Dass ich es noch erleben werde, hab‘ ich immer schon gedacht. Dass es so schnell und so weit geht, nicht.
In einem spektakulären Urteil hat das Bundesverfassungsgericht die „geschäftsmäßige Sterbehilfe“ erlaubt, die erst 2015 im neuen §217 unter Strafe gestellt worden war. Das hatte zur Folge, dass plötzlich auch Ärzte und Pflegende einem strafrechtlichen Risiko ausgesetzt waren: Etwa wenn sie Todkranken starke Schmerzmittel geben, die AUCH den Tod zur Folge haben können. Denn der Beriff „geschäftsmäßig“ wurde sehr weit ausgelegt und umfasste auch wiederholte Handlungen ohne Gewinnabsicht, wie sie für Ärzte im Sterbehilfefall unvermeidlich sind.
Die Lage für Sterbewillige hatte sich also noch verschlechtert, woran auch ein früheres Urteil der Verfassungsrichter nichts änderte, dass die Herausgabe tödlicher Medikamente an schwer leidende Kranke erlaubte. Gesundheitsminister Jens Spahn hat das nicht nur ignoriert, sondern per Erlass sogar verboten, den Anträgen der Betroffenen zu entsprechen. Eine knallharte Verweigerung!
Politik gegen den Willen der großen Mehrheit
Sowohl die Gesetzgebung 2015 als auch dieser verfassungswidrige Erlass fanden vor dem Hintergrund einer überwältigenden Mehrheit der Bundesbürger statt, die sich klar FÜR die assistierte Sterbehilfe aussprachen. So wurde u.a. deutlich, dass der Einfluss der christlichen Kirchen auf Politiker viel größer ist als ihre Kraft, die Bevölkerung von ihren Ansichten zu überzeugen.
Das Bundesverfassungsgericht hat nun allen, die weiterhin den Willen der Menschen am liebsten ignorieren wollen, ein riesiges Stoppschild in den Weg gestellt. Oberster Wert im Urteil ist die Selbstbestimmung der Sterbewilligen – und zwar ganz egal, was diese für Gründe haben mögen, aus dem Leben zu scheiden. Aus der Urteilsbegründung:
„Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben ist nicht auf fremddefinierte Situationen wie schwere oder unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte Lebens- und Krankheitsphasen beschränkt. Es besteht in jeder Phase menschlicher Existenz. Eine Einengung des Schutzbereichs auf bestimmte Ursachen und Motive liefe auf eine Bewertung der Beweggründe des zur Selbsttötung Entschlossenen und auf eine inhaltliche Vorbestimmung hinaus, die dem Freiheitsgedanken des Grundgesetzes fremd ist. Die Entscheidung des Einzelnen, dem eigenen Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, entzieht sich einer Bewertung anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder für den Umgang mit Leben und Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit. Sie bedarf keiner weiteren Begründung oder Rechtfertigung, sondern ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.“
Wenig Spielraum für Regulierungen
Das setzt neuen Regulierungen enge Grenzen, da der Sterbewunsch nicht inhaltlich bewertet werden darf. Allenfalls sind z.B. Wartezeiten und Beratungspflichten möglich, die je nach Lebenssituation anders ausfallen können.
Dass nicht nur Ärzte Sterbehilfe leisten dürfen, sondern auch Dritte, die „geschäftsmäßig“ agieren, begründet das Gericht nochmal extra scharf:
„Das Recht, sich selbst zu töten, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen. Das Grundgesetz gewährleistet die Entfaltung der Persönlichkeit im Austausch mit Dritten, die ihrerseits in Freiheit handeln. Ist die Wahrnehmung eines Grundrechts von der Einbeziehung Dritter abhängig und hängt die freie Persönlichkeitsentfaltung an der Mitwirkung eines anderen, schützt das Grundrecht auch davor, dass es nicht durch ein Verbot gegenüber Dritten, im Rahmen ihrer Freiheit Unterstützung anzubieten, beschränkt wird.“
Und weiter:
„Die in den Berufsordnungen der meisten Landesärztekammern festgeschriebenen berufsrechtlichen Verbote ärztlicher Suizidhilfe unterstellen die Verwirklichung der Selbstbestimmung des Einzelnen nicht nur geografischen Zufälligkeiten, sondern wirken zumindest faktisch handlungsleitend. Der Zugang zu Möglichkeiten der assistierten Selbsttötung darf aber nicht davon abhängen, dass Ärzte sich bereit zeigen, ihr Handeln nicht am geschriebenen Recht auszurichten, sondern sich unter Berufung auf ihre eigene verfassungsrechtlich verbürgte Freiheit eigenmächtig darüber hinwegsetzen. Solange diese Situation fortbesteht, schafft sie einen tatsächlichen Bedarf nach geschäftsmäßigen Angeboten der Suizidhilfe.“
Jens Spahn sucht schon wieder nach Wegen, das Urteil zu umgehen, indem er sich auf den folgenden Absatz im Urteil beruft:
„Von einer solchen individuellen ärztlichen Bereitschaft wird man bei realistischer Betrachtungsweise nur im Ausnahmefall ausgehen können. Ärzte zeigen bislang eine geringe Bereitschaft, Suizidhilfe zu leisten, und können hierzu auch nicht verpflichtet werden; aus dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben leitet sich kein Anspruch gegenüber Dritten auf Suizidhilfe ab. „
Somit könne eine Behörde nicht gezwungen werden, den Zugang zu den erforderlichen Medikamenten zu ermöglichen. Krass, denn aus dem Kontext geht klar hervor, dass hier die einzelnen Ärzte gemeint sind, die man – zu recht! – nicht zwingen kann und soll, Sterbehilfe zu leisten. Zum Glück wird das Gericht an anderer Stelle sehr deutlich, was die staatlichen Mitwirkungspflichten angeht:
„Allerdings muss dem Recht des Einzelnen, aufgrund freier Entscheidung mit Unterstützung Dritter aus dem Leben zu scheiden, auch faktisch hinreichender Raum zur Entfaltung und Umsetzung belassen werden. Das erfordert nicht nur eine konsistente Ausgestaltung des Berufsrechts der Ärzte und der Apotheker, sondern möglicherweise auch Anpassungen des Betäubungsmittelrechts“
Geschäftsmäßige Sterbehilfe ab sofort möglich
Was viele anscheinend nicht wirklich realisieren: Momentan ist die „geschäftsmäßige Sterbehilfe“ möglich, denn es macht sich niemand mehr strafbar, der sie anbietet. Niemand muss auf ein Regulierungsgesetz warten, denn das Bundesverfassungsgericht hat den §217 StGB nicht einfach nur für „verfassungswidrig“ erklärt, sondern auch für „nichtig“. Das kommt selten vor und verhindert, dass die Sache auf die lange Bank geschoben werden kann, indem man sich nochmal viel Zeit für die „Umsetzung“ des Gerichtsurteils nimmt.
