Wie immer wieder berichtet wird, fällen viele Wahlberechtigte ihre Wahlentscheidung erst ganz kurz vor der Wahl – oder sogar erst im Wahllokal. Ob sie allerdings dort überhaupt ankommen, hängt nicht allein von den politischen Überzeugungen ab, sondern auch vom Wetter. „Regen schadet Steinbrück“ schreibt Johannes Pennekamp im Wirtschaftsblog der FAZ:
Forscher in den Niederlanden haben erkannt, dass in den zurückliegenden 40 Jahren die Sozialdemokraten bei schlechtem Wetter im Schnitt mehr Stimmen verloren haben als die Christdemokraten.
SPD?
Zumindest in Berlin soll es morgen NICHT regnen, doch werde ich die SPD auch bei strahlendem Sonnenschein nicht wählen. Das liegt nicht am Kandidaten, den fand ich damals an Merkels Seite gar nicht so schlecht. Sondern wegen ihrer inneren Gespaltenheit (Agenda-Gegner versus Befürworter) und ihres im Zweifel durchweg „staatstragenden“ Abstimmungsverhaltens entgegen eigener Bedenken (Euro/Bankenrettungen etc.). Auf keinen Fall zusammen mit der LINKEN gegen Schwarz/Gelb angehen zu wollen, halte ich für historisch bedingtes (Lafontaine!) trotziges Kindergarten-Verhalten. Und dass sie auch noch das absurde Leistungsschutzrecht im Bundesrat durchgewunken haben, obwohl sie das herbei-lobbiierte Springer-Gesetz angeblich ablehnen, macht sie für mich als Netz-Affine nochmal extra unwählbar.
CDU?
Zur CDU hab‘ ich anders als in jungen Jahren kein grundsätzlich feindseliges Verhältnis mehr. „Für Euch Alternative ist der Weg zur CDU kürzer als der zur SPD“ sagte mir Anfang der 80ger ein SPD-Genosse, als ich für kurze Zeit in die „Alternative Liste“ eingetreten war. Mich hat das empört, denn CDUler waren für uns die Bösen, die Etablierten, die Stockkonservativen, mit denen man besser gar nicht erst redet. Im Lauf der Jahrzehnte hat sich diese meine Sicht der Dinge entspannt – und heute haben wir ja eine „interaktive Kanzlerin“, die locker Positionen der Opposition übernimmt, wenn es opportun erscheint. Sie zu wählen liegt mir nach wie vor ferne, doch würde ich heute eine schwarz-grüne Koalition nicht mehr als Verrat und Katastrophe ansehen. Käme halt drauf an, was man rausverhandelt. Die Energiewende käme vermutlich besser voran.
FDP?
Die hab ich tatsächlich mal gewählt: 1972 als unpolitische Erstwählerin auf den Rat meiner Mutter. Die meinte, es brauche diese kleine Partei „zum Ausgleich“, damit die SPD eine Mehrheit habe und nicht allein herrsche. Seitdem bin ich nie wieder auf diese Idee gekommen, obwohl ich seit 1997 als Selbständige eigentlich zur Zielgruppe gehören sollte. Doch die FDP unterstützt nicht Selbständigkeit, sondern ihr jeweiliges Klientel (Hoteliers z.B.). Ihre Politik in der schwarz-gelben Koalition legt den vielen Neugründungen, Einzelinitiativen und Startups rund ums Internet extra noch Steine in den Weg – und für eine Unterstützung der Selbständigkeit aus der Arbeitslosigkeit heraus hat sie sich noch nie interessiert.
DIE GRÜNEN?
Sie sind DIE Partei meiner Generation, die viele wichtige Anliegen erfolgreich auf die Agenda gesetzt hat, die in den Parlamenten zuvor kein Gehör fanden. Jahrzehnte lang stritten und wühlten sie rund um die Themen Atomkraft, Umwelt, Geschlechtergerechtigkeit – und mich hatten sie als Stammwählerin nahezu sicher. Auch heute noch gehört ihnen meine Sympathie: ohne GRÜNE gäbe es keine Energiewende und OB es diese geben wird, hängt auch davon ab, dass es DIE GRÜNEN noch lange als starke Kraft im Bundestag gibt. Ihre Ehrlichkeit in Sachen Steuererhöhung gefällt mir, wogegen ich die Versprechen von CDU/FDP für verlogen halte. Denn wer anstatt Steuern zu erhöhen jährlich viele Milliarden neue Schulden aufnimmt (auch 2013, dem steuerlich ergiebigsten Jahr aller Zeiten), jede Menge teure Wahlversprechen macht und von alledem, was in Sachen Euro-Rettung nach der Wahl ansteht, nur ablenkt, ist für mich unglaubwürdig.
