Claudia am 18. November 2015 —

Fakten und Gedanken zum IS-Terror

Nach dem Desaster rund um das abgesagte Fußballspiel gestern sah ich auf SAT 1 die Doku „IS – Die Wurzeln des Terrors“ – eine sehr informative Sendung, die unbedingt wiederholt oder besser noch dauerhaft zur Verfügung gestellt werden sollte. Insbesondere beeindruckte die Aufsummierung der Gelder und Ressourcen, über die das Terror-Regime verfügt: 15 Prozent des Bruttosozialprodukts des ehemaligen IRAKs, zig Ölquellen und andere Bodenschätze, Steuern von der Bevölkerung (10 Millionen im IS-beherrschten Gebiet) und von den Händlern, die in Richtung Kurden, Assad-Gebiete und Türkei die Grenzen überschreiten. Ginge der IS an die Börse, wäre er 2000 Milliarden wert – die reichste Terror-Organisation aller Zeiten.

Was den Reichtum an Waffen angeht, so sind ihnen von den Amerikanern zurück gelassene Panzer, Bomben und sogar Flugzeuge im Wert von drei Milliarden in die Hände gefallen. Dazu das Gold und Geld, das in den 24 Banken der eroberten Gebiete vorhanden war. Diese Banken funktionieren nach wie vor, sie nehmen internationale Zahlungen vor und niemand behindert sie. (Würden die Banken wegfallen, wäre das allerdings eine furchtbare Verschlechterung des eh schon schlimmen zivilen Lebens, das unter dem IS ja nach wie vor stattfindet.)

Ich schreibe diesen Text, um meine Gedanken zum Komplex IS-Terror zu ordnen und zu teilen. Diese Nacht hatte ich einen Traum, in dem ich mich „alleine in Raqqa“ wähnte – die Details sind mir entfallen, jedoch fand ich Hilfe bei Menschen, die mich versteckten und mir weiter halfen. Ein bedrückender Traum – und morgens dann der Blick auf die Terror-Lage: in Paris ist schon wieder was los – furchtbar! Dass das Fussballspiel als „Zeichen für Demokratie und Freiheit“ einer Terror-Warnung zum Opfer gefallen war, hatte mich zusätzlich deprimiert. Die Nicht-Informationen des Innenministers und keinerlei handfeste Fandungsergebnisse legen den Gedanken nahe, dass es in Zukunft superleicht sein wird, jegliche Großveranstaltungen mit „einschlägigen Warnungen“ ausfallen zu lassen. Und alle IS-Terroristen klicken begeistert auf „gefällt mir!“

Nun aber noch zu ein paar Themen, die rund um den IS-Terror derzeit diskutiert werden:

Flüchtlinge: Wenn nun alle, die sich zusammentun können, um den IS zu bekämpfen, die Bombardements massiv steigern, wird vielen der noch in den IS-Gebieten aushaltenden Menschen nichts anderes übrig bleiben als ebenfalls zu flüchten. Dass alle, denen der Zuzug von Flüchtlingen insgesamt nicht passt, nun über die „ungesicherten Grenzen“ jammern und behaupten, dies provoziere und unterstütze die Einreise von Terroristen, halte ich für üble Stimmungsmache gegen Flüchtlinge. Da wird eine „ordentliche Registrierung“ verlangt (wogegen an sich nichts zu sagen ist!), aber eben mit der Idee verbunden, dass damit Terroristen keine Chance hätten. Dabei standen doch im Pass, den einer der Selbstmordattentäter in Paris bei sich trug, sogar DREI Registrierungen – hat das was geholfen? Nein! Zudem gibt es für reiche Terroristen bequemere Weg in den Schengen-Raum, z.B. die Einreise mit Business-Visum aufgrund einer fingierten Geschäftsbeziehung. Und sowieso: Waren nicht die meisten Terror-Beteiligten in Paris Franzosen und Belgier?

Terror-Wurzeln: In vielen Diskussionen gerät in Vergessenheit, dass es die Amerikaner waren, die den IRAK, basierend auf der Lüge mit den Massenvernichtungswaffen, kriegerisch destabilisiert haben. Der zweite große Fehler war dann der Abzug bzw. die mangelnde Bemühung, dort ein Regime zu etablieren, dass allen Bevölkerungsgruppen die Teilhabe am Staatswesen ermöglicht (waren sie nicht gekommen, um angeblich „Demokratie“ zu bringen?). Statt dessen regiert da nun ein schiitisches Regime, das sich an den Sunniten rächt, die unter Saddam das Sagen hatten. Kein Wunder also, dass die sunnitischen Stämme sich dem IS zuwandten und diesen sog. „Staat“ unterstützen, bzw. mangels Alternative als das kleinere Übel ansehen.

