In Beantwortung der Frage „Was, wenn alle Fotos auf einmal weg sind?“ hat sich ein umfangreiches Kommentargespräch über den Umgang mit den Relikten der Vergangenheit ergeben: Fotos, Filme, Texte, Dokumentiertes, Zeichnungen – brauchen wir das und wenn ja, wofür? Ist Wegwerfen und Raum schaffen angesagt, der Blick zurück zu vermeiden?
Das alles und noch mehr wurde weidlich besprochen. Einen von Susanne relativ spät eingebrachten Aspekt des Hängens an den Dingen mache ich nun lieber zum Thema eines Folgepostings als die Kommentarstrecke ins Unendliche wachsen zu lassen.
Susanne schrieb:
„Ich halte aber Dinge aus einem anderen Grund für Momente meines Selbst: ich bin nämlich überzeugt, nicht identisch zu sein mit dem, was sich mein Geist/Verstand über mich alles so zusammen reimt (das ändert sich ohnehin immer mal wieder oder ist meistens eh nur eine Projektion im Nachhinein). Deswegen kann ich absolut nicht behaupten, ich ‘besäße’ die ‘wirklichen’ Einflüsse auf mich alle in mir, egal ob ich ihre materiellen Substrate noch irgendwo herum liegen oder schon längst weggeworfen habe. Denn das zu behaupten benötigte genau diese Annahme eines immateriellen Ego, das ich jederzeit zu identifizieren in der Lage bin.
Kann ich aber nicht. Vielmehr bin ich immer nur bloß da. Ich bin der Kaffee, der durch meine Speiseröhre rinnt, das Licht, das durch meine Augen in mich dringt, die eisige Kälte, die meine Hautschranke überwindet, das Holz, auf dem ich sitze und nervös herum rutsche, weil die Hose kneift, die Tasse, die meine Finger befummeln, um zu gucken, ob sie den kleinen Sprung neben dem Henkel nicht doch eines Tages erweitert haben und so weiter und so fort.
Ein ‘Ich’ bin ich dabei nur, wenn ich von mir erzählen muß, anderen oder mir selbst. In den Dingen aber, die mich ausmachen, bin ich sprachlos da, und wenn ich sie wegwerfe oder verliere, dann ist Sprache (darunter zähle ich in diesem Zusammenhang auch Fotos oder Souvenirs) eine Krücke, das nicht (mehr) Anwesende für mich und andere wieder herbei zu zaubern.“
Das ist der Blickwinkel bloßen Gewahrseins, aus dem heraus Ich/Welt als vernetztes Phänomen (buddhistisch: Ursache/Wirkungs-Verkettungen) aufscheint, das nur zum Teil durch (vermeintlich?) willentlich bewusste Handlungen steuerbar ist. Innen und Außen verschwimmen zu einem Kontinuum des Geschehens, aus dem man meint, sich beliebig heraus suchen zu können, wo man selber beginnt – als sei das eine reine Definitionsfrage. Ein Bewusstsein, das lange schon weiß, dass wir uns selbst ausgeliefert sind, dass wir zwar machen können, was wir wollen, aber nicht beschließen, was wir wollen sollen.
Trägt diese Sicht der Dinge nun zum Umgang mit potenziellen Erinnerungsmaterialien irgend etwas bei? So recht verstehe ich den Bezug nicht! Wir kreieren fortwährend ein „immaterielles Ego“, einfach weil wir ein Gedächtnis haben, voraus denken können und ein lebendiger Körper sind. Die eisige Kälte, die die Hautschranke durchdringt, schadet meinem materiellen Ich, wenn ich nichts dagegen unternehme. Da wird nicht lange rumphilosophiert, über Ich und Nicht-ich sinniert, sondern die Heizung aufgedreht oder ein Pullover angezogen. Oder etwa nicht?
Und das klappt sogar, es bleibt nicht bloße Vorstellung im Geist, das Frieren ist vorbei! Daran erinnern wir uns dann, achten also stets darauf, dass immer genug Heizmöglichkeiten und Pullover zur Verfügung stehen. Wir sorgen uns, wenn die Heizkosten steigen und suchen nach Einsparmöglichkeiten oder zusätzlichen Geldquellen – und so „steuert“ das real existierende Ich schlecht und recht durch den Alltag, motiviert und angetrieben durch die Erfordernisse, aber eben auch bestrebt, vermeidbare Übel zu vermeiden.
In diesem letzteren Sinn erscheint mir ein willentlicher Entsorgungsakt nahe liegend: Wenn ich von „wehmütiger Rückschau“ nichts Gutes erwarte, liegt „Hau weg den Kram“ definitiv nahe, bzw. ist so normal wie das Aufdrehen der Heizung. Wer es dagegen genießt, in Erinnerungen zu schwelgen, wird die Idee absurd, ja masochistisch finden.
Ein Problem mit dem ICH kann ich in diesem Verlauf nicht erkennen.
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34 Kommentare zu „Vom Ich und den Momenten des Selbst“.