Der folgende Text entstand als Kommentar zum Blogpost „Sackgassen“ von Sherry (Herz im Kopf-Blog), die in zwei Welten lebt – als Exil-Iranerin inmitten von Deutschland. Bzw. nicht eigentlich zum Blogpost selbst, sondern zum Kommentargespräch, in dem die asiatischen und orientalichen „kollektivistischen Kulturen“, die das WIR über das ICH stellen, unserem westlichen Indiviudualismus mit all seiner Selbstbezogenheit und Ignoranz gegenüber gestellt wird.
Eine sehr spannende und berührende Diskussion!
Ich verstehe Sherry sehr gut. Das mag man nicht glauben, da ich ja zu den Glücklichen gehöre, die seit Jahrzehnten vom Frieden in Deutschland und dem umgebenden Europa nutznießen. Mit all der Freiheit, sich mit „Luxusproblemen“ beschäftigen zu könnern, die das mit sich bringt.
Und dennoch weiß ich um das andere Dasein, das ein nicht unerheblicher Teil der Menschheit erleiden muss. Krieg, Bürgerkrieg, schlechte Regierungen, die sich einen Dreck um ihre Bürger kümmern – ausgenommen die persönlichen Freunde, Famile, Clan oder Stamm (auch ein Aspekt „kollektivistischer Kulturen“). Korrupte Eliten verramschen die Vermögenswerte des eigenen Landes an die Konzerne, anderswo herrschen religiöse Fundamentalisten, die meinen, sie hätten das Recht, Anderen ihre Vorstellung vom richtigen Leben aufzudrücken.
Ich engagiere mich (ohne mich aufzureiben wie in jungen Jahren an anderen Themen) für Flüchtlinge und Migranten. Das ist mein Beitrag, mehr kann ich nicht leisten an den vielen Fronten der kriegerischen Welt. Mit diesem Engagement hab ich mit 60plus weniger Probleme als die jungen Menschen, in deren Initiativen ich mitwirke bzw. meinen Beitrag “anbinde”. Für sie ist es ein (ideologisches, psychologisches, politisches) Problem, das nicht alle “Refugees” auch angenehme Mitmenschen sind. Für mich nicht. Schließlich kommen sie aus Gegenden, wo ganz andere Werte und Maßstäbe, Umgangsformen und Denkweisen herrschen – und vor allem haben etliche von ihnen immer “durchkommen / überleben” als obersten Wert hoch halten müssen – durchaus zu Lasten eines menschlich wünschenswerten Umgangs mit dem Mitmenschen.
Eine Abschweifung, ich weiß – sie diente nur als Beleg, dass mein Bewusstsein im Sinne von „ich verstehe Sherry gut“ auch einer Praxis im Leben entspricht.
Aber zur Sache: Mir fehlt in dieser Betrachung die historische Dimension. Du, Sherry, stellst die kollektivistischen Kulturen der individualistischen „westlichen Kultur“ gegenüber – und das hat ja durchaus seine Berechtigung. Uns fehlt mehr Berücksichtigung des „wir“ – aber genauso fehlt ihnen/Euch die Berücksichtigung des „ich“!
Der Japaner, der keinen Urlaub nimmt, um seine Kollegen nicht zu belasten – ein gutes Beispiel. Dem bei uns kollektive Krankmeldungen bis an den Rand des Nicht-mehr-Funktionierens gegenüber stehen – vor allem im öffentlichen Dienst.
Das konfuzianische Denken in China (pseudokommunistisch geupdatet als Herrschaft der Partei), das Stammesdenken in Afrika, das Denken in Religionszugehörigkeiten bzw. in miteinander in Streit liegenden Untermengen davon (Shiiten, Sunniten) – all das unterdrückt das jeweilige Individuum in einer nicht nur für Westler leidvollen Art! Auch die Menschen in diesen Kulturen leiden an diesem Widerspruch, suchen ihre kleinen Fluchten, ihre privaten Inseln der Freiheit…. (und wenn das gar nicht geht, flüchten sie oder greifen selbst zur Waffe)
Historisch betrachtet hat Europa all diese kollektivistischen Kulturen durchlebt und mit viel Kampf und schier endlosen Kriegen hinter sich gelassen. Milde Formen sind übrig, aber die Bayern und Preussen bekriegen sich nicht mehr – und auch nicht Franzosen, Engländer, Italiener und Deutsche. Sogar die furchtbaren Religionskriege sind seit Jahrhunderten befriedet. Evangelische und Katholische sind einander nicht mehr Feind, sondern mühen sich freundlich um Ökumene.
Bis das alles so war, sind Millionen gestorben, hatten nie in ihrem Leben sowas wie eine Chance, an „Selbstverwirklichung“ auch nur zu denken!
Sehr schade, dass andere von diesen Erfahrungen heute nicht wirklich etwas lernen können. Es war nun mal die Aufklärung, sowie die aus ihr folgende Blüte der Wissenschaft, Technik und schließlich die Industrialisierung, die die Grundlage für die Befreiung des Individuums schuf. Es musste dann nur noch ausgekämpft werden, dass auch die arbeitenden Menschen ein gutes Leben haben müssen, damit sie friedlich mitarbeiten – und so ward der Sozialstaat erfunden und etabliert.
Die konkreten (!) Abhängigkeiten vom Mitmenschen (das täglich gefühlte/erlittene „wir“) wurden auf anonyme Systeme verlagert. Dass dabei psychische Kollateralschäden entstehen, wundert mich nicht. Die Egozentriertheit vieler ist schon unglaublich – aber m.E. ist das alles ein historischer Schritt, den man in der Menschwerdung nicht auslassen kann.
Erst wenn das freie Individuum aus sich selbst heraus zum Ergebnis kommt, dass ein echter „Sinn im Leben“ ohne ein Engagement für UNS ALLE / die Welt nicht wirklich zu finden ist – erst dann ist das „Projekt Mensch“ bei sich selbst angekommen.
Mag sein, dass das nicht gelingt. Kann sein, dass wir alle im Konsumismus versacken, die Ressourcen bis an die Kante verschwenden, uns in Kriegen um die Reste bekämpfen – und eben untergehen.
Dennoch denke ich: dieser Schritt in die Individualisierung ist unvermeidlich – und eigentlich wünschen ihn sich alle…
Diesem Blog per E-Mail folgen…
Diskussion
Kommentare abonnieren (RSS)
21 Kommentare zu „Was ist wichtiger: Wir oder ich? Zum Kampf der Kulturen“.