Das Buchprojekt „Selbstgeboren“ der Hebamme Anna Virnich, in dem sie mit vielen Erlebnisberichten für die „natürliche Geburt“ ohne irgendwelche Hilfsmittel oder gar Kaiserschnitt werben will, hat viele Mütter verärgert und verletzt. Kein Wunder, denn mittlerweile wird jedes dritte Kind per Kaiserschnitt geboren, beim zweiten Kind sind es sogar bundesweit 70 Prozent. Zur Frage, wie viele Geburten ohne jede Hilfe wie künstlich eingeleitete Wehen, PDA, Kristellern, Dammschnitt oder Saugglocke stattfinden, fand ich erst gar keine Zahlen.
Der Anstieg der Kaiserschnitt-Geburten wird nun länger schon von vielen Seiten massiv kritisiert (Politiker, Frauenärzte, Hebammenverband, EU, WHO, Krankenkassen…). Es wird auf gesundheitliche Gefahren für die so geborenen Kinder hingewiesen, die von vermehrten Allergien, Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Atmungsstörungen, Asthma, Diabetes bis hin zu schlechterer Gehirnentwicklung reichen sollen. Fast erinnern mich die vielfachen Warnungen an jene, die einst die Folgen der Masturbation als äußerst schädlich für die Gesundheit darstellten.
Nun bin ich keine Expertin, die den Wahrheitsgehalt dieser Warnungen beurteilen könnte, ja ich bin nicht einmal Mutter. Aber gerade deshalb sag ich den Kritikerinnen: Wir können froh sein, dass es überhaupt noch so viele Frauen gibt, die sich eine Geburt antun! Für mich kam das nie in Betracht, egal wieviel hilfreiche Medizin zur Verfügung gestanden hätte.
Der Biologie ausgeliefert: kein wünschenswerter Zustand
Vermutlich lag es an einer nicht gerade harmonischen Herkunftsfamilie, dass ich so etwas wie einen Kinderwunsch nie entwickelte. Wobei das eine rationale Begründung im nachhinein ist, konkret kann ich gar nicht sagen, warum das so war. Familien-gründungs-willige Männer hätte es gegeben. Allerdings erinnere ich mich recht gut an die Panik, die mich überkam, als sich nach dem ersten Sex meine Periode verzögerte. Klar, ich war erst vierzehn, es wäre eine soziale Katastrophe gewesen. Daneben irritierte mich aber allein schon der Gedanke, dass irgendwas „Fremdes“ in mir wachsen sollte – ich kam mir „besetzt und besessen“ vor, potenziell „fremdbestimmt“ von bloßer Biologie. Und wow, war das eine Erleichterung, als sich heraus stellte, dass ich doch nicht schwanger war!
“Die Kraft sich der Urgewalt des Gebärens hinzugeben ist Bestandteil jedes Frau-Seins” – den Leitsatz ihrer Hebammenschule zitiert Anna Virnich in ihrer Reaktion auf die vielstimmige Kritik am Titel ihres Buchprojekts. Ok, ich bin also keine richtige Frau, aber weißt du was, Anna? Ich kann damit leben, gut sogar. Und meine Solidarität gehört den vielen Müttern, die sich trotz der ungemein fordernden, belastenden, mit vierlelei Risiken behafteten Vorgänge, die SCHWANGERSCHAFT und GEBURT nun einmal darstellen, diesem ganzen Geschehen immer noch aussetzen. Und ich kann es 100%ig nachvollziehen, dass frau ANGST hat, den Kontrollverlust fürchtet und alles tut und annimmt, um den „natürlichen“ Verlauf in seiner schmerzlichen Drastik zu mildern – auch wenn das dann am Ende Kaiserschnitt bedeutet.
Meine Mutter hatte diese Möglichkeiten bei meiner Geburt offenbar nicht. Trotz Krankenhausgeburt erlebte sie einen Dammriss. Wie gut, dass das heute wohl nicht mehr vorkommt, man würde schneiden, bevor der Kinderkopf die Mutter „zerreisst“. Ein böser medizinischer Eingriff?
Auf EPHEMERA schreibt Anatol Stefanowitsch, der seine Kinder naturgemäß NICHT selbst geboren hat:
„Wer eine Geburt, wo und welcher Art auch immer, beobachtend miterlebt hat, weiß, wie absolut ausgeliefert die Person mit dem Kind in der Gebärmutter dem Geburtsvorgang ist. Ich durfte es miterleben, und obwohl es dank aller Segnungen der modernen Medizin keine Probleme gab und obwohl es unbeschreiblich bewegend war, dabei zu sein, wenn ein neuer Mensch auf die Welt kommt, habe ich gesehen, wie der Geburtsvorgang selbst, in seiner biologischen Gnadenlosigkeit einen Autonomieverlust bedeutet, von dem ich nicht weiß, ob und wie ich ihn ertragen könnte.“
Genau DAS ist auch mein Punkt: Wer bitte will so etwas noch ertragen? Unser Leitbild ist schon lange nicht mehr unsere „Natur“, sonst gäbe es diese arbeitsteilige Hard-Working-Welt erst gar nicht! Eine Just-in-Time-Gesellschaft, die allüberall auf Kontrolle setzt, wo Spontanität, Gefühle, Emotionen, persönliche Befindlichkeiten oder gar „Lust und Laune“ keine Rolle spielen dürfen, wo alles nach Plan laufen und jedes Risiko versichert sein muss, wo jeglicher Schmerz mit einer Pille weggedrückt wird und Überblick, Distanziertheit, Contenance und „Coolness“ in jeder Lage dem stets funktonierenden Individuum abverlangt werden – eine solche Gesellschaft (=wir alle) hat nicht das Recht, ausgerechnet von jenen, die ihren Fortbestand sichern, nun das GANZ ANDERE, das NATÜRLICHE einzufordern!
Just my 2%!
(Update: ich hatte in einer ersten Fassung den Artikel auf EPHEMERA irrtümlich einer Frau zugeschrieben. Jetzt korrigiert.)
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- EPHEMERA: Ich habe nicht #selbstgeboren
- Berlinmittemom: Selbstbestimmung vs. Bevormundung
- Juna im Netz: Selbstgeboren
- Literatier: zu #selbstgeboren
- Mamablog Mamamia: Selbstgeboren – Kehrseiten einer Protestbewegung
- Mama hat jetzt keine Zeit…: Was zum Teufel heißt hier nicht selbstgeboren
- Mama notes: Gedanken zu #selbstgeboren
- Mama on the rocks: Per Kaiserschnitt selbstgeboren
- Motzmama: Selbstgeboren trotz Einleitung
- Umstandslos: Und Schnitt
- 2kinder/küche/bad/balkon: Offener Brief an Anna
- Gemischwahnlädchen: Stell dir vor, es sind Mommy Wars …
- Geborgen wachsen: Frauen, haltet zusammen! – Über Spaltungen in Krankenhaus- und Hausgeburt beim Hebammenprotest
- Untermherzen: Selbstgeboren, my ass
- Ich lebe! Jetzt! #selbstgeboren – Jetzt gehen Mütter schon wieder aufeinander los!
- Harmonie Nest: Selbstgeboren. – Schon wieder Mommywars.
- Frische Brise: Selbstbestimmt
- Görls Queen: Trotz Kaiserschnitt #selbstgeboren
- Schmetterlingsfamilie: #selbstgeboren – harter Tobak für Frauen wie mich
- sewing addicted [*naehsucht]: Leider nicht #selbstgeboren? Eine Lanze für den ungewollten Kaiserschnitt.
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42 Kommentare zu „#selbstgeboren – Kommentar einer Kinderlosen“.