Claudia am 27. Februar 2020 —

Sterbehilfe: Bundesverfassungsgericht erklärt §217 für nichtig

Dass ich es noch erleben werde, hab‘ ich immer schon gedacht. Dass es so schnell und so weit geht, nicht.

In einem spektakulären Urteil hat das Bundesverfassungsgericht die „geschäftsmäßige Sterbehilfe“ erlaubt, die erst 2015 im neuen §217 unter Strafe gestellt worden war. Das hatte zur Folge, dass plötzlich auch Ärzte und Pflegende einem strafrechtlichen Risiko ausgesetzt waren: Etwa wenn sie Todkranken starke Schmerzmittel geben, die AUCH den Tod zur Folge haben können. Denn der Beriff „geschäftsmäßig“ wurde sehr weit ausgelegt und umfasste auch wiederholte Handlungen ohne Gewinnabsicht, wie sie für Ärzte im Sterbehilfefall unvermeidlich sind.

Die Lage für Sterbewillige hatte sich also noch verschlechtert, woran auch ein früheres Urteil der Verfassungsrichter nichts änderte, dass die Herausgabe tödlicher Medikamente an schwer leidende Kranke erlaubte. Gesundheitsminister Jens Spahn hat das nicht nur ignoriert, sondern per Erlass sogar verboten, den Anträgen der Betroffenen zu entsprechen. Eine knallharte Verweigerung!

Politik gegen den Willen der großen Mehrheit

Sowohl die Gesetzgebung 2015 als auch dieser verfassungswidrige Erlass fanden vor dem Hintergrund einer überwältigenden Mehrheit der Bundesbürger statt, die sich klar FÜR die assistierte Sterbehilfe aussprachen. So wurde u.a. deutlich, dass der Einfluss der christlichen Kirchen auf Politiker viel größer ist als ihre Kraft, die Bevölkerung von ihren Ansichten zu überzeugen.

Das Bundesverfassungsgericht hat nun allen, die weiterhin den Willen der Menschen am liebsten ignorieren wollen, ein riesiges Stoppschild in den Weg gestellt. Oberster Wert im Urteil ist die Selbstbestimmung der Sterbewilligen – und zwar ganz egal, was diese für Gründe haben mögen, aus dem Leben zu scheiden. Aus der Urteilsbegründung:

„Das Recht auf selbstbestimmtes Sterben ist nicht auf fremddefinierte Situationen wie schwere oder unheilbare Krankheitszustände oder bestimmte Lebens- und Krankheitsphasen beschränkt. Es besteht in jeder Phase menschlicher Existenz. Eine Einengung des Schutzbereichs auf bestimmte Ursachen und Motive liefe auf eine Bewertung der Beweggründe des zur Selbsttötung Entschlossenen und auf eine inhaltliche Vorbestimmung hinaus, die dem Freiheitsgedanken des Grundgesetzes fremd ist. Die Entscheidung des Einzelnen, dem eigenen Leben entsprechend seinem Verständnis von Lebensqualität und Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz ein Ende zu setzen, entzieht sich einer Bewertung anhand allgemeiner Wertvorstellungen, religiöser Gebote, gesellschaftlicher Leitbilder für den Umgang mit Leben und Tod oder Überlegungen objektiver Vernünftigkeit. Sie bedarf keiner weiteren Begründung oder Rechtfertigung, sondern ist im Ausgangspunkt als Akt autonomer Selbstbestimmung von Staat und Gesellschaft zu respektieren.“

Wenig Spielraum für Regulierungen

Das setzt neuen Regulierungen enge Grenzen, da der Sterbewunsch nicht inhaltlich bewertet werden darf. Allenfalls sind z.B. Wartezeiten und Beratungspflichten möglich, die je nach Lebenssituation anders ausfallen können.

