Zuerst sei gesagt, dass mir das „auf die Straße gehen“ nicht fremd ist, zumindest nicht im DEMO-Format. Ich gehöre einer Generation an, die ihre weltverbessernden Forderungen auf vielerlei Demonstrationen zu Gehör gebracht hat – und durchaus mit Erfolg. Das war allerdings noch eine ziemlich andere Welt, in der solche möglichst „massenhaften“ Treffen Gleichgesinnter unter freiem Himmel DAS probate Mittel zur Verstärkung politischer Anliegen war. Transparente, Flugblätter (!) und Megaphone waren die Tools der Wahl, die eigene Meinung lautstark zu vertreten – es gab ja kaum andere Möglichkeiten, die uns zur Verfügung gestanden hätten.
Und heute? Immer noch wird viel demonstriert, jedes Wochenende finden in Berlin bis zu zehn Demos statt. Allerdings sind das oft eher kleine Zusammenkünfte weniger hundert, im besten Fall weniger tausend Menschen, die kaum Aufmerksamkeit über ihre jeweiligen Mitstreiterkreise hinaus generieren. Und bei Großthemen wie etwa dem schwer angesagten Kampf gegen die totale Überwachung fragen sich viele: Warum passiert da so wenig? Warum wird nur geredet, gebloggt, getwittert, mal eine Petition gezeichnet, aber nichts GETAN, um dem Angriff auf die demokratische Gesellschaft entgegen zu treten?
„Ihr redet nur, tut aber nichts!“
Das ist der häufigst formulierte Vorwurf: Es wird viel geredet und publiziert, aber nicht GEHANDELT. Als „Handlung“ gilt vielen offenbar nur ein Tun, das den Körper einbezieht, diese Wetware aus Fleisch und Blut, die es durch die Straßen zu bewegen gilt, um so zu „demonstrieren“, dass man etwas ernst meint. Aber mal ehrlich: ist dieser Anspruch nicht ein bisschen sehr 80ger? Ist es wirklich immer noch das einzig angemessene Verhalten, um Protest zum Ausdruck zu bringen?
Die Abstimmung darüber findet – ganz anspruchskonform – mit den Füßen statt. Füße, die lieber unter dem Schreibtisch bleiben, anstatt sich auf stundenlangen Spaziergängen unter Polizeischutz wund zu laufen. In einer Kommunikationswelt, in der fortwährend „Worte Welt bewegen“ und man beim „Agenda Setting“ auch mal erfolgreich sein kann ohne einen Schritt vor die Tür zu machen, erscheint der leibhaftige „Gang auf die Straße“ als überflüssiges Ritual, alten Zeiten geschuldet, als es noch nichts anderes gab. Was wollte und will man denn auf Demos TUN? Es ging doch immer darum, zu zeigen: Wir sind viele, wir sind DA, wir lassen uns nicht mundtot machen!
Aber heute macht uns niemand mehr „mundtot“. Jede und jeder kann bloggen, eigene Medien erschaffen, gemeinsame Kampagnen-Seiten unterstützen. Sogar massenhafte Reaktionen auf ein neues brisantes Hashtag bei Twitter oder eine hohe Zahl Mitzeichner bei Petitionen bekommen immer mal wieder Aufmerksamkeit, die weit über den Wirkungsgrad einer Demo mit den „üblichen Verdächtigen“ hinaus geht. Alleine oder zusammen mit vielen anderen kann man sich direkt an Abgeordnete, Institutionen und Unternehmen wenden, deren Social-Media-Plattformen entern, massenhaft Mails schicken und offene Briefe schreiben, zu denen sie sich in Zeiten des Internets auch äußern müssen. Als etwa der Verdacht aufkam, dass eine neue Saatgutverordnung das freie Samentauschen der Gartenfreunde illegalisieren könnte, reagierte sogar die EU-Kommission binnen einer Woche mit einer „Klarstellung“ – irgendwelche institutionellen Wege oder gar Demos hat es nicht gebraucht, weil der Wirbel im Web exorbitant und unübersehbar war.
