Gestern hab‘ ich bis tief in die Nacht die Ereignisse in Hamburg verfolgt. Noch nie war das „aus der Ferne“ so gut möglich, denn mehrere Livestreams und massenweise Bilder und Videos auf Twitter gaben ein umfassendes Bild des Geschehens. (Die hier zur Illustration verwendeten Fotos sind verfremdet, ein Klick macht sie größer).
Ich konnte also mit ansehen, wie Autos angezündet, Scheiben eingeschlagen und Läden geplündert wurden. Im Schanzenviertel brannten Barrikaden – ungestört.
Mehrere Stunden lang sah die Staatsmacht dem Treiben zu, hatte ihre Wasserwerfer in einigem Abstand geparkt, genau wie die kampfbereiten Hundertschaften, die aber seltsamerweise nur mit wenigen Schilden ausgerüstet waren. Die Randalierer rissen Steine und Wegeplatten aus der Straße und warfen sie immer wieder in Richtung der Wasserwerfer, anderswo stellten sich Menschen vor diese Ungetüme und zeigten das Victory-Zeichen – es wirkte ja auch wie ein Sieg, dass die Polizeit mit all ihrem Gerät lange passiv blieb.
Im Lauf des späten Abends wurde alles immer krasser, die Barrikaden höher, die Feuer heftiger, die Leute besoffener – ob vom „Rausch der Anarchie“ oder von den Bierflaschen, die viele mit sich trugen, kann ich nicht wissen. Irgendwann fühlte sich die Polizei dann stark genug, dem Treiben ein Ende zu setzen und rückte mit ihren Wasserwerfern und Hundertschaften vor. Dass sogar mit Maschinenpistolen bewaffnete Sondereinheiten aktiv wurden, hat mich dann doch erschreckt.
Während dessen überschlugen sich natürlich die Berichte und Kommentare in allen erdenklichen Medien. Noch heute morgen trendete das Hashtag #Schanze bei Twitter auf Platz 1. „Noch nie da gewesene Gewalt“ ist der Tenor, wogegen ein User lapidar anmerkte:
„Die Panischen von der ARD waren alle in den 80ern noch nicht auf der Welt, oder? Normale Autonome Militanz. Wir nannten es Sonntag. #Schanze“
Der militante Arm der Bewegung
Ich war in den 80gern schon auf der Welt und in der damaligen Berliner Hausbesetzerbewegung aktiv. Das Militanteste, was ich in all den Jahren unternahm, war das gemeinsame Umwerfen eines Bauwagens im Kiez, nachts aus einer Kneipe heraus und ohne jeden Bezug zu einer Demo. Ich gehörte zu dem „Gemäßigten“, zu den Verhandlern, denen es tatsächlich um die katastrophale Wohnungspolitik jener Jahre ging. Und natürlich auch darum, in den maroden Häusern zu zeigen, wie man anders leben kann: gemeinschaftlicher, lust- und fantasievoller. Das wurde auch lange Zeit von den Berliner/innen mitgetragen, denn alle hatten die Nase voll von Warteschlangen und horrenden Abstandszahlungen bei der Wohnungssuche, während hunderte Häuser leer standen und weitere mittels übelster Schikanen „entmietet“ wurden.
Eigentlich war ich gegen Gewalt, na klar! Aber ich musste feststellen, dass die Kritik an der Wohnungspolitik erst wirklich ernst genommen wurde, als eines Tages eine Demo „den Kudamm in Schutt und Asche legte“. Tatsächlich waren „nur“ jede Menge Scheiben eingeworfen worden, es gab keine brennenden Barrikaden, keine Plünderungen und die Polizei war noch gar nicht da, als es geschah.
Ab diesem Zeitpunkt war die Auseinandersetzung mit dem „militanten Arm der Bewegung“ ständiges Thema. Es wurde erwartet, dass man mitging, wenn wieder eine Steinewerfer-Demo in Aussicht stand oder Sachbeschädigungen geplant waren. Ich konnte und wollte das nicht, hatte schließlich Jura studiert und ein umfassenderes Verständnis davon, was solchen Aktivitäten folgen kann. Gewalt gegen Menschen fand ich indiskutabel und auch „Gewalt gegen Sachen“ meist (nicht immer) kontraproduktiv: Warum die Berliner Mieterschaft durch sinnlose Gewalt verschrecken? Also sagte ich, wenn mal wieder zur „Äktschn“ aufgerufen wurde: Ich hab‘ zuviel Angst! Das wurde zu meinem Erstaunen ohne Anwürfe akzeptiert, ich hatte sogar den Eindruck, einigen (die sich lieber wortlos ausklinkten) aus der Seele zu sprechen.