Aber: der immer wieder aufflammende Krieg/Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten ist per se nicht UNSER DING! Der Iran unterstützt die Schiiten, die Saudis und andere Emirate halten es mit den Sunniten – also ist es ganz wesentlich DEREN AUFGABE, einen lebbaren Frieden zu schaffen. Was nun kein Grund ist, sich arrogant lächelnd zurück zu lehnen und als „was Besseres“ zu fühlen, denn auch in Europa waren die Religionskriege lang und fürchterlich! Und: Unter Assad haben immerhin alle Religionsgruppen lange friedlich gelebt – ein Fakt, der beim Blick auf das zum „Schlächter-Regime“ mutierte Assad-System nicht ganz in Vergessenheit geraten sollte.

Zum Schluss noch was zu dem berührenden Blogpost „Sind arabische Leben weniger wert?“ von Elie Fares aus Beirut, wo am 12. November ein schlimmes terroristisches Attentat stattfand – einen Tag vor #ParisAttacs. Fares beklagt die unterschiedlichen Reaktionen auf diese Ereignisse: im Fall von Paris gab es weltweite Resonanz und Zeichen der Solidarität, bezügl. Beiruts eher kleine Meldungen wie „Attentat in Hisbollah-Hochburg“. Ich verstehe gut, dass das schmerzt und sehe die Ungerechtigkeit, aber: wer die Geschichte Beiruts liest oder alt genug ist, sie ein wenig mitbekommen zu haben, wundert sich nun mal nicht sehr über einen Terroranschlag in Beirut. Denk ich an Beirut, sehe ich vor dem inneren Auge immer noch Ruinen eines elend langen Bürgerkriegs, nicht etwa eine prosperierende friedliche Stadt, die einen ganz normalen Platz unter den touristisch beliebten Großstädten der Welt einnimmt. Insofern ist die Reaktion auf Anschläge in Paris verständlicherweise eine andere als auf Anschläge in Beirut – so ungerecht das auch sein mag.

***
– Update –

Vielleicht noch ganz wichtig: Nicht jeder „IS-Kämpfer“ ist ein Terrorist. Denn: der „Islamische Staat“ hat im Januar die „allgemeine Wehrpflicht“ eingeführt. Dass da manche abhauen und als Flüchtlinge Richtung Europa starten, ist zumindest nicht unwahrscheinlich.

Diesem Blog per E-Mail folgen…

Diskussion

Kommentare abonnieren (RSS)
6 Kommentare zu „Fakten und Gedanken zum IS-Terror“.

  1. ich hab‘ mal vor ort upgevotet, du bist da, wie jeder neue post, in die falle notorischr downvoter geraten, die alles erst mal runterziehen. das sollte sich aber in absehbarer zeit klären, afaik haben die mods einen antrag auf beobachtung der sache gestellt.

    zum thema: es gab vor zwei, drei wochen zwei gute dokus auf arte zum thema, die sind jetzt natürlich leider off. am anfang dachte ich, hinter all dem steckt so eine investmentfirma in new york, die nicht wusste, wohin mit dem geld und einfach mal den größten bankraub aller zeiten gestartet hat. das hat sich ja mittlerweile soweit erledigt, daß die sache eine eigendynamik gewonnen und unkontrollierbar geworden ist … im grunde durch das nicht eingreifen der amerikaner, die den ganzen mist ja zu verantworten hat und viel zu lange auf zeit gespielt hat, weil sie dachten, am ende haben die assad weggeputscht, den ich durchaus ähnlich sehe, als einen, der die religionen in seinem land halbwegs beschützt hat.

    zu raqqa noch, da gab’s eine zeitlang einen blogger, der live berichtete, aber von dem habe ich schon lange nix mehr gehört.

  2. Hallo Hardy,
    Reddit verstehe ich noch nicht zur Gänze. Ein dort geteilter Link erscheint auf „neu“ – und bisher gibt es dazu einen Kommentar. Das mit Up und Down-Votings sehe ich nirgends…

    Ich finde es schlimm, dass die ÖR-Medien sich nicht zusammen raffen und ihre IS-Dokus allgemein zugänglich machen – eine Begründung aus der Aktualität und Wichtigkeit heraus ließe sich sicher finden.

    Das mit dem „Bankraub“ als Grund des IS halte ich für etwas.. nun ja, entlegen… ;-)

  3. Hallo Claudia,

    es wurde ja ein Bericht angesprochen, einen habe ich in der Mediathek bei arte gefunden – sehenswert: IS – Die Wirtschaftsmacht der Gotteskrieger

    Nix für schwache Nerven, wird zu Anfang drauf hingewiesen!

    Zu Beirut mal ein gehörtes Zitat: „denk ich an Beirut, denk ich an Krieg“ Bin zumindest alt genug, mich nicht anders an das dortige Pulverfass Nahost zu erinneren. Ging mit der Gründung Israels los. Werte nicht, ob die Handlungen richtig, oder falsch waren. Zumindest wurde damit eine Lunte gelegt.

