Zugegeben, ich war auch erst erschrocken angesichts der Schlagzeilen, z.B. bei Focus: „Ab 2018 können 390.000 Syrer ihre Familien nach Deutschland holen“ – und unter dem Artikel gleich Kommentare, die den Untergang des Landes an die Wand malen und davon ausgehen, dass gleich jeder Syrer 4 bis 6 Angehörige nachholt, bzw. „seine ganze Sippe“, wie ein rechtes Hetzblatt schreibt. Als würden die alle auf einmal im Frühjahr 2018 auf der Matte stehen!
Schätzungen und „Potenziale“…
Die Daten stammen von BILD, die aus einem nicht näher bezeichneten „internen Papier“ der Bundesregierung berichtet. Das würde ich doch gerne einmal selbst lesen und bewerten! Es kursieren in Behörden viele Texte, bevor offizielle Zahlen zu irgend etwas genannt werden. Aber sei’s drum, selbst aus dem BILD-Artikel geht hervor, dass man keinesfalls weiß, wie viele Familienangehörige tatsächlich kommen werden. Es handelt sich um Schätzungen und bloße „Potenziale“!
Der Direktor des Bayerischen Gemeindetags, Franz Dirnberger, relativiert die Zahlen: Man dürfe nicht den Fehler machen, die 390 000 mit vier oder fünf potenziellen Familienangehörigen zu multiplizieren. Viele Antragsberechtigte seien schon mit ihren Frauen und Kindern gekommen, andere seien Minderjährige, die noch keine Familien haben. Schätzungen gehen von 1,3 nachkommenden Angehörigen pro Antragsberechtigtem aus (Merkur).
Selbst wenn es noch ein paar mehr werden, wie Dirnberger vermutet: Sie kommen nicht alle auf einmal, denn die Wartezeiten bis zur Genehmigung der Anträge sind lang. Es bleibt also Zeit, sich organisatorisch auf den Zuzug einzustellen, umso besser, da sich die Lage in den Aufnahmeeinrichtungen und Heimen ja bereits deutlich ENTSPANNT hat. Es gibt vielerorts sogar wieder Leerstand, wo 2015 noch Flüchtlinge beherbergt wurden.
Lasst die Kinder zu uns kommen!
Wer nun mit den Kosten argumentiert, die zweifellos in der ersten Zeit anfallen, dem halte ich entgegen: Lesen und hören wir nicht täglich, wie GUT es dem deutschen Staat geht? Noch nie sprudelten so viele Steuereinnahmen, die auch jetzt wieder die Erwartungen übertreffen. DIE WELT titelt „Die Regierung schwimmt im Geld“ und allein im ersten Halbjahr erzielte der Fiskus 18,3 Milliarden Überschuss.
Selten war die Lage wirtschaftlich so günstig, also sollte niemand glauben, wegen noch einer halben Million Angehöriger zu verarmen bzw. nichts mehr vom Kuchen abzubekommen.
Vor allem: Familiennachzug ist für eine gelingende Integration unverzichtbar! Wer ständig daran denkt, was wohl zuhause mit der Familie passiert, kann sich hier kaum voll engagiert um Spracherwerb, Ausbildung und andere „Anpassungsleistungen“ kümmern. Und wer meint, das könne uns doch egal sein, könnte ja mal überlegen: Es sind die Kinder der Flüchtlinge, die leicht integrierbar sein werden. Sie haben die besten Chancen, zu „ganz normalen Deutschen“ mit Migrationshintergrund heran zu wachsen, je früher sie kommen, umso besser!
Auf die Kinder lassen sich die üblichen Vorbehalte nicht beziehen, ganz im Gegenteil kann man aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, sie nicht diskriminieren und ihnen gute Ausbildungen ermöglichen. Später kann man dann froh sein, dass sie mitarbeiten, denn die Erwerbsbevölkerung schrumpft bekanntlich und das gefährdet mittelfristig unsere heilige Kuh, das Wirtschaftswachstum.
Warum so unkreativ?
Nun wird darüber gestritten, ob man den 120.000 nur „subsidiär“ geschützten Personen den bereits um zwei Jahre ausgesetzten Famliennachzug noch länger oder ganz verweigern sollte. Asylberechtigte haben sowieso einen unabweisbaren Anspruch (auf Nachzug des Ehepartners und unverheirateter minderjähriger Kinder, nicht etwa der „ganzen Sippe“), denn der Schutz von Ehe und Familie steht im Grundgesetz.
Wenn immer wieder das Wohnraumproblem als Grund genannt wird, warum man nicht „noch mehr aufnehmen“ könne, stellt sich die Frage, warum eigentlich alle auf die gleiche Weise dasselbe System durchlaufen müssen (Erstaufnahme -> Flüchtlingsunterkunft -> Wohnung, falls sich jemals was findet). Man hätte doch auch mal Experimente machen können, z.B. in Gegenden, die unter der Landflucht leiden. Eine neue Stadt gründen für Flüchtlinge, Migranten und Menschen, die gerne etwas Neues wagen und auf vielerlei Weise an so einem Vorhaben mitwirken wollen. Natürlich nicht als Form des „Abschiebens ins Nirgendwo“, sondern als Leuchtturmprojekt, um das sich Bund, Land und Gemeinde kümmern. Neue Infrastruktur, Biolandwirtschaft, Kleinunternehmen, Tourismus, eine „Volks-Uni für den internationalen Frieden“ – ja, ja, das wäre natürlich nicht unproblematisch, klingt nach naiver Träumerei – aber mich wundert schon, dass so gar nichts Neues versucht wird, wenn es um den Umgang mit Migration geht.
Und jetzt noch was:
Solange es ist, wie es nun mal ist, muss man halt klein klein voran kommen und helfen, wo es geht. Das von mir 2013 mitgegründete Projekt „Formulare verstehbar machen“ hilft Flüchtlingen und Migranten, besser mit dem deutschen Amtsdschungel zurecht zu kommen. Damit es über den Jahreswechsel hinaus weiter läuft, brauchen wir dringend Spenden – lies doch mal die letzte News, den aktuellen Spendenaufruf mit Infos zur Lage. Seit ich den verfasst habe, ist ein wichtiger Dauerspender abgesprungen, dessen Haus von einem Orkan massiv betroffen wurde. Ein schlimmes Drama für ihn – und richtig Pech für unser Projekt!
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5 Kommentare zu „Familiennachzug: Organisieren und integrieren statt dramatisieren!“.