Aus Anlass der laufenden Debatten über den Umgang mit AFD-Wählern und solchen, die es werden könnten, empfehle ich einen sehr besonderen Artikel vom Kiezneurotiker. Besonders, weil es sich mal nicht um eine seiner wortgewaltigen, aber immer amüsanten Brandreden übers Prenzlauer Berg-Biedermaier und ähnliche Phänomene handelt.
In „Serdar Somuncu hat auch keine Idee“ ist von der gewohnten Selbstsicherheit im Be- und Verurteilen nichts zu spüren. Ganz im Gegenteil seziert er die eigene Ratlosigkeit angesichts der laufenden Ereignisse und – spannend! – am Beispiel konkreter Erlebnisse im persönlichen Umfeld:
„In meinem Freundeskreis hat direkt nach der Trump-Wahl der zweite gute und langjährige Freund in meinem engen Umfeld beim Bier ganz nebenbei erwähnt, dass er bei der Berlin-Wahl kürzlich AfD gewählt hat… AfD. The fuck? Haut der so raus. Als wäre es der normale Vorgang, der er inzwischen vermutlich sogar ist.“
Natürlich folgt ein Meinungsabgleich, der Kiezneurotiker resümiert die mittlerweile recht verbreitete Kritik an den „Einheitsparteien“, die auch sein Freund zum besten gibt:
„Keine abweichenden Konzepte mehr. Alles die gleiche Suppe. Lauter Langweiler. Politisch korrekt bis zur Unkenntlichkeit. Grau Grau Grau sind alle ihre Kleider. Alle sagen in weiten Teilen das Gleiche: Nämlich nichts mehr. Keine Lösung. Keine Ideen. Viel Ideologie. Wenig Meinungsvielfalt. Ein enger Korridor dessen, was genehm ist. Und so weiter. Kennen Sie vermutlich.“
Stellt aber dann fest:
„Das Schlimme an dem, was er sagt, sind die Schnittmengen mit mir. Ich sehe das, was er sagt, in großen Teilen (mit Ausnahmen, beispielsweise in der Flüchtlingsfrage) auch so. Nur ziehe ich nicht diese Konsequenz. Rechts ist nie eine Option, egal welcher Technokrat an seinem Bürgermeistersessel klebt.“
Wie man sich als „gestandener Linksaußen“ jetzt eigentlich zu verhalten hätte, weiß auch der Kiezneurotiker:
„Mein erster Reflex, wenn ich einen von den AfD-Apologeten vor mir habe, ist Absetzen. AfD-Wähler finde ich unhygienisch. Wäre das hier hinter seinem Bier nicht mein alter Freund, würde ich den Kontakt aufs Minimum reduzieren oder sogar ganz einstellen. Ich fühle mich matt. Ich fühle mich vereinnahmt. Entkernt. Meiner Waffen beraubt.“
Kann ich verstehen! Garantiert ist der Kiezneurotiker nicht der Einzige, in dessen engerem oder weiterem Freundes- und Bekanntenkreis AFD-Wähler oder AFD-nahe Meinungsträger vorkommen. Eindimensionale „alles Nazis und Faschisten“-Rundumschläge á la Team Elite helfen hier nicht, treffen nicht die Lebenswirklichkeit vieler, die aus Protest AFD wählen – sogar teils aus Motiven, die auch Linken nicht unbekannt sind.
Und schon gar nicht hilft das im Umgang mit Freunden:
„Ich habe nun also zwei AfD-Wähler als Freunde. Verstehen Sie mich nicht falsch, das sind gute Freunde, sie waren es immer schon. Stützen, gute Zuhörer, intelligent, immer da, standfeste Trinker bis der Morgen graut, treu und loyal, fest angestellt, knapp solider Mittelstand, Siemens, Volksbank, Bayer, Senatsverwaltung, suchen Sie sich was aus, einer mit Eigentum, der andere will nächstes Jahr bauen. Draußen in Brandenburg. Beide erklären das was sie da wählen ganz ruhig…..
….Spaß macht das nicht. Ich merke selbst, dass ich argumentativ in die Defensive komme. Mir gegenüber sitzen keine Dummen. Diese Leute lesen Tichy. Danisch. Don Alphonso. Die auch keine Dummen sind, egal wie oft man sie noch Rassisten schimpft.“
Warum aber kommt der Kiezneurotiker in die Defensive? Eins von mehreren, offenbar „verunsichernden“ Argumenten zitiere und kommentiere ich mal hier:
„Deine Leute sind an der Macht.“ sagen meine Freunde unabhängig voneinander, während ich nur den Kopf schütteln kann. Sprachvorschriften. Veranstaltungsblockaden. Angezündete Autos. Verwüstete Wahlkreisbüros. Drohungen. Anschwärzen beim Arbeitgeber. „Das machen deine Leute. Was sie da ausüben, ist Macht. Sie üben Macht gegenüber der Opposition aus. Siehst du das nicht?“
Ich weiß, dass es in einem konkreten Streitgespräch oft so läuft, dass einem die besten Gegenreden erst hinterher einfallen. Aber hier wäre zum Beispiel eine Möglichkeit zum „Gegenschlag“ gewesen:
Schon 850 Brandanschläge auf Flüchtlingsheime in diesem Jahr, Übergriffe, Körperverletzungen, Beleidigungen, Morddrohungen und Mordversuche gegen Flüchtlinge, Politiker und Helfer – alles deine Leute?
Wenn AFD-ler für sich in Anspruch nehmen, „ganz normale Leute“ zu sein, die bittschön nicht in einen Topf mit rechtsradikalen Brandstiftern und anderen Verbrechern geworfen werden wollen, dann muss auch fürs linke Gegenüber gelten, dass man ihm nicht gleich ein Einverständnis mit Gewalt von links unterstellt. Lässt man sich womöglich doch auf einen „Gewalt-Vergleich“ ein, auch ohne sie selbst zu befürworten, käme man bei genauerer Betrachtung der Statistik immer zum Ergebnis, dass Ausmaß und Menschenverachtungsfaktor der rechten Gewalt jene von links bei Weitem übertrifft!
Lest jetzt bitte den ganzen Artikel, da steht noch viel mehr drin, was zum Nachdenken motiviert und dazu beiträgt, sich innerlich auf solche Gespräche vorzubereiten. Schließlich kommen AFD-Wähler nicht nur im Freundeskreis des Kiezneurotikers vor – und wenn man Verwandte und Bekannte mitdenkt, steigt die Wahrscheinlichkeit, durchaus auch selbst „betroffen“ zu sein.
Ich hab‘ bisher noch Glück. Diese Woche hat sich mir ein Freund mit dem Vorhaben geoutet, bei der nächsten Wahl CDU (Merkel!) zu wählen, so als „Protestwahl“ gegen unser üblicherweise zu wählendes Parteienspektrum. Ja, ja, ich hab’s vergleichsweise gut – und sogar auch schon mal dran gedacht. Aber bisher nur gedacht….
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7 Kommentare zu „Der Kiezneurotiker ratlos: Wenn Freunde AFD wählen“.