    Auch andere Afrikanische Staaten – Grenzen, wie mit dem Linieal gezogen – Pulverfässer. Wieso wohl? Ists nicht immer nur Macht, um die es geht? Macht um Terretorien, um Ressourcen? Der Glaube nebensächlich? Und geht es letztlich nicht auch immer um Geld, um sehr viel Geld?

    Sind Menschen da nicht „nur Kollateralschäden“, wenn es „kracht“?

    Du hast sehr viel sehr gut erklärt, die Wahrheit, den Kern, werden Du und ich vlt. nie erfahren.

  4. Zur Frage der Motivation der IS-Kämpfer (also seines Kanonenfutters) bietet dieser Artikel in der FAZ (bzw. die Autoren, auf die er sich stützt) das in meinen Augen momentan plausibelste Modell.
    Leider wird dort die Frage der Finanzierung des IS und damit der Blick auf jene Interessen(-gruppen), welche im IS ein zu ihren Zielen passendes Werkzeug sehen könnten, vollkommen außer Acht gelassen. Was in etwa so schlau ist wie die Geschichte des Pops zu schreiben, ohne die Firmen zu betrachten, welche damit Geld verdient haben und verdienen.

  5. Ja, Susanne, genau DIESEN Artikel fand ich auch sehr treffend! Hier mal ein Langzitat daraus Fettung von mir:

    „Atran hält religiöse Lehren, politische Entwicklungen und Diskriminierungserfahrungen nur für Zahnrädchen in einer Gedankenmaschine, die von etwas ganz anderem angetrieben wird: von der zugespitzten jugendlichen Sehnsucht nach Abenteuer, Ruhm und einem Leben, das Bedeutsamkeit verspricht. Anders gesagt: Es ist weitaus spannender, ein gefährlicher Krieger, ein Mujaheddin, zu sein, als ein rechtschaffener junger Erwachsener, der, wie man das heute eben so macht, aufgeklärt über Klimawandel, Flüchtlingskrise und Konsumterror spricht und sich mit Bio-Brot und Yogakurs auf Ich-bezogene Sinnsuche begibt. Wer hingegen beim IS mitmacht, ist Avantgarde. Und engagiert sich bei einem globalen Projekt, das sich als progressiv versteht. In der Ideologie extremistischer Islamisten braucht es die Rückwärtsgewandtheit, um Vorwärts zu gehen.

    Der IS verlangt zwar die Unterwerfung unter ein strenges Regelwerk. Doch er verbindet dies mit der positiven Botschaft, dass jeder, der mitmacht, persönlich Anteil haben wird an der Schaffung einer neuen Welt. Eine Jugend, die Unfreiheit wählt statt Freiheit, um eine eindeutige Identität zu finden in einer vieldeutigen Welt – für Atran ist der IS nicht nur die dynamischste Jugendbewegung der Gegenwart, sondern auch deren stärkste gegenkulturelle Ideologie.“

    Es ist wirklich ein Elend der entwickelten Gesellschaften, dass junge Menschen lange lange gar nichts zu sagen/mitzubestimmen haben. Profilieren und sich als bedeutend spüren kann man sich eigentlich nur im Protest, im Widerstand…. der allerdings immer eher in die der Elterngeneration entgegen gesetzte Richtung geht, also haben wir seit den 90gern eher Gangsta-Rapper, NeoNazis und jetzt eben auch Salafisten und IS-Kämpfer. Gruslig…

    Zur WIrtschaftsmacht hat ja oben Peter etwas gepostet (danke, Peter!)

  6. „Kanonenfutter“, Susanne. Leider! Furchtbar, schrecklich und wahr. So sehe ich das auch.

    Mit deinem Link zur FAZ musste ich mal wieder über den Satz nachdenken: „An ihren Früchten (Kindern) werdet ihr sie erkennen.“ Ein Satz, der sich seit 2-3 Jahren wie eine Lawine in mir hin und her wälzt, zudem ich im Ansatz keine Antworten finde, und zudem ich in diesem Kontext hier meine:

    Kein junger Mann wacht nun eines morgens auf -wie aus dem Nichts aus einem intensiven Traum -und meint, sich jetzt dem IS anschließen zu müssen, weil dort sein TUN nun Bedeutung erhält, er wahr genommen wird und sein Handeln „SEIN gottesbefohlener Beitrag“ zu einer besseren Welt wird. Und das ganze in Party- und Abenteuerstimmung, auf einem echt hohen megageilen Adrenalin-level.

    Und dabei ließe sich doch mal ein Gedanke daran verschwenden:
    – Wenn ich mit einem Finger auf einen Anderen zeige, zeige ich mit drei Fingern auf mich, bzw.
    – Ist die vermeintliche Perspektivlosigkeit nicht nur eine adaptierte Perspektivlosigkeit, die sich aus der Herkunftsfamilie speißt? Wobei das heimtückische dabei ja nicht DIE verbale, sondern EINE nonverbale Grundstimmung transportiert?