Dass nicht nur Ärzte Sterbehilfe leisten dürfen, sondern auch Dritte, die „geschäftsmäßig“ agieren, begründet das Gericht nochmal extra scharf:

„Das Recht, sich selbst zu töten, umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen. Das Grundgesetz gewährleistet die Entfaltung der Persönlichkeit im Austausch mit Dritten, die ihrerseits in Freiheit handeln. Ist die Wahrnehmung eines Grundrechts von der Einbeziehung Dritter abhängig und hängt die freie Persönlichkeitsentfaltung an der Mitwirkung eines anderen, schützt das Grundrecht auch davor, dass es nicht durch ein Verbot gegenüber Dritten, im Rahmen ihrer Freiheit Unterstützung anzubieten, beschränkt wird.“

Und weiter:

„Die in den Berufsordnungen der meisten Landesärztekammern festgeschriebenen berufsrechtlichen Verbote ärztlicher Suizidhilfe unterstellen die Verwirklichung der Selbstbestimmung des Einzelnen nicht nur geografischen Zufälligkeiten, sondern wirken zumindest faktisch handlungsleitend. Der Zugang zu Möglichkeiten der assistierten Selbsttötung darf aber nicht davon abhängen, dass Ärzte sich bereit zeigen, ihr Handeln nicht am geschriebenen Recht auszurichten, sondern sich unter Berufung auf ihre eigene verfassungsrechtlich verbürgte Freiheit eigenmächtig darüber hinwegsetzen. Solange diese Situation fortbesteht, schafft sie einen tatsächlichen Bedarf nach geschäftsmäßigen Angeboten der Suizidhilfe.“

Jens Spahn sucht schon wieder nach Wegen, das Urteil zu umgehen, indem er sich auf den folgenden Absatz im Urteil beruft:

„Von einer solchen individuellen ärztlichen Bereitschaft wird man bei realistischer Betrachtungsweise nur im Ausnahmefall ausgehen können. Ärzte zeigen bislang eine geringe Bereitschaft, Suizidhilfe zu leisten, und können hierzu auch nicht verpflichtet werden; aus dem Recht auf selbstbestimmtes Sterben leitet sich kein Anspruch gegenüber Dritten auf Suizidhilfe ab. „

Somit könne eine Behörde nicht gezwungen werden, den Zugang zu den erforderlichen Medikamenten zu ermöglichen. Krass, denn aus dem Kontext geht klar hervor, dass hier die einzelnen Ärzte gemeint sind, die man – zu recht! – nicht zwingen kann und soll, Sterbehilfe zu leisten. Zum Glück wird das Gericht an anderer Stelle sehr deutlich, was die staatlichen Mitwirkungspflichten angeht:

„Allerdings muss dem Recht des Einzelnen, aufgrund freier Entscheidung mit Unterstützung Dritter aus dem Leben zu scheiden, auch faktisch hinreichender Raum zur Entfaltung und Umsetzung belassen werden. Das erfordert nicht nur eine konsistente Ausgestaltung des Berufsrechts der Ärzte und der Apotheker, sondern möglicherweise auch Anpassungen des Betäubungsmittelrechts“

Geschäftsmäßige Sterbehilfe ab sofort möglich

Was viele anscheinend nicht wirklich realisieren: Momentan ist die „geschäftsmäßige Sterbehilfe“ möglich, denn es macht sich niemand mehr strafbar, der sie anbietet. Niemand muss auf ein Regulierungsgesetz warten, denn das Bundesverfassungsgericht hat den §217 StGB nicht einfach nur für „verfassungswidrig“ erklärt, sondern auch für „nichtig“. Das kommt selten vor und verhindert, dass die Sache auf die lange Bank geschoben werden kann, indem man sich nochmal viel Zeit für die „Umsetzung“ des Gerichtsurteils nimmt.

Sterbehilfevereine können also ab sofort Sterbehilfe anbieten, sofern sie in der Lage sind, die nötigen Mittel ohne die Mithilfe deutscher Behörden zu beschaffen. Das sollte machbar sein, die Welt ist groß! Kommt dann später ein Regulierungsgesetz, muss sich natürlich daran gehalten werden – aber bis dahin gibt es erstmal keine weiteren gesetzlichen Hürden.

