Dass ich seit 17 Jahren blogge, bzw. seit 19 Jahren ins Netz schreibe, verdanke ich den „Briefen an meinen Yogalehrer“, die ich zwischen 1993 und 1997 schrieb. Er hat in den samstäglichen Yoga-Stunden (mit nur 4, max 5 Schülern!) nicht nur Übungen vermittelt, sondern immer auch Reden gehalten, während wir auf den Matten lagen und erstmal entspannten, den Alltag gehen ließen. Es waren wunderbare, spontane Reden über verschiedene Aspekte des Yoga und seine Sicht auf alles – auf Mensch und Welt und das Woher/Wohin/Wozu. Meine Briefe waren die Resonanz auf diese Reden, aber auch Berichte über mein Leben, mein aktuelles Befinden und Denken in den angesprochenen Kontexten.
Irgendwann merkte ich: Es braucht IHN nicht mehr als Adressaten – meine Briefe sind lange schon Texte, die gut für sich stehen können. Warum also nicht „für alle“ schreiben? Bzw. für alle und niemanden, für mich und Mitmensch. Die Texte liegen nun immer noch auf meiner Festplatte herum, als Beispiel veröffentliche ich mal einen, der bereits stark von meinem Internet-Erleben beeinflusst ist.
8/1997
Lieber Hans Peter,
warum noch Worte aneinander reihen? Es hat ja niemand ein Erkenntnisproblem! Und zur Poesie fehlt mir der Hang zur Kontemplation. Dieses Universum der Zeichen, das seit langem das Leben verzehrt und gleichzeitig das „Menschliche“ ausmacht, läßt keine Hoffnung auf irgend etwas. Es ist das Nichts aus der Unendlichen Geschichte und wir – auch Du und ich – arbeiten an seiner Ausbreitung mit – ohne das wissen wir nicht, was anfangen.
Wie wäre es doch schön, ein Gelehrter zu sein, der sich für das linke Hinterbein eines seltenen tropischen Käfers interessiert und dessen Erforschung sein Lebenswerk widmet. Aber leider gehört ein rettender Spleen zu den Geschenken der Götter, die nicht zu unserer Verfügung stehen.
Seit ca. zwei Jahren bin ich ein Mensch mit Herz – früher wußte ich nicht, daß es noch etwas gibt neben dem Intellekt. Heute stelle ich fest, daß das Herz ebenso endlich ist wie der Verstand.
In den Zeiten des Verstandes kam die Motivation aus dem Ehrgeiz, wichtig und brilliant sein zu wollen. In den Zeiten des Herzens kam das Engagement aus dem Gefühl, aus dem Mitgefühl. Immer wieder veranstalte ich etwas, um die Menschen einmal ihre Feindseligkeiten vergessen oder zumindest gemeinsam betrauern zu lassen. Arrangiere Technik und Spielregeln so, daß die Freude an der Kommunikation kurzzeitig dominiert. Aber ebenso, wie der Ehrgeiz immer nur kurze Momente befriedigt ist, und dann die Jagd erneut beginnt, genauso verschaffen meine liebevollen Aktivitäten nur kurze angenehme Momente – mir und anderen, immerhin. Sehr bald aber zeigt sich der Mensch regelmäßig wieder „in seiner Ganzheit“ – in seiner ganzen Schauderhaftigkeit.
Nein, ich bin nicht persönlich betroffen, niemand hat mir ein Leid getan – seit langem beherrsche ich die Kunst, mich nicht in Auseinandersetzungen zu verstricken oder verstricken zu lassen. Sobald die Schläge beginnen – egal ob gegen mich oder andere – ziehe ich mich zurück, nichts leichter als das. Weder schmollend noch innerlich wütend, auch nicht aus Feigheit vor irgendwelchen Feinden – einfach aus Einsicht in die Nutzlosigkeit. Wenn die Stimmung ins Feindselige kippt und die Leute beginnen, irgendwelche Klingen zu kreuzen, ist alles zu spät – in Bosnien genauso wie im Internet. Ich glaube nicht mehr an Siege und auch nicht an Kompromisse, nicht einmal an „das Richtige“ – und das ist besonders schlimm.
Nimm das angesprochene Beispiel: die Zeichenwelt. Offenbar haben Menschen mit der Entwicklung einer kritischen Masse an Großhirn, mit dem Blick in Vergangenheit und damit auch Zukunft, eine Innenwelt herangezogen, die zum Ausdruck drängt. Ein von der Innenwelt geborenes Symbol hat den Appeal des Numinosen – dabei ist es doch nur ein verwandelter Ausdruck eines Eindrucks eben derselben „Außen“-Welt. Hinzu kommt der kritische Blick: was einmal besser war, soll so bleiben oder noch besser werden. Also wird die Symbolwelt ausgebaut zur Gegenwelt, zum Jenseits, zu allerlei Paradies und Utopia.
