Der unmittelbare Schrecken ist zu Ende. Die Täter sind tot, ihre Opfer auch. Die News, Hashtags und Brennpunkte laufen weiter. Stellungnahmen, Soli-Kundgebungen, Reaktionen, Bewertungungen von Reaktionen, politische Vereinnahmungen, Hass-Reden, Kampfparolen, Warnungen, Distanzierungen, Beschwörungen… Und alles, was in Frankreich die Gewalttaten nicht verhindert hat – mehr Überwachung, Vorratsdatenspeicherung – wird nun hierzulande erneut gefordert, na klar! (Für die Sicherheit, da scheißen wir doch auf den EuGH!)
Journalisten laufen massenhaft beim Freitagsgebet Berliner Moscheen auf und befragen Muslime. Die beklagen, dass ihre schon oft wiederholten Distanzierungen nicht wahrgenommen oder nicht geglaubt würden. Und überhaupt hätten solche Taten nichts mit dem Islam zu tun…
Ich bin müde. Mein Gemüt ist müde. Wir lassen uns durch Hass nicht spalten, sagt der Bundespräsident. Nö, wir sind alle Charlie – von Postillon bis Pegida, von Antifa bis Google.
Journalisten diskutieren, dass man „so ein Video“ doch nicht zeigen könne. Schließlich sei da zu sehen, wie ein Terrorist einen schon am Boden liegenden Polizisten kaltblütig in den Kopf schießt. Für mich ein Gespensterdisput, schließlich hatte mich das Video schon gleich nach seiner Entstehung „erreicht“ – und gleich zweimal. Da das Gesicht des Opfers nicht erkennbar war und keine weiteren Grausamkeiten mit der Tat einher gingen, hatte ich beim Anschauen keine ethischen Bedenken. Und selbst jetzt wollen sie nicht so richtig aufkommen… mein Gemüt ist eh erschöpft.
Fluchtpunkt Handarbeit
Anscheinend haben viele keine Lust mehr, sich von den vielfältigen Bedrohungszenarien unserer Tage beängstigen, empören oder ermüden zu lassen.
Lest mal den beeindruckenden Artikel von Julia Friedrichs im ZEITMAGAZIN. (Ja, so ein bisschen bisschen Abstand vom aktuellen Terror tut gut, so nach zwei Tagen gefühlt „nah dran“)
„Entschleunigung – die Welt ist mir zuviel“.
…Warum viele Menschen sich heute vor allem für Stressabbau und Handarbeit interessieren – statt für die drängenden Fragen der Gegenwart.
„…Diese Geschichte beginnt im Sommer 2014 in Berlin-Mitte. Die Auguststraße ist eine Hipster-Meile, Galerien-Gelände, Flanierstrecke der Avantgarde. Im Ladenlokal Book Couture bügelt eine Frau handgenähte Bucheinbände. Beim Feinspitz gibt es rund geflochtene Lederleinen aus New York und anderes Feines für Hund und Mensch. Und so ist das do you read me?! auch kein Zeitschriftenkiosk, sondern eine kuratierte Boutique für Magazine und Lektüre der Gegenwart. Wer hier eintritt, steht unter gut aussehenden Menschen, die in Magazinen blättern oder sich in einem edlen Periodikum festgelesen haben. Die Zeitschriften, die ich – in einer feinen Jutetasche – nach Hause trage, sind auf dickem Papier gedruckt, matt in der Farbgebung, erdig im Look. Sie heißen: Oak, die Eiche, Cereal, das Getreide, Escape, die Flucht, und Weekender – Das Magazin für Einblicke und Ausflüge. Und sie haben alle dieselbe Botschaft: Sie predigen das einfache, das gebremste Leben. Loben die vergessene Kunst des Papierschnitts, das meditative Zeichnen von Schmetterlingsflügeln, die Makrofotografie von Kakteenblättern. …“
= quasi die 2015-er Version des Kreislerschen „Ich geh Blumen gießen“-Lebensstils. Kann ich verstehen, hab‘ ja selber einen Garten inkl. Gartenblog, in dem ich selbst der Freude am Konkreten fröhne. Der Text bleibt übrigens nicht beim Besserverdiener-Bashen stehen, sondern beschreibt einen Megatrend, der viele Szenen umfasst.
