Meeting eingebunden sind wie die körperlich Anwesenden.

  19. @Susanne: danke für deine Beobachtungen, das ist ja wirklich interessant! Ich fahre nicht so oft mit dem ÖPNV als dass ich da Entwicklungen bemerken könnte.

    @Gerhard: “ Es ist etwas anderes, etwa einen Berg selbst zu besteigen als dies virtuell zu tun. Das Virtuelle kann das simulieren, aber nicht in allen Aspekten.“

    Wie Susanne denke ich, dass da das Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht ist! Hast du das im Artikel am Ende verlinkte Video „Sight“ angesehen? Es beginnt mit einer Skydiving-Simulation, der natürlich noch allerlei sinnliche Dimensionen fehlen, doch REICHT das so vermutlich der Masse möglicher Nutzer durchaus! Und die vorhandenen Kletterwände in den Städten kann man sich auch gut „virtuell expandiert“ vorstellen. Da fehlt dann nur die Todesgefahr, was vermutlich eher ein PLUS in Sachen Massenkompatibilität ist.

    Ich wette fast, eines Tages kriegen sie das „Holo-Deck“ noch hin!

  20. @Claudia, wie ich oben schrieb, hatte ich mir das Video angesehen. Und wie es auf mich wirkte, kannst Du Dir ja denken…
    Was @Susanne bemerkte, kann ich so in etwa bestätigen: In einem Cafe‘ in Straßburg unterhielten sich Freundinnen erst lange face to face, um dann in ihre Geräte abzutauchen und sich ihre Findungen ohne je aufzublicken zu erzählen. Erquickend fand ich das nicht. Vielleicht verhält es sich aber ähnlich wie von einem Kunst-Kurs her geschildert, in dem man sich lang und breit über das gestrige Fernsehen unterhielt anstelle sich in die Tätigkeiten zu vertiefen, weswegen man eigentlich da war.

  21. […] Lebst du noch oder liest du nur? […]

  22. Ich bin gerade wieder nach Europa zurueckgezogen nach einem Jahr in China gelebt zu haben. Und da ich noch immer auf meinen neuen Handyvertrag warte, habe ich im Moment kein Internet. Und obwohl ich es anfangs als sehr störend empfand um „sinnlos“ in Bahn und Bus herumsitzen zu mussen, finde ich es mittlerweile als sehr inspirierend und entspannend um die Leute um mich hin zu beobachten und ab und zu mit ihnen zu plaudern. Oft hat man die interessantesten Gespraeche!