Die WischiWaschi-Haltung der GRÜNEN in Sachen Leistungsschutzrecht war gleichwohl sehr kritikwürdig. Immerhin haben sie mittlerweile gute Positionen in der Netzpolitik – das Auftauchen und die Ersterfolge der PIRATEN haben ihnen da gewiss den fehlenden Schwung verliehen.
Was ich bei der „Umweltpartei“ zunehmend vermisse, ist mehr Herz für den klassischen Naturschutz. Der gerät nämlich komplett unter die Räder der – viel zu wenig dezentral geplanten – Energiewende und findet bei den GRÜNEN offenbar keine Unterstützung mehr.
Dennoch sind die GRÜNEN für mich immer noch wählbar. Insbesondere angesichts der Schlammschlacht, die unter dem Stichwort „Pädophilie und GRÜNE“ punktgenau in die Wochen des Wahlkampfs platziert und genüsslich breit getreten wurde, könnte ich sie morgen glatt aus Trotz wieder wählen! (Zum Thema selbst werde ich nach der Wahl mal einen Beitrag schreiben. Vorab empfehle ich dieses hochkarätige Webgespräch).
DIE LINKE?
Etwa zehn Minuten hab‘ ich gestern per PHOENIX Gysi zugehört, der eine tolle Rede zum Abschluss des Wahlkampfs gehalten hat. Fast alles, was er fordert, könnte ich unterschreiben. Er prangert die sozialen Folgen der Agenda 2010 an wie kein Anderer und untermauert alles mit nachprüfbaren Zahlen. Ein Mindestlohn von 10 Euro (mit dem man grade mal die Grundsicherungrente erreicht!), weitgehende Abschaffung und Erschwehrung der Leiharbeit, der Mini-Jobs, des „Aufstockertums“ und des endlosen Praktikanten-Daseins vieler junger Menschen. Alles wunderbare und berechtigte Forderungen. Nur: Wer will, soll oder kann das bezahlen? Gerade Gysi müsste doch wissen, dass „das Kapital flüchtig ist“… Schließlich kann man keine Mauer um Deutschland bauen… also wähle ich die LINKE nicht, wünsche sie mir aber mit vielen Sitzen im Bundestag. Als Stachel im Fleisch der anderen Parteien.
DIE PARTEI ?
Das Stichwort „Mauer“ lässt mich das Statement zur „PARTEI“ vorziehen, denn in Punkt 6 ihres Wahlprogramms steht:
„Die PARTEI fordert den Bau einer Mauer um Deutschland herum. Die Mauer ist unsere Absage an Globalisierung, weitere Europäisierung und unkontrollierbare Finanzströme.“
Ja, genau! Da macht mal jemand Nägel mit Köpfen! Auch die anderen Forderungen sind recht lustig, jede auf andere Art satirisch-kritisch: „Die PARTEI fordert nach wie vor eine Begrenzung von Managergehältern auf das 25.000-fache eines Arbeiterlohns: Kein deutscher Manager ist mehr als 25.000-mal wertvoller als ein beliebiger Arbeiter.“
DIE PARTEI ist eine richtig gute Spaßpartei, ein Projekt des Satire-Magazins Titanic, wie man aus der Beschreibung der Köpfe leicht erkennen kann. Sie zu wählen käme mir nicht in den Sinn, denn eine Bundestagswahl ist für mich eine ernsthafte Sache, die man nicht mit Gelächter abtun sollte. Schade, dass viele, gefühlt weit links stehende junge Menschen sie tatsächlich wählen. Aber wann, wenn nicht in jungen Jahren, hätte man nicht alles Recht zur Unvernunft?
DIE PIRATEN?
Wer des öfteren hier mitliest weiß, dass ich schon längere Zeit mit dieser neuen, recht jugendlichen Partei sympathisiere. In Berlin hab‘ ich sie ins Abgeordnetenhaus gewählt. Dort arbeiten sie richtig gut und nutzen ihre Möglichkeiten, um diverse Bürgeranliegen voran zu bringen, die bei den anderen Parteien kaum Gehör finden. Ihr konsequentes Eintreten für Transparenz und Teilhabe ist genau das, was unserem System der Parteienherrschaft fehlt. Insofern kann man mit Recht fragen, ob die PIRATEN nicht besser Bewegung geblieben wären anstatt sich in den Niederungen der Partei-Werdung aufzureiben. Allerdings werden „Bewegungen“ hierzulande eben erst richtig ernst genommen, wenn sie Partei werden und den anderen Stimmen abnehmen.
