Gestern hatte ich beim Verlassen der Wohnung noch einen letzten Aufruf an der Tür hängen. So im Format Türklinkenhänger wie man sie in Hotels findet: „Wählen Sie die Katze im Sack?“ stand darauf – und auf der Rückseite dann die Positionen der Parteien zu TTIP, dem Freihandelsabkommen, das so viele europäische Errungenschaften gefährdet wie kein Abkommen zuvor. Die GRÜNEN, die LINKE und die PIRATEN lehnen es ab, SPD/CDU/CSU wollen es mit Modifikationen – nun ja, hier in meinem Stadtteil Kreuzberg-Friedrichshain predigt der Flyer zu den Überzeugten.
Je älter ich werde, desto wichtiger wird mir Europa. Umso schmerzlicher empfinde ich auch das verbreitete EU-Bashing: der böse Moloch, das Bürokratiemonster, „die da oben“ mit ihren gut bezahlten Posten… ach je, es ist ermüdend, denn wer so drauf ist, mit dem kann man meist auch nicht mehr sachlich diskutieren. Oft werden nicht mal Unterschiede zwischen dem EU-Parlament und der Kommission gemacht, als wäre das alles eins!
Auch ich kritisiere die EU, z.B. wegen ihrer viele Menschenleben kostenden Asylpolitik. Gleichzeitig arbeite ich in einer Initiative für Geflüchtete und Migranten mit, die auch EU-Gelder für bestimmte Aktivitäten bekommt. Überhaupt prangen an fast jedem etablierten Sozialprojekt irgendwo die EU-Sterne, wenn man auf die Finanzierung schaut. Das aber kommt selten in die Medien, denn es sind die lokalen und nationalen Politiker, die sich solche Dinge ans Revers heften.
Wer ist überhaupt der korrekte Adressat für EU-Kritik? Oft genug verstecken sich die nationalen Politiker hinter „Brüssel“ und verbergen, dass sie es sind, die per Komission oder Parlamentsmehrheit viel Gutes blockieren, was im EU-Parlament durchzusetzen versucht wurde. (Z.B. die Kappung der Agrarsubventionen, damit nicht Mega-Betriebe viele Millionen einstreichen und die kleinen mit Peanuts abgespeist werden. Und selbst die EU-Flüchtlingskommissarin scheiterte an den nationalen Regierungen mit dem Begehr, nach der allgemeinen Empörung über viele Ertrunkene vor Lampedusa doch endlich mehr Flüchtlinge aufzunehmen).
MEHR DEMOKRATIE in Europa – das fordern eigentlich alle und es hört sich gut und sinnvoll an. Das aber ist nur die eine Seite der Kritik-Medaille, man will sich nämlich auch „nicht von den Anderen reinreden lassen“. Und genau deshalb gibt es die Kommission, in der die Nationalstaaten das Sagen haben und vieles blockieren und/oder anders regeln, was im „demokratischen Arm“ Europas, dem Parlament, an Reformbemühungen auf den Weg gebracht wird. In diesem Sinne haben wir auch in Europa genau die „Regierung“, die wir verdienen. Und mit europaweiten Volksabstimmungen wäre dieser Widerspruch nicht etwa aufgelöst.
Ich verstehe jene nicht, die ernsthaft glauben, man müsse wieder zurück zum Nationalstaat – es wäre ein Disaster, auch und gerade für Deutschland.
Aber genug von den Details: heute gehe ich wählen und freue mich, dass das möglich ist. Ich will ein grenzenloses Europa mit gemeinsamem Geld – und gerne hätte ich noch weit mehr Gemeinsames als nur einen „Binnenmarkt“. Nämlich Mindeststandards im Sozialen, bei den Arbeitnehmerrechten, in der Steuerpolitik.
Genug für jetzt – ich bin gespannt auf das Wahlergebnis!
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