Noch mehr Gründe für die Demo-Abstinenz
Neben dem „lähmenden“ Gewicht der Vermutung, dass die Musik heute eher online als „auf der Straße“ spielt, sehe ich weitere Gründe für die geringer gewordene Neigung zur gemeinsamen Massen-Demo:
- Individualisierung: Wo immer Artikel und Reden geschrieben werden, die ein „wir“ im Titel tragen oder versuchen, ein solches zu beschwören, fühlen sich viele Menschen heute unzulässig vereinnahmt. Und nirgends ist die Chance so groß, zu erleben, wie anders die Anderen sind, als auf einer „Latsch-Demo“, wo man leibhaftig mit dem Mitmenschen konfrontiert ist. Eine Erfahrung, die sich nicht wenige lieber ersparen. Irgendwelche missliebigen Gruppen sind ja doch immer dabei, alles Gründe, lieber fern zu bleiben – nicht schön, aber wahr.
- Alter: in der alternden Gesellschaft sind es vielfach nicht mehr die ganz Jungen, die sich einmischen und gegen oder für etwas aktiv werden. Erstens gibt es weniger junge Menschen und zweitens sind sie heute in Beruf und Ausbildung oft so eingespannt, dass sie gar nicht dazu kommen, sich umfangreich an Protesten zu beteiligen. So wird das Kernpublikum zwischen 20 und 35, denen Demos unter freiem Himmel neben dem politischen Zweck auch großen Spaß machen, natürlicherweise kleiner. Mit zunehmenden Alter verliert sich jedoch die Freude an Massenveranstaltungen, genau wie die Kneipenbesuche seltener werden.
- Mangelnde Bündnisfähigkeit: Das ist die institutionelle Variante der zuvor genannten „Individualisierung“. Um wirklich „Massen“ auf die Straße zu bringen, braucht es breite Bündnisse, um die Mobilisierungskraft der einzelnen Gruppierungen zu bündeln. Das aber erscheint mir immer weniger gewollt: Zum einen lähmt die Tatsache, dass die SPD in der Regierung sitzt, deren Gliederungen und Partei-nahe Institutionen, sich zu beteiligen. Zum Anderen haben Parteien und andere Großstrukturen (Gewerkschaften, Kirchen, Verbände..) insgesamt Akzeptanz und Mitglieder verloren, so dass sie ungern durch kantige Positionierungen womöglich noch Teile der eigenen Klientel verschrecken. Und auch in der nicht partei-gebundenen „Linken“ sind sich die vielfältigen Gruppen nicht unbedingt grün, also macht jeder seins, womöglich noch ganz kurzfristig. Kein Wunder, dass „Großdemos“ so kaum mehr zustande kommen.
Trotzalledem: demonstrieren!
Obwohl ich bzgl. des herkömmlichen Demo-Formats eher pessimistisch gestimmt bin, beteilige ich mich gelegentlich an den Mobilisierungsanstrengungen, poste Demo-Aufrufe in meinem Berlin-Blog oder gehe – zugegeben recht selten – sogar selber hin (für die erste Stunde, damit ich gezählt werde). Das werde ich auch weiter tun, doch glaube ich, dass die Zukunft eher anderen Protestformen gehört. Gerne hätte ich eine Debatte darüber, wie man diese effektiver und fantasievoller gestalten könnte, damit sie – obwohl online umgesetzt – nicht „nur virtuell“ wirken, sondern tatsächlich. Ist ja nicht so, dass das noch nie geklappt hätte!
Die Kernfrage dieses Artikels ist jedoch: Warum zum Teufel gilt es immer noch als „Handeln“, wenn ich meinen Körper an Treffpunkt X bewege – nicht aber, wenn ich diesselbe Zeit oder sogar mehr Stunden der Verstärkung von Protesten per Internet widme?
Diesem Blog per E-Mail folgen…
Diskussion
Kommentare abonnieren (RSS)
48 Kommentare zu „Warum wir nicht auf die Straße gehen“.