Sterbehilfevereine können also ab sofort Sterbehilfe anbieten, sofern sie in der Lage sind, die nötigen Mittel ohne die Mithilfe deutscher Behörden zu beschaffen. Das sollte machbar sein, die Welt ist groß! Kommt dann später ein Regulierungsgesetz, muss sich natürlich daran gehalten werden – aber bis dahin gibt es erstmal keine weiteren gesetzlichen Hürden.
Dammbruch, Entgleisung? Normalisierung?
Die Gegner der assistierten Sterbehilfe führen Zustände in den Niederlanden und Belgien an, wo die liberalisierten Gesetze zu einem „Dammbruch“ geführt hätten. Dort wurde die „aktive Sterbehilfe“ ab 2002 legalisiert, Ärzte wurden sogar dazu verpflichtet. Anfänglich ging es nur um final schwer leidende Kranke, mittlerweile suchen auch Demente und Minderjährige (mit Zustimmung der Eltern) auf diese Weise den Ausgang aus einem nicht mehr lebenswert erscheinenden Leben. Sogar ohne eigene Zustimmung werden Menschen getötet, nämlich mit dem Willen der Betreuenden und Angehörigen.(mehr dazu in „Für 180 Euro kommt der Tod per Post„).
Abgesehen von diesen Auswüchsen, die in Teilen im Grunde Fälle für den Staatsanwalt sind, weil das Verfahren auch den niederländischen Regelungen nicht entspricht, wundert es nicht, dass immer mehr Menschen „geplant“ ihr Leben beeden wollen, anstatt sich dem Verlauf einer tödlichen Krankheit mit all ihrem Leiden auszusetzen. Sie wollen nicht erst abwarten, bis die Lebensqualität soweit gesunken ist, dass sie nurmehr ein Schatten ihrer selbst sind.
Wundert das? Ist das gar verwerflich? Wir leben inmitten einer technischen Zivilisation, in der Kontrolle über alles Geschehen ein hoher Wert ist. Auch die Zahl der Kaiserschnitt-Geburten steigt seit Jahren und wurde zu einer gängigen Entbindungsmethode. Und das nicht bloß wegen unabweisbarer Risiken für Mutter und Kind, sondern aufgrund freier Entscheidung, z.B. aus Angst vor möglichen Folgen einer natürlichen Geburt wie etwa Dammriss und Inkontinenz.
Die religiös Inspirierten, die die Hingabe ans Geschehen predigen, weil sowohl Leben als auch Tod allein in Gottes Hand lägen, finden bei der Mehrheit kein Gehör mehr. Gestern auf Twitter meinte sogar jemand, dass „´qualvolles Sterben“ doch einen Sinn entfalten könne! Ich frage mich, wann sich dieser Sinn denn entfalten soll wenn der Mensch doch grade stirbt? Ein Glück, dass wir solchen Vorstellungen nicht mehr ausgeliefert sind! Es bleibt den Religiösen doch unbenommen, selbst ihre Hingabe ans Leiden zu üben – aber bitte nicht Anderen verordnen!
Ja, ich rechne mit einer Normalisierung des geplanten Freitods in den nächsten 20 Jahren und bin froh, dass das Bundesverfassungsgericht diese Tür geöffnet hat. Jede allzu restriktive Regulierung wird erneut vor dem Gericht scheitern, das die Selbstbestimmung des Individuums über die Art seines Ablebens an die oberste Stelle gesetzt hat.
Übrigens: Schon heute entfallen 45 Prozent aller Suizidfälle auf die Altersgruppe 60 plus. Was also befürchtet wird, findet seit langem statt: Menschen bringen sich um, um ihrer Krankheit zu entgehen, weil der Partner gestorben ist, aus Einsamkeit oder weil sie die Abhängigkeit im Pflegebetrieb scheuen. Zumindest müssen sie sich jetzt nicht mehr erschießen, erhängen oder vor den Zug stürzen, sondern können ihr Leben mit Hilfe Dritter auf weitgehend leidfreie Weise beenden.
Was meint Ihr zu alledem?
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19 Kommentare zu „Sterbehilfe: Bundesverfassungsgericht erklärt §217 für nichtig“.