Erst seit wenigen Tagen bin ich in der Lage, meine „Verfallenheit“ ans Online-Sein staunend zu beobachten. „Staunend“ ist das richtige Wort, denn erst, wenn man aufhört, sich in irgend einer Weise zu disziplinieren, die Dinge moralisch, politisch, also kritisch zu reflektieren (WÄHREND sie stattfinden!), zeigt sich das Beobachtete unverstellt in all seinen Aspekten.
„Nicht disziplinieren“ ist nicht ganz richtig: Nach wie vor schaffe ich das Nötige, halte meine Termine, bearbeite die Behördenfront erfolgreich, wo sie etwas von mir will, habe keine Schulden, bin gefühlt nicht „im Stress“. Soviel Disziplin muss sein! Um das zu wissen und zu bringen bin ich alt genug.
Aber der große Rest! Die viele Zeit, die ich am PC verbringe, ohne dass ich müsste – trotz Garten. Ohne dass ich da irgend etwas mit Bezug zu meinen Brotjobs unternehme, aber eben auch ohne irgendwelche kreativen Eigenprojekte und Vorhaben voran zu treiben. Mir fehlt dazu die Konzentration, bzw. der Wille zur Konzentration. Wenn es sein muss, KANN ich mich konzentrieren – aber abseits des Not-Wendigen sehe ich offenbar keinen Grund, mich darum zu bemühen.
Die gewöhnlichen Assoziationen, die vermutlich kommen, wenn jemand das liest, treffen nicht zu. Ich bin kein „Facebook-Opfer“ (ich nutze das kaum) und auch nicht mehr jugendlich ehrgeizig genug, um auf Instagramm, Youtube oder sonstwo partout JEMAND sein zu wollen, „jemand Großartiges“, der durch irgendwelche tollen Leistungen und Errungenschaften auffällt und versucht, möglichst viel Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Been there, done that! (damals, in den 90gern, als das Internet noch richtig kuschelig war).
Nö, ich spreche vom ganz normalen Online-Alltag, der mir jetzt, nach 22 Jahren so langsam komisch vorkommt – eine hilfsweise Formulierung, weil ich noch keine Bewertung für meine derzeitigen Beobachtungen habe. Wie gesagt: ich staune!
Schon vor vielen Jahren hab‘ ich darüber gewitzelt, dass meine „Default-Einstellung“ das Sitzen vor dem PC-Monitor ist. Viele Jüngere erleben das heute als Gefesselt-Sein ans Smartphone, wo sich dieselbe Problematik etwas anders darstellt (stressiger, weniger komfortabel, entmündigter). Selbst fühle ich mich – oberflächlich betrachtet – als Herrin meiner Zeit, fast täglich etliche Stunden frei, zu tun, was mir grade einfällt, manchmal ganze Tage lang. Weder ist da ein Chef noch eine Peergroup, von der ich mich gestresst fühlen könnte. Ich fühle mich nahezu nie gestresst!
Und aus eben dieser Freiheit mache ich nichts, sondern versenke mich (sobald die Pflicht getan ist) in „mein Internet“. Da hat sich eine Routine eingestellt, die in etwa so aussieht: Google News, Rivva, meine Blogrolls, NetNewsExpress – und was mich aus den News dieser Aggregatoren innerlich anspricht, das tweete ich auf Twitter. Bzw. nicht GANZ alles, denn nicht allem, was ich so lese, wünsche ich größere Verbreitung!
In aller Regel begegne ich auf diesen routinierten Wegen durch das mediale Geschehen alsbald Themen, die mich berühren, erregen, zu Widerspruch reizen – oder auch dazu, eine Ergänzung in den Strom zu senden, die mir nützlich zu sein scheint. Sobald das der Fall ist, erlebe ich mich im Modus des Dienens: ich retweete, melde weiter, kommentiere, um dem aus meiner Lebenserfahrung SINNVOLLEN mehr Kraft zu verleihen, mehr Reichweite, mehr Chance auf Bemerktwerden.
Schönes Narrativ, nicht wahr? Doch neuerdings fällt mir zwischendurch immer öfter auf: Hey, ist das nicht ein ziemlich entlegenes Thema, in das du dich da grade vertiefst? Oder: was bringt es jetzt, dieser oder jener Person zu widersprechen? Sie wird ihre Meinung sowieso nicht ändern, ich werde sie nie kennenlernen, wir interessieren uns beide nicht füreinander – also was soll das?
Nach und nach erkenne ich, dass ich per Internet letztlich nur den kurzen Weg zu wohlfeilen Erregungszuständen suche – und ihn immer auch schnell finde! Nur bringt mich das nirgendwohin, sondern vor allem weg von einem sinnvollen, konzentrierten Schaffen. Dieses Verhalten, diese „Default-Einstellung“, diese Routine ist FAST eine Sucht. Aber nicht wirklich so stark und fesselnd wie eine richtige Drogensucht.
Eher so schleichend normal, ein übliches Verhalten in Zeiten der Alternativlosigkeit.
Und Ihr so?
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15 Kommentare zu „Wo bin ich? Lost in Cyberspace?“.