Aber ist das eine Alternative? Fluchtpunkt Handarbeit, Pflanzen pflegen, Achtsamkeit üben?
Klar, als Ausgleich, Rückzug, SelfCare – aber gewiss nicht als „Lösung“. Selbst wenn ich in einer Waldhütte hausen würde, wäre mein Alleinsein Illusion, da abhängig von der aktuellen Waldbewirtschaftung und wohlwollenden Duldung irgend eines Försters. Zudem ist das eigene Wohlsein auf Dauer kein erfüllender Lebensinhalt, auch wenn uns das der Konsumismus mit aller Macht einreden will.
Weder Surfen auf kochenden Newswellen, spontanes Mitfühlen ohne Nach-Denken, noch Abwenden und Wegsehen vom Übel, Versenken ins Spüren und Beobachten – nichts von alledem ändert mehr als mein Befinden. Wobei ersteres sogar die Gefahr mit sich bringt, dass ich – spontan twitternd – eher noch Teil eines Brandbeschleuniger-Netzeffekts werde als dass ich, was doch eigentlich mein Wunsch ist, zum friedlichen Miteinander beitrage. (Zum Glück hab ich mich bezähmen können…).
Also LESEN…längere Texte statt kurzer News. Nach Geschwistern im Geiste Ausschau halten, die zumindest gewisse Aspekte aktuellen Weltgeschehens ähnlich erleben, vor allem nicht geil darauf sind, klare Freund- und Feindbilder zu pflegen. Nach der „Entschleunigung“ begegnete mir auch dieser Text eines überforderten Individuums:
„Nimmst du das hin? Lässt dich das kalt?“ – Stefan Mesch beim FREITAG.
„Ich habe noch keine “Haltung”, keine abschließende, kluge These zu PEGIDA und dem Anschlag auf Charlie Hebdo. Wütend bin ich heute Abend vor allem auf eine Medienlandschaft, die mich 20, 50 Mal pro Tag fragt: “Nimmst du das hin? Lässt dich das kalt? Bist du dafür oder dagegen?” und dabei nur Empörung, Wut aufpeitschen will. Ein Flüchtlingsheim – bei uns? Nebenan? Eine Zeitung – die meine Religion verspottet? Islamisten – die Europa bedrohen? Flüchtlinge – die an den Grenzen Europas sterben? Eine Frau – verschleiert? Eine Frau – zu dick? Eine Frau – mit 18 Kindern? Eine Schildkröte – in Plastik eingeschweißt? Ein Veggie-Day? Ein Rauchverbot?
Und jetzt? Wie fühlst du dich? Soll das so sein? Soll das so bleiben? Stimm ab! Schimpfe los!“
Ok, jetzt aber genug mit dem Kreisen um die beschädigten Befindlichkeiten in der globalisierten Echtzeit! Wir Menschen sind deshalb die dominierende Gattung, weil wir – bisher – über eine hohe Anpassungsfähigkeit an sich verändernde Umwelten verfügten. Das ist nun erneut unter Beweis zu stellen, eine Anforderung, die schon in uralten Märchen warnend eingefordert wurde: die Möglichkeit, sich in ein Tier zu verwandeln, die dem jeweiligen Helden gescheckt wurde, brachte das Risiko mit sich, im Versacken in die Freuden des Tier-Seins das Mensch-Sein zu vergessen. Das kann man glatt als Parabel auf die Erregungskultur in der Internet-Kommunikation lesen! Es kostet Kraft, sich vom „Strom“ bewusst zu lösen, um der „Bearbeitung“ Raum zu geben.
Dafür ein paar Links, die meine gestrige und heutige Lektüre ausmachten:
Was der Islam und der Westen versäumt haben – Die Differenzierung zwischen Islam und Islamismus war nie falsch, aber unvollständig. Jochen Bittner in der ZEIT.
