Der SPIEGEL legt offen – und Ullrich Fichtner erzählt:
„So lässt sich sagen, dass Claas Relotius, 33 Jahre alt, einer der auffälligsten Schreiber des SPIEGEL, ein bereits vielfach preisgekrönter Autor, ein journalistisches Idol seiner Generation, kein Reporter ist, sondern dass er schön gemachte Märchen erzählt, wann immer es ihm gefällt. Wahrheit und Lüge gehen in seinen Texten durcheinander, denn manche Geschichten sind nach seinen eigenen Angaben sauber recherchiert und Fake-frei, andere aber komplett erfunden, und wieder andere wenigstens aufgehübscht mit frisierten Zitaten und sonstiger Tatsachenfantasie. Während seines Geständnisses am Donnerstag sagte Relotius wörtlich: „Es ging nicht um das nächste große Ding. Es war die Angst vor dem Scheitern.“ Und „mein Druck, nicht scheitern zu dürfen, wurde immer größer, je erfolgreicher ich wurde.“
aus: SPIEGEL legt Betrugsfall im eigenen Haus offen
Ein Drama – und für mich kein Grund zur Häme. Eher für Mitgefühl… sogar mit Claas Relotius selbst, der hier publizistisch vernichtet wird. Und zwar mittels demselben Bilder- und metaphern-reichen Story-Telling, das die Journalistenpreise nur so regnen lässt! Das haben auch die „Salonkolunmisten“ bemerkt und gar köstlich angeprangert:
„Der Spiegel“ feiert das bitterste Redaktionsversagen seit seinem Bestehen mit einer großen Reportage – und bestärkt damit ausgerechnet jene Form des Journalismus, die den Fall Relotius begünstigt hat.
Es gibt diese besonderen Glücksmomente im Leben eines Reporters. Man weiß, dass ein Text gelungen ist. Der erste Satz zieht sofort rein, der letzte Satz hallt nach. Und dazwischen hat man ein paar Formulierungen gefunden, die man sich einrahmen möchte. Genau dieses Gefühl wird aller Wahrscheinlichkeit nach Ullrich Fichtner gehabt haben, als er den letzten Punkt unter seine große „Spiegel“-Geschichte über Claas Relotius gesetzt hat. In diesem Moment, allerspätestens, hätte Fichtner jedoch auffallen müssen, dass das wohlige Gefühl, eine wohlklingende Geschichte geschrieben zu haben, diesmal völlig deplatziert ist.
Dieser Super-GAU des „narrativen Journalismus“, der gerade einen medialen Tsunami an Reaktionen und Stellungnahmen entfacht, ist eine echte Katastrophe, untergräbt er doch weiter die Glaubwürdigkeit des Qualitätsjournalismus, um den sich noch immer viele aufrechte Journalistinnen und Journalisten täglich ernsthaft bemühen. Scheint jenen recht zu geben, die nurmehr „Lügenpresse“ wahrnehmen abseits ihrer jeweiligen Filterbubble-Kleinstmedien.
Dabei sind doch keine LÜGEN, was der Claas da zu so wundervoll preiswürdigen „Langstücken“ computiert hat, es ist TATSACHENFANTASIE!
Dass der Spiegel jetzt so tut bzw. tun muss, als sei das ein schlimer, immer wieder durch die Maschen der Faktenchecks gerutschter wiederholter Einzelfall – geschenkt!
Es fällt mir schwer, in Worte zu fassen, wie mich diese „Entlarvung“ berührt. Das Ereignis bestätigt meine Missempfindungen bezüglich dieser journalistisch aufbereiteten „Geschichten“, in denen das Zeitgeschehen ins Erleben einzelner Personen „verdichtet“ (sic!) wird, um Lesers Herz und Bauch anzusprechen.
So etwas lese ich schon lange nicht mehr und bin deshalb auch nicht traurig, dass diese „Stücke“ zunehmend hinter Zahlschranken verschwinden. Wenn es ins „Narrative“ geht und mir berichtet wird, was Mehmet H. oder Linda B. mitten im Kriegs- oder Krisengebiet höchstpersönlich zu leiden haben, fühle ich die Übergriffigkeit des Journalisten, das berechnende Zählen auf meine Anteilnahme – wärend für ihn (oder sie) die Menschen doch nur der „Stoff“ sind, aus dem die wertvollen Storys gesponnen werden. (Fast besser, wenns nur erfunden ist!)
Mit diesem Hype ums „Geschichten erzählen“ hat mich der Journalismus ein Stück weit verloren. Schon lange. Ich will Infos, Hintergründe und Analysen, um mir eine Meinung zu bilden, keine gefühlige Seelenmassage (das kann Film/TV sowieso besser). Journalisten sollten nicht versuchen, Literatur zu machen – oder halt umsatteln!
Angesichts der SPIEGEL-Geschichte rund um #Relotius frag ich mich im Moment: Ob sich wohl jemand darum sorgt, was der jetzt macht? So, wie Fichtner ihn beschreibt: als einen, der seine Geschichten erfand, um „zu liefern“, wenn die Realität nicht ergiebig genug war – wie muss es ihm jetzt im Mittelpunkt eines medialien Shitstorms der Extraklasse gehen?
Furchtbar das alles!
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2 Kommentare zu „Wort des Tages: Tatsachenfantasie“.