Dammbruch, Entgleisung? Normalisierung?

Die Gegner der assistierten Sterbehilfe führen Zustände in den Niederlanden und Belgien an, wo die liberalisierten Gesetze zu einem „Dammbruch“ geführt hätten. Dort wurde die „aktive Sterbehilfe“ ab 2002 legalisiert, Ärzte wurden sogar dazu verpflichtet. Anfänglich ging es nur um final schwer leidende Kranke, mittlerweile suchen auch Demente und Minderjährige (mit Zustimmung der Eltern) auf diese Weise den Ausgang aus einem nicht mehr lebenswert erscheinenden Leben. Sogar ohne eigene Zustimmung werden Menschen getötet, nämlich mit dem Willen der Betreuenden und Angehörigen.(mehr dazu in „Für 180 Euro kommt der Tod per Post„).

Abgesehen von diesen Auswüchsen, die in Teilen im Grunde Fälle für den Staatsanwalt sind, weil das Verfahren auch den niederländischen Regelungen nicht entspricht, wundert es nicht, dass immer mehr Menschen „geplant“ ihr Leben beeden wollen, anstatt sich dem Verlauf einer tödlichen Krankheit mit all ihrem Leiden auszusetzen. Sie wollen nicht erst abwarten, bis die Lebensqualität soweit gesunken ist, dass sie nurmehr ein Schatten ihrer selbst sind.

Wundert das? Ist das gar verwerflich? Wir leben inmitten einer technischen Zivilisation, in der Kontrolle über alles Geschehen ein hoher Wert ist. Auch die Zahl der Kaiserschnitt-Geburten steigt seit Jahren und wurde zu einer gängigen Entbindungsmethode. Und das nicht bloß wegen unabweisbarer Risiken für Mutter und Kind, sondern aufgrund freier Entscheidung, z.B. aus Angst vor möglichen Folgen einer natürlichen Geburt wie etwa Dammriss und Inkontinenz.

Die religiös Inspirierten, die die Hingabe ans Geschehen predigen, weil sowohl Leben als auch Tod allein in Gottes Hand lägen, finden bei der Mehrheit kein Gehör mehr. Gestern auf Twitter meinte sogar jemand, dass „´qualvolles Sterben“ doch einen Sinn entfalten könne! Ich frage mich, wann sich dieser Sinn denn entfalten soll wenn der Mensch doch grade stirbt? Ein Glück, dass wir solchen Vorstellungen nicht mehr ausgeliefert sind! Es bleibt den Religiösen doch unbenommen, selbst ihre Hingabe ans Leiden zu üben – aber bitte nicht Anderen verordnen!

Ja, ich rechne mit einer Normalisierung des geplanten Freitods in den nächsten 20 Jahren und bin froh, dass das Bundesverfassungsgericht diese Tür geöffnet hat. Jede allzu restriktive Regulierung wird erneut vor dem Gericht scheitern, das die Selbstbestimmung des Individuums über die Art seines Ablebens an die oberste Stelle gesetzt hat.

Übrigens: Schon heute entfallen 45 Prozent aller Suizidfälle auf die Altersgruppe 60 plus. Was also befürchtet wird, findet seit langem statt: Menschen bringen sich um, um ihrer Krankheit zu entgehen, weil der Partner gestorben ist, aus Einsamkeit oder weil sie die Abhängigkeit im Pflegebetrieb scheuen. Zumindest müssen sie sich jetzt nicht mehr erschießen, erhängen oder vor den Zug stürzen, sondern können ihr Leben mit Hilfe Dritter auf weitgehend leidfreie Weise beenden.

Was meint Ihr zu alledem?

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Das ganze Urteil im Newsfeed des BVerfG

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Diskussion

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19 Kommentare zu „Sterbehilfe: Bundesverfassungsgericht erklärt §217 für nichtig“.