Das Chaos, die „Selbstzerfleischung“, die Twitter-Shitstorms, die wilden Parteitage, das Ringen um das richtige Verständnis von „Basisdemokratie“ – all das mindert meine Sympathie nicht, ganz im Gegenteil hab‘ ich recht oft Déjà-vu-Erlebnisse: genau SO war es oft auch in den Anfängen der „Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz“. Nur gab es damals noch kein Internet, keine wirkliche Transparenz und keine Möglichkeit für die Presse, jeden Schlagabtausch, jeden Streit und jede irre Mindermeinung eines Mitglieds zum Aufreger für die Mainstream-Medien zu machen.
Sollte ich sie morgen wählen, begreife ich das als Aktion der Jugendförderung. Mir ist klar, dass bei den PIRATEN vornehmlich junge, männliche Mitglieder ohne Kinder und mit nicht allzu viel Lebenserfahrung den Stil und oft auch die Meinungen bestimmen. In diesem Alter ist man auch üblicherweise GESUND, leidet maximal an einem veritablen Kater und hat z.B. kaum Erfahrung mit dem herrschenden Medizinbetrieb. So aus dem Kopf heraus erscheint es da ungemein „wissenschaftlich“ und Vernunft-orientiert, Heilpraktiker zu bashen. 30 Lebensjahre später werden da einige umgedacht haben. :-)
Neben derlei Irritationen sind die PIRATEN für mich immer noch „die Internet-Partei“ – denn sie sind es, die „online“ SELBER als Lebens- und Kommunikationsraum erleben, was man von vielen anderen Politikern nicht sagen kann. Trotz aller Kritik im Detail bleiben sie für mich wählbar. Selbst dann, wenn die Stimme für die PIRATEN nur ein bisschen die Partei-Kasse füllt: mit mehr Wahlkampfkostenrückerstattung können sie immerhin bessere Strukturen aufbauen und ihren Konsolidierungsprozess fortsetzen.
AFD?
Seit 2007 lese ich mit brennendem Interesse alles über die Finanzkrise, die Eurokrise und alles, was damit zusammen hängt. Die Kritik am Umgang der „Altparteien“ (inkl. GRÜNE) mit alledem teile ich in vieler Hinsicht und manchmal fürchte ich, dass uns der Himmel mit einem „weiter so“ schon recht bald auf den Kopf fallen wird. Dass diese Kritik sich als Partei manifestiert, finde ich gut. Denn – siehe oben – erst Parteien, die ein Unbehagen in der Bevölkerung ins Parlament tragen, werden wirklich ernst genommen. Dennoch schreckte mich schon bald das Milieu ab, das in der AFD zu dominieren scheint: ein Altherren-Club, der es besser zu wissen meint, alles andere als demokratisch geführt. Durchsetzt von Menschen, die allerlei Ressentiments gegen Zuwanderer und andere Minderheiten bedienen. (Dass PI die AFD empfiehlt, spricht ja Bände!) Gefolgt und unterstützt von Wutbürgern 50plus, deren allzu platte Forderungen und Argumente ich in vielen Kommentargesprächen erleben konnte, genau wie deren diverse Verschwörungstheorien (etwa „Chemtrails“).
Klar, die letztere Kritik würde auch auf die PIRATEN passen. Auch dort versuchten seltsame Leute „anzudocken“ (genau wie vor Jahrzehnten Pädos bei den GRÜNEN, die den Zeitgeist für ihr Anliegen zu nutzen suchten) und es dauert immer einige Zeit, bis sich in einer neuen Partei die Spreu vom Weizen trennt. Allerdings verzeihe ich jungen Menschen vielerlei Verirrungen leichter als gestandenen älteren Mitbürgern. Die AFD bleibt mir insgesamt irgendwie suspekt, obwohl ich auch nette liebe Menschen kenne, die sich da engagieren. Kurzum: ich wähle sie nicht, hätte aber nichts dagegen, sie im Bundestag zu sehen.
FAZIT:
- Meine Wahlempfehlung bekommen die GRÜNEN und die PIRATEN. Wo ich morgen mein Kreuz mache, steht nur bezüglich der Erststimme fest: Direktkandidat Ströbele soll ruhig noch vier Jahre weiter machen!
- Und noch etwas: Nicht wählen ist für mich KEINE Alternative. Genausowenig wie Hungern, wenn die einzig zu bekommenden Menüs mir allesamt nicht hundertprozentig schmecken.
Update: Mittlerweile bin ich sehr froh, dass die AFD nicht reingekommen ist! Man lese mal: Wie konnte die AfD 4,7% erreichen?
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3 Kommentare zu „Letzte Bemerkungen vor der Bundestagswahl – und eine Wahlempfehlung“.