„Zum ersten Mal in meinem Leben muss ich nichts, ich kann. Im Grunde genommen bin ich zum ersten Mal frei.“
Die das sagt, ist Kristina Vogel, die Radsportlerin, die seit einem Trainingsunfall im Juni querschnittsgelähmt ist. (Quelle: WAZ) Sie hat insoweit Glück im Unglück, als sie ihre Arme noch bewegen kann – aber trotzdem: Dieser krasse Satz sagt viel über ihr bisheriges Leben!
Laut Wikipedia ist Kristina zweifache Olympiasiegerin, hat elf Weltmeistertitel in der Elite und ist neben der Australierin Anna Meares die bis dato erfolgreichste Bahnradsportlerin. Bis einschließlich 2017 errang sie zudem 21 nationale Titel.
2009 hatte sie schon einmal einen krassen Verkehrsunfall, als sie von einem Zivilfahrzeug der Thüringer Polizei erfasst wurde: Brustwirbel und Handknochen gebrochen, mehrere Zähne verloren, Schnittverletzungen im Gesicht, das teilweise taub blieb. Dennoch feierte sie 2010 ihr Comeback und reihte weiterhin Erfolg an Erfolg.
„Der Druck ist schon enorm“, sagte sie nach ihrem letzten Sieg bei der Bahnrad-WM im März 2018. Und nach der WM in Hongkong 2017: „Jede will mich fallen sehen. Es wird von Wettbewerb zu Wettbewerb schwieriger“. (NTV)
Dies alles hat sie also tun MÜSSEN, jedenfalls sieht sie das heute so. Denn jetzt liegt sie in einem Berliner Krankenhaus und muss gar nichts mehr – außer sich in ihre neue Situation hinein finden. Sie vergleicht sich „mit einem Baby, das lernen muss, sich selber zu drehen und aufzusetzen“ – und fühlt sich dabei frei wie nie zuvor.
Musst du schon oder kannst du noch?
Spitzensportler werden bejubelt und bewundert, doch sie stecken in einem engen Korsett aus alledem, was sie tun müssen, um ihre Erfolge zur erringen und zu halten. Damit stehen sie allerdings nicht alleine. Die Dominanz des „Müssens“ kennen alle Erfolgreichen mit beeindruckenden Karrieren, aber auch viele, die nirgendwo im Rampenlicht stehen und ihre Berufe mehr als Last denn als Lust empfinden.
Wenn das „Müssen“ überhand nimmt und gar kein Ausgleich mehr praktiziert wird, wird das „weiter so“ gefährlich: Unfälle, Krankheit, Burnout – wie das „Müssen“ gestoppt wird, ist im Einzelfall verschieden, doch es passiert auf jeden Fall, wenn wir es nicht selber tun.
Gibt es überhaupt ein Leben ohne „müssen“? Vielleicht für reiche Erben und gut situierte Rentner, aber sicher nicht für ganz normale Menschen mitten im Leben. Wir alle benötigen ein paar Ressourcen, um ein menschenwürdiges Leben zu führen: für Wohnen, Essen, Kleidung und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Mal von den Armen und Armutsgefährdeten abgesehen, für die schon diese Basics ein Problem darstellen, ist es doch merkwürdig, dass jegliches MEHR an Erfolg und Lebensstandard dazu verführt, immer mehr „Müssen“ zu akzeptieren.
Gestiegener Lebensstandard, womöglich ein Ruf, den man zu verlieren hat – wer sich daran mal gewöhnt hat, kann nicht mehr so leicht zurück. Zurück zu den vergleichsweise sorglosen Zeiten in jungen Jahren, als man noch ohne Besitz und Status ein spannendes Leben führte. Zurück in ein Leben mit weniger laufenden Kosten und weniger Arbeit, dafür mit mehr „freier Zeit“.
Ist es nicht verrückt, dass all die Automatisierung und Digitalisierung der Arbeitswelt nicht dazu geführt hat, dass wir weniger arbeiten? Ganz im Gegenteil werden massenhaft „Überstunden“ gemacht – und keineswegs nur von den Marginalisierten ganz unten, die sich nicht wehren können.
Die derzeit immer wieder hoch kochende Rentendiskussion ist nicht zuletzt deshalb so brisant, weil es offenbar weitgehend normal ist, ein Leben im „Müssen“ zu führen – immer in der Hoffnung und Erwartung, als Rentner dann endlich zu „können“ und nicht mehr zu müssen.
Und das in einem der reichsten Länder der Welt! Vielleicht ist es ja gerade dieser „Reichtum“, der viele so ins „Müssen“ zwingt?
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6 Kommentare zu „Vom Können und Müssen“.