  1. Ja, @Claudia – ein sehr gutes Urteil zur Sterbehilfe.
    Der Nachdenkseiten-Beitrag ist deinen Einlassungen dazu recht nahe:
    https://www.nachdenkseiten.de/?p=58861#more-58861

    Und allerhöchste Zeit, dass die autoritäre Blockade des amtierenden
    Gesundheitsministers Spahn ein Ende findet. Die SPD- Fraktionsvorsitzende Bärbel Bas fordert:
    „Jens Spahn muss jetzt seinen Widerstand gegen die Abgabe der dazu notwendigen Medikamente aufgeben.
    Bisher verhindere Spahn, dass das zuständige Bundesinstitut Schwerkranken auf Antrag Zugang zu Betäubungsmitteln in tödlicher Dosis ermöglicht – obwohl ihn ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts von 2017 dazu verpflichten würde.“

    Der Beitrag hier über sog. ‚Sterbefasten‘ interessiert evtl. auch:
    https://www.deutschlandfunk.de/streitfall-sterbefasten-wenn-menschen-ihr-leben-durch.886.de.html?dram:article_id=466221

  2. @Claudia – „Wir leben inmitten einer technischen Zivilisation, in der Kontrolle über alles Geschehen ein hoher Wert ist. Auch die Zahl der Kaiserschnitt-Geburten steigt seit Jahren und wurde zu einer gängigen Entbindungsmethode. Und das nicht bloß wegen unabweisbarer Risiken für Mutter und Kind, sondern aufgrund freier Entscheidung, z.B. aus Angst vor möglichen Folgen einer natürlichen Geburt wie etwa Dammriss und Inkontinenz.“

    Dazu ein differenzierter Beitag, der begründet, dass Kaiserschnitte
    auch „falsche Sicherheit“ versprechen:
    https://www.unsere-hebammen.de/fakten-infos/fragen-und-antworten/hohe-kaiserschnittrate/

  3. Ich habe das nie wirklich verstanden. Wenn jemand, sagen wir, eine unheilbare Krankheit hat, sein Leben beenden will und noch so fit ist, dass er alles selbst arrangieren kann, dann tut er das eben. Fritz J. Raddatz und Gunther Sachs waren zwei prominente Beispiele. Wenn einer ebenso unheilbar krank ist, aus dem Leben gehen will, geistig klar, aber eben bettlägerig und auf Hilfe angewiesen ist, dem wurde und wird es verwehrt. Oder es macht/e sich jemand strafbar.

  4. @Stefan: wer reicht genug ist, hat auch nahezu jede Freiheit. Wer das nicht ist, hat bisher Pech gehabt oder musste brachiale Methoden wählen, die man als Schwerkranker aber auch nicht mehr schafft. Deshalb ist das Urteil ja so toll – und wie man sieht, nervt es die üblichen Verdächtigen, die mit dem mündigen Bürger wenig am Hut haben.

    @Ute: ich denke, Spahn hat sich mit seiner Haltung zur Sterbehilfe und seinen Methoden, das höchste Gericht zu irgnorieren keine Freunde gemacht, sondern Sympathien verloren.

  5. Was in der Endphase des Lebens mit Sterbenden angestellt wird, kann eine richtige Horror-Hölle sein. Das zeigt die Doku „Sterben verboten“ an einem drastischen Einzelfall, der mich echt erschüttert hat!
    Diese Ärzte machen einfach, was sie wollen! Eine Op und belastende Behandlung nach der anderen, wochenlang – und das alles ohne echte Gespräche mit den Angehörigen, die nicht im Stande waren, den ignoranten „Göttern in Weiß“ erfolgreich Contra zu geben. Erst die Drohung mit einer Anzeige setzte dem Martyrium des Betroffenen ein Ende. Furchtbar!!!
    Das gehört nur „über Eck“ zum Thema, doch ist diese Übertherapie am Ende kein Einzelfall, sondern vielerorts gängige Praxis. Die ständig formulierten Bedenken gegen assistierte Sterbehilfe wird ja oft mit der These begründet, man wolle verhindern, dass die Alten von den Angehörigen gedrängt werden – so wie es jetzt ist, lässt sich allerding eher vermuten, dass zumindest einige Akteure um die Umsatzbringer fürchten, wenn sich tatsächlich eine „Kultur des selbstbestimmten Abtretens“ entwickeln sollte.