Wer wollte das kritisieren? Ein Mensch kann das mit Recht nicht – denn das würde bedeuten, zu akzeptieren, was ist, was Tag für Tag an Schrecken geschieht – es nicht mehr zu kritisieren. Ohne den Entwurf eines Besseren in der Innenwelt kann es jedoch keine Veränderung der Außenwelt geben – woher sollte die Energie kommen? Sagte man nicht ganz richtig: wer keinen Mut zum Träumen hat, hat keine Kraft zum kämpfen? Allerdings ist das eine Weisheit junger Menschen, die dann nicht mehr weiterhilft, wenn Mut nicht mehr das Problem ist – eher der Glaube.
Aber zurück zur Zeichenwelt – immer wieder schweife ich ab (Du siehst, daß es kaum mehr zum Festhalten eines roten Fadens reicht!). Die Symbolwelt, das zweite Universum ist dabei, das erste zu verschlingen, zu ersetzen. Und ich halte Widerstand für zwecklos. Es scheint ein Fatum zu sein, etwas, das uns das Sein schickt. Mit der Entwicklung des Internet setzt man dazu an, das vollständige Holo-Deck zu errichten.
Du erinnerst Dich vielleicht: das Holo-Deck stammt aus StarTreck, einer beliebten Science-Fiction-Serie und ist eine perfekte Simulation einer Welt, generiert vom Computer. Man kann die jeweils gewählte Welt bzw. Geschichte betreten , mitleben und mithandeln – allerdings auch jederzeit verlassen bzw. sie nach Belieben verändern. Die Defizite der Gutenberg-Galaxis sind behoben: der Mensch steht mit allen Sinnen und Erlebnispotentialen in der von Menschen und Maschinen generierten Neu-Welt, die selbstverständlich als bessere Welt gedacht wird. (Wie Vilém Flusser gesagt hat, sind die Zeichen dann ohne Bedeutung, bedeuten nichts mehr als sich selbst.).
Wenn man es genau betrachtet, wird die Neu-Welt sich nicht grundsätzlich unterscheiden, außer in einem, dem allerwichtigsten Punkt: sie ist abschaltbar. Genau wie wir uns durch Ablenkung von einer unangenehmen Erscheinung unserer Psyche absetzen können, genauso wird diese „Welt“ abschaltbar sein – ist es heute schon in ihren rudimentären Anfängen, wie sie im vernetzten PC oder altmodischer per Buch, per Film, per Video zu erleben ist.
Zwar sagte der Buddha und alle Weisen, die Krux der Menschen läge darin, daß sie nicht davon lassen, das Leiden zu meiden und nach Freude zu streben. Aber setze nur einmal einen Menschen der Freude aus, lange macht das niemand mit! Es sind ja auch nicht etwa die Filme besonders erfolgreich, die friedliches Miteinander und liebevollen Umgang zeigen….
Niemand hat also was gegen Leiden, Schmerz, Elend, Verzweiflung – es muß nur abschaltbar sein. Wir wollen die Macht darüber haben, die wir in dieser Welt, der alten Welt, der Außenwelt, offenbar nicht haben. Das Absurde daran: hätten wir die Macht, würden wir uns darin üben, sie immer weniger zu nutzen, um zu erfahren, wie weit wir gehen können. Genau, wie bestimmte Leute sich immer stärkere Horrorfilme ansehen und nicht etwa abschalten, wenn es grauenhaft wird.
Nun wäre ja so ein Holodeck an sich nichts Schlimmes, warum sollen wir Menschen nicht unsere komischen Vorlieben pflegen. Aber durch die Errichtung der perfekten Besserwelt wird zeitgleich diese Welt verbraucht. Auf vielerlei Weise, nicht nur ökologisch – sie ist einfach immer weniger belebbar, immer weniger befriedigend. Ich merke es heute schon: weder im sogenannten „Real Life“ finde ich das „eigentliche Leben“, was immer das sein mag, und im Neuland hinter dem Monitor leide ich an den Beschränkungen, der Satellitisierung der Körper, der Distanz zum Anderen, die ich doch gleichzeitig als nötigen Schutz und erwünschte Bequemlichkeit schätze – absurdes Theater! Und die Hoffnung, durch die vollständige Macht in einer Simulation werde irgend etwas erreicht, hege ich auch nicht – endlose Langeweile und Barbarei wird dabei herauskommen.
Denn was wir suchen, ist ja genau das Unverfügbare, das Dritte, das Nicht-Ich, die höhere Macht oder wie immer man es nennt. Und doch tun wir alles dafür, um ihm zu entkommen.
Ich sehe das und kann doch nicht anders. Und frage mich immer wieder, woher Du die Kraft nimmst, immer weiter zu reden und zu schreiben?
Beste Grüße
Claudia
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9 Kommentare zu „Brief an HP: Warum noch Worte aneinander reihen?“.