Am Ende wurde die Bewegung gespalten: die „Revolutionäre“, die grundsätzlichen Widerstand „gegen das System“ leisten wollten und sich nicht darum scherten, dass wir lange schon Ansässigen gerne Frieden in den Häusern hätten, wurden zu Terroristen erklärt und geräumt. Für alle anderen gab es ein „Instandsetzungsprogramm“ ohne Mieterhöhungen, das die Wohnungen in einen zeitgemäßen Zustand versetzte (unter der Hand nannten sie es im Senat das „Steinewerferprogramm“ – sic!). Dazu noch Gelder für die Hofbegrünung und vielerlei kulturelle Projekte.
Genau wie heutzutage im Hamburger Schanzenviertel gab es seitdem militante Ausschreitungen meist in Kreuzberg Süd-Ost, im Kerngebiet der Bewegung. Und nicht etwa in den Vierteln der Reichen und Arrivierten, gegen deren „Herrschaft“ man doch eigentlich kämpfen wollte. Am 1.Mai 1987 wurde am Lausitzer Platz der Supermarkt Bolle geplündert, der anschließend auch ausbrannte, weil ein Pyromane die günstige Gelegenheit ergriff.
Damals vereinten sich am Abend der Tat Plünderer, Deutsche und Türken, Bürgerliche (in Stöckelschuhen!) und Autonome beim sportlichen Regalausräumen. Auch Mitglieder des evangelischen Seniorenkreises machten mit. Halbe Schweine, Schnaps und Unterwäsche wechselten – ohne Bezahlung – den Besitzer. Als die geplünderte Filiale später brannte und das Dach einstürzte, klatsche das zufriedene Publikum Beifall. Man hatte es dem Kapitalismus mal so richtig gegeben. – Quelle: http://www.berliner-zeitung.de/26742274 ©2017
Dies begründete die Tradition der Kreuzberger Randale am 1.Mai, die noch bis heute nachwirkt. Und so gesehen ist die Nacht in Hamburg tatsächlich nur „ganz normale autonome Militanz“, die auch damals schon nicht unwesentlich von „angereisten Chaoten“ verübt wurde. Es gibt ganz offensichtlich immer genug junge Männer (und wenige Frauen), die gerne Gewalt ausüben und für Stunden anarchische Verhältnisse genießen. Der jeweilige politische Anlass ist nur bei einem Teil der Leute echte Überzeugung.
Kein Krieg, nur Randale – allseitig überwacht
Wenn jetzt Kommentierer schreiben, es gehe zu „wie im Bürgerkrieg“ oder „wie in einem Krisengebiet“, dann liegen sie falsch. Es ist ein riesiger Unterschied zwischen Szenen aus Syrien und jenen aus dem Schanzenviertel! Ja, es gibt Verletzte und schlimme Sachbeschädigungen, aber niemand will die Vernichtung des Gegenübers, es ist kein Krieg, sondern bloß „Randale“: 1000 mal schon passiert, mal mehr, mal weniger heftig. Und immer gibt es auch polizeiliche Gewalt, die das Gebotene überschreitet – aber das wird in anderen Medien genug aufbereitet.
Dem Protest gegen den Gipfel erweist die Militanz jedenfalls einen Bärendienst: alle konzentrieren sich auf die Gewalt, die inhaltlichen Forderungen und Kritiken der Gipfelgegner verschwinden dahinter. (Das Abfackeln von ganz normalen Kleinwagen versteht auch niemand mehr!) Und was mich richtig wundert: die allseitige Überwachung scheint die Aktivisten nicht zu stören, zumindest von nichts abzuhalten. Bei weitem nicht alle sind vermummt, man konnte sogar Plündernde beobachten, die keine Anstalten machten, sich irgendwie zu verbergen.
Die Überwachung war allgegenwärtig, überall standen Menschen, die ihre Handys hoch hielten, um die spannenden Szenen festzuhalten.
Dazu jede Menge Presse, die die Nähe zum Geschehen nicht scheute. Twitter ist schier explodiert vor lauter Videos und Fotos, auf denen man alles sehen konnte, was da so abging. Denken die Leute denn gar nicht daran, dass die Polizei in der „Nacharbeit“ noch viele ermitteln könnte, die auf den massenweise vorhandenen Bildern gut zu erkennen sind? Ihnen scheint inmitten der „Äktschn“ kein bisschen bewusst zu sein, dass sie von vielen beobachtet werden: aus der Nähe, aus der Ferne, zum Zeitpunkt der Ereignisse, aber auch irgendwann später.
Es ist eine ganz andere Welt als damals in den 80gern. Das scheint aber niemanden abzuhalten, im Sichtfeld hunderter Handys und Kameras zu randalieren. Wie eigenartig!
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7 Kommentare zu „Ganz normale autonome Militanz?“.