Die liebevollen Kommentare zu meinem „Netzfrust“ raten mehrheitlich zur Web-Diät: nicht mehr so viele schlechte Nachrichten aus aller Welt konsumieren, die doch nur die Laune verderben, ohne dass man wirklich etwas gegen all den Mist tun könnte. Ja, Ihr habt ja so recht! Ich brauche mehr Freude im Alltag und sollte nicht soviel Zeit darauf verwenden, das Üble zu sichten, zu selektieren und weiter zu reichen. Die Idee, zumindest durch diese „Kuratierung“ der Bad News etwas zum Wohl der Welt beizutragen, ist vielleicht nicht ganz falsch, wird aber kontraproduktiv, wenn ich selber dabei tief in den psychischen Keller aus Wut, Angst und Trauer steige.
Würde ich heute aus dem Leben scheiden, würde es auf Twitter garantiert nicht auffallen, dass meine Tweets über „Bemerkenswertes“ fehlen!!! Anstatt über zu wenig Resonanz in Zeiten „sozialer Medien“ zu klagen, könnte ich mich SELBST freudigerem Tun und Erleben zuwenden. Noch nie ist es mir auf diesen Spielfeldern um persönliches Glänzen mit vielen Likes, Fans, Friends, Retweets gegangen (sonst hätte ich vornehmlich Katzen-Content gepostet), aber immer wieder hat es mich sehr frustriert, wenn aus meiner Sicht WICHTIGES fast gar nicht bemerkt wird – sei es als Blogpost oder als weiter gereichter Inhalt. Das Bild vom Mitmenschen wird so definitiv verzerrt, dabei geht es zumindest vielen von ihnen vermutlich wie mir: zu viele schlechte Nachrichten bewirken Apathie, das Gefühl der Machtlosigkeit nimmt zu, das eigene Potenzial, „trotzalledem“ irgendwas Positives, Ermunterndes, Tröstliches zu schreiben nimmt drastisch ab.
Also: Webdiät! Wenn etwas wirklich Wichtiges passiert, erreicht mich die Nachricht sowieso. (Als die Flugzeuge ins World Trade Center stürzten, hat mich ein Freund ANGERUFEN und gesagt, ich solle sofort den Fernsehen einschalten). Die vielen Stunden, die ich im Lauf der Woche mit dem Sichten der News zubringe, werde ich anders füllen. Aber wie? Hier ein paar Ideen:
- Mehr „Selfcare“: Oft ist es so, dass ich mich weit mehr um ferne liegende Dinge und Themen kümmere als um solche im Nahbereich. Je näher an mir dran, desto unwichtiger – eine verbesserungsfähige Haltung mit einigem Freude-Potenzial, wenn es gelingt. Warum hab ich mir z.B. nicht lange schon eine neue TV-Brille machen lassen, anstatt mich nach deren Verlust mit der „Fernzone“ der Gleitsichtbrille zufrieden zu geben? Warum war ich das letzte Mal irgendwann im Frühjahr in der Sauna, obwohl ich Sauna sehr genieße? Warum liegen hier schon wieder viele nutzlose Dinge herum, obwohl es mir doch Freude macht, viel Platz und Übersicht zu haben?
- Mehr Ordnung schaffen: der letzte Punkt zieht sich durch verschiedene Bereiche, wenn ich genau hinschaue. Hier und da staut sich allerlei auf, das eine ordnende und entsorgende Hand bräuchte. Der ganze übrig gebliebene Kram von der Küchenrenovierung, der noch immer rumsteht, ist genauso bereinigungsbedürftig wie der immer wieder zur Düne anwachsende Papierstapel rechts außen auf meinem Schreibtisch. „Steuer 2013“ sollte auch fertig sortiert und abgegeben werden, der Kleiderschrank gehört mal wieder aussortiert und ein paar neue Klamotten gekauft – anstatt dass ich (weil mich als Homeworkerin ja fast niemand sieht…) mein Lieblingsshirt trage bis es zerfällt!
- Schenken und teilen – in Zeiten der wachsenden „Sharing-Ökonomie“ sollte es ein Leichtes sein, kaum gebrauchte Dinge auf nette Weise loszuwerden oder zumindest zu teilen. „Auf nette Weise“ meint: mit ein bisschen mehr Kontakt zu echten Menschen. Zwar spüre ich nicht wirklich einen Mangel, aber tatsächlich treffe ich nur selten Unbekannte, beziehe mein Menschenbild also viel zu sehr aus den Medien.
- Mehr kreative Arbeit – durch die Zersplitterung des einstigen, noch sehr ganzheitlichen „Webdesigns“ in vielerlei arbeitsteilige, jeweils für sich aufwändige Gewerke, habe ich mich selbst mehr und mehr aufs Konzeptionieren, Beraten, Schreiben/Business-Bloggen, Promoten verlegt und beschäftige fürs Technische bei Bedarf fähige Mitarbeiter. Das klappt bei Kundenprojekten auch gut, doch mir selbst fehlt dadurch was. Das zeigt sich auch darin, dass meine eigenen Blogs noch immer kein neues Design haben. Anstatt viel rumzusurfen könnte ich mich also wieder mehr mit eigenen Projekten befassen. Eben nicht mehr mit dem Anspruch, jedes Stück Code selber zu schreiben – das macht ja heute niemand mehr!
- Konkret sozialpolitisch arbeiten – Stammleser kennen mein Projekt „Formulare verstehbar machen“ – hier ein Bericht zum Stand der Dinge von Ende September, erschienen auf dem Projektblog, das ich (angelehnt ans Design des Trägers KuB) erschaffen habe. Solche Aktivitäten sind sehr konkret und es macht Freude, dass sich hier Freiwillige für den guten Zweck zusammen finden und tatsächlich was tun! Mehr Konzentration auf diese Aktivität kann also nicht schaden, sie ist sowieso nötig, da es mit einem Jahr hier wahrlich nicht getan ist.
„Du musst dein Leben ändern“ – so hat mal der Philosoph Sloterdijk ein dickes Buch benannt. Ich hab‘ es zur Hälfte gelesen und gar nichts geändert. Auch eine Liste wie die obige (die nur einen Teil dessen aufzählt, was mir alles eingefallen ist) repräsentiert einen so hohen Änderungsbedarf, dass ich davor stehe und frage: wie soll ich denn das alles schaffen? Der Tag hat doch nur 24 Stunden! Fange ich mal an, drüber nachzudenken, wie und was anders werden sollte, kommen gleich soviele ToDos in den Kopf, dass ich davor in Ehrfurcht erstarre – und mich dann womöglich doch lieber der Sichtung der aktuellen News zuwende. Die Weltereignisse sind ja doch soooooo viel wichtiger! Im übrigen ruft schon bald das „Dringliche“, die Brotarbeit will ja auch immer noch getan werden…
So wird überdeutlich: exzessiver Medienkonsum ist auch ein Weglaufen vor dem eigenen Leben, ist Vermeiden von Anstrengungen und Kreisen im Gewohnten, das sich nun mal am einfachsten mit „Rumsurfen“ kombinieren lässt.
Aber ziel- und sinnloses „rumsurfen“ deprimiert mich, das ist ebenfalls wahr. Die Flucht in andere Formen der Ablenkung hilft nur punktuell, nie nachhaltig. Es führt kein Weg daran vorbei, mich selber aufzuraffen! Statt „surfen“ kann ich ja berichten, ob und wie es gelingt.
Diesem Blog per E-Mail folgen…
Diskussion
Kommentare abonnieren (RSS)
6 Kommentare zu „Mehr Freude – Strategien gegen den Netzfrust“.