Ich hab das mit Interesse gelesen, denn allein MANTRA-mäßig allüberall zu verkünden, Islamismus (und erst recht der so motivierte Terrorismus) habe mit Islam nichts zu tun, wird nicht genügen, um den Verdacht aus der Welt zu schaffen. Dafür braucht es Wissen, Analyse, ernsthafte Auseinandersetzung.
Zitat:
„Was genau würde die Zumutung der Aufklärung für den Islam denn bedeuten? Neben der Verwirklichung religiöser Toleranz (es gibt sie im Islam solange nicht, wie Apostasie als strafwürdig gilt), unzweifelhafter Frauengleichberechtigung, dem klaren Geltungsvorrang weltlicher vor religiöser Gesetze vor allem eins: den Abschied vom Islam als Weltordnungsidee.
Die Vorstellung, dass die Welt erst dann friedlich sein kann, wenn die Welt islamisch ist, ist eben nicht radikal, sondern Teil der Lehre Mohammeds. Man kann diesen Anspruch als historisch abtun. Genauso gut kann man ihn aber zur politischen Kampfansage gegen die westliche Demokratie aufjazzen – und genau dies geschieht immer und immer wieder, von Sayyid Qutb, dem geistiger Vater der Muslimbrüder, bis hin zu Osama bin Laden und dem IS-Chef Abu Bakr al-Baghdadi. „
„Apostasie“ ist der Abfall vom Glauben, ich habs geahnt, aber dennoch gegoogelt (=elitäres Gehabe des Autors!). Ich stimme ihm da voll zu, Religion muss freiwillig sein. Aber auch im Christentum gibt es die Idee, dass nur die Christen zu den Geretteten gehören können – inkl. kriegerischer Kreuzzüge gegen „Ungläubige“, denen gegenüber alles erlaubt war.
Beim Lesen dieses Textes wurde mir klar, wie wenig ich vom Islam weiß. Allzu leicht sitzt man so ahnungslos „Hasspredigern“ auf, die genau wie die islamistischen Terroristen den Koran wörtlich nehmen und die Aufforderungen zu Gewalt und zum Kampf gegen Ungläubige ganz kontextlos heraus picken und anprangern. Da will ich doch wenigstens muslimische Gegenreden, andere Interpretationen sehen! Für eine bloße Kampf-gegen-Andere-Ideologie reichts im Allgemeinen nicht zur WELTRELIGION. Also mal ein bisschen rumgesucht – und Interessantes gefunden:
Grundlegende Einstellungen zum Thema Islam und Gewalt – da wird in kurzer Lesezeit klar, dass man nicht Äpfel mit Birnen vergleichen sollte – und manches mehr.
Ebenfalls interessant:
Islam, Totalitarismus und Kritik, von Matthias Küntzel auf Perlentaucher.
„In der arabischen Welt hat ISIS das Fass zum Überlaufen gebracht“
– und in diesem Artikel spürt man als „Westler“ dann mehr denn je, wie schlecht es sich moralisieren lässt, solange man mit Staaten wie Saudi Arabien bestens zusammen arbeitet… wobei doch eigentlich Sanktionen wegen Verletzung von Menschenrechten viel angebrachter wären.
***
Während ich mir nun mit diesen Texten und diesem Blogeintrag (=viel zu langer Text) Stunden der Verarbeitung gegönnt habe, konnte ichnicht gleichzeitig dem News-Fluss folgen. Wer weiß, was mittlerweile alles passiert ist… hab ich was Wichtiges verpasst?
Sicher nicht. Nichts ist wichtiger als dem, was man erlebt, was einen berührt, auch Zeit zu geben, um dazu eine Haltung gewinnen, die nicht von spontanen Emotionen geprägt ist. Damit bin ich noch lange nicht durch, aber die Vertiefung und Bereicherung ist schon spürbar. Auch als Beruhigung.
Erregendere Links zum Geschehen gibts bei „Draußen nur Kännchen“.
Ach ja, und kürzlich hatte ich eine vertiefende „Privatdebatte“ zur Möglichkeit einer „echten Auseinandersetzung mit Pegida“ bei Thinkabout. Wer mag…
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8 Kommentare zu „Statt Wut, Angst oder Flucht in die Handarbeit – ja was?“.