    Dass das nicht nur eine Vermutung ist, hat der Palliativ-Arzt Matthias Thöns ermittelt, der das Buch „Patient ohne Verfügung – das Geschäft mit dem Lebensende“ heraus gebracht hat und zusammen mit Monitor „under cover“ sogar extrem betrügerische und menschenfeindliche Machenschaften aufgedeckt hat. Hier eine Leseprobe, ein echter Hammer!
    Und hier noch ein Interview mit Thöns, in dem er Klartext redet.

  6. Danke, Claudia, für die Verlinkungen. Das Gespräch mit dem Palliativ-Mediziner Thöns u. die Leseprobe führen drastisch vor Augen, dass und wie wirtschaftliche Interessen aus Tod u. Sterben ein ‚Geschäftsmodell‘, machen.
    Der Diakonie-Präsident Ulrich Lilie befürchtet, dass ‚die Mechanismen der Marktgesellschaft‘ sterbende Menschen als belastenden Kostenfaktor
    betrachten und aufgrund dessen notwendige Hilfestellungen leidenden Menschen versagen, sprich deren Sterben beschleunigen (könnten).

    All das verdeutlicht, dass und wie wirtschaftliche Interessen ‚die eine wie die andere Richtung‘ zur Profitgenerierung bedienen kann.
    Der Diakonie-Präsident begründet seine Kritik zum Sterbehilfe-Urteil u.a. mit der Feststellung: „Es gibt auch einen Fetisch der Selbstbestimmung“.
    (soeben in der dlf-Sendung – Tag f. Tag gehört)
    Dies, so scheint mir, verrät sehr viel über das dahinter liegende Motiv der Kirchen, die befürchten ihren Deutungs- u. Hoheitsanspruch über Tod u. Leben zu verlieren. Gott sei Dank, kann ich da nur sagen.

    „Es gibt auch einen Fetisch der Selbstbestimmung“
    Diakonie-Präsident Ulrich Lilie kritisiert das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Paragrafen

  7. Lesens- bzw. hörenswert das Interview mit der
    Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert :

    https://www.deutschlandfunk.de/urteil-zur-sterbehilfe-entscheidung-ist-ausdruck-einer.886.de.html?dram:article_id=471183

  8. Es gibt bestimmt gut begründete Gegenpositionen. Volker Beck hat den Gegensatz seiner Position zu der von Peter Hintze aus der damaligen Debatte im heutigen Morning-Briefing von Gabor Steingart nochmals herausgearbeitet und bekräftigt. Ich war damals überrascht, dass ein Mann wie Hintze die Position Pro Sterbehilfe vertrat. Als ehemaliger Pfarrer hätte er für das Gegenteil stehen können.

    Persönlich vertrete ich seit dieser Debatte von damals den Standpunkt, dass der Staat sich bei dieser letzten Entscheidung, die wir Menschen als Individuen zu treffen haben, nicht einmischen dürfte und war enttäuscht über die Entscheidung. Inwieweit der damals als „Ausweg“ definierte Ausbau der Palliativ-Medizin vorangekommen ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Schau ich die Entwicklung in meiner Region an, habe ich den Eindruck, da kommt wenig voran.

    Ich finde es beruhigend, dass ein Mensch im Fall der Fälle die Entscheidung frei treffen kann. Es hat zwar nichts direkt damit zu tun. Wenn man hört, dass sich Ärzte in Krankenhäusern über Patientenverfügungen hinwegsetzen und trotz Hoffnungslosigkeit weiter behandeln und operieren, könnte die Entscheidung auch dieser dokumentierten und für mich verbrecherischen Handlungsweise einen Riegel vorschieben.

  9. Gestern hab ich mir auch die Sendung angeschaut, die im ZDF direkt rund um die Urteilsverkündung gezeigt wurde – Life aus dem BVerfG, daneben ins Studio zugeschaltet einer der hochbetagten Kläger.
    Ergreifend, ihm sind die Freudentränen gekommen! Vier Jahre hat er dafür gekämpft!
    Viele, allen voran Jens Spahn, tun jetzt immer noch so, als hätten sie den Schuss nicht gehört! Als könne man diesem klaren Urteil noch irgendwas „umdeutelndes“ entgegen setzen – wie etwa eine verzerrende Interpretation des Satzes „Niemand darf zur Sterbehilfe gezwungen werden“ (der sich klar auf Individuuen, etwa Ärzte bezieht). Spahn behauptet jetzt, das gelte auch für Behörden – und will sich offenbar weigern, seinen Medikamentenverweigerungserlass zurück zu nehmen. Der Mann wir zum Verfassungsfeind – ich fand den mal gut, das ist vorbei! (Wenn man übrigens den Medikamentennamen googelt, findet man eine Menge Anbieter im Netz. Dass da auch Betrüger drunter sind, die irgend ein Pulver verkaufen, ist dann aber das Risiko. Die armen Tieren, an denen die Leute das vermutlich erst testen…)

    Zur Palliativmedizin: das Gericht sagte ganz klar, dass sich das Recht auf Sterbehilfe nicht auf das finale Stadium einer schweren Krankheit beschränkt. Die meisten wünschen sich, zuhause zu sterben – also NICHT im Hospiz oder gar Krankenhaus.

    Ps. Thomas Fischer im SPIEGEL:

    „Ebenso falsch sind Beteuerungen, die Palliativmedizin halte für jeden beliebigen Fall des Leidens ausreichende und menschenfreundliche Mittel bereit. Das ist schon medizinisch nicht zutreffend; es wiederholt auch implizit nur eine angebliche „Pflicht“ des einzelnen Menschen, sich möglichst lange, intensiv und ohne Ausweg der medizinischen Heilfürsorge oder Sterbensbegleitung nach Maßgabe des jeweiligen Fortschritts und Angebots an Opioiden und Psychotherapie hinzugeben. Eine solche Pflicht des Bürgers und Menschen besteht aber nicht – niemandem gegenüber.“

  10. Spahns Verhalten ist in dieser Frage klar. Ganz verstanden habe ich seine Haltung nicht, er zieht sich ja auf die gleiche Position zurück, die auch Volker Beck hat. Als er gefragt wurde, ob sein Glaube entscheidend sei (er ist Katholik) verneinte er dies. Spahn wird sich schon an Recht und Gesetz halten. Er braucht Zeit. Das Urteil war so ja wohl auch nicht unbedingt zu erwarten und ist für ihn deshalb sicher auch eine Überraschung. In seinem Fall halt keine Positive.

  11. @Horst – dass Spahn Zeit braucht, dürfte stimmen. Dass er als Chef des Bundesgesundheitsministerium mit verhindert hat, dass Todkranke ein Medikament zur Sterbehilfe erhalten, läßt Zweifel aufkommen, ob Spahn sich zukünftig an Recht und Gesetz halten wird. Es ist ja nicht allein die moralische Anmaßung, die Spahn an den Tag legt(e), sondern seine Verhinderungsstrategie kann auch als Rechtsbeugung angesehen werden.

    Stimme @Claudia zu, was sie zu Spahn sagt: „….hat sich mit seiner Haltung zur Sterbehilfe und seinen Methoden, das höchste Gericht zu irgnorieren keine Freunde gemacht, sondern Sympathien verloren.“

    Meine Sympathie hat er deshalb nicht verloren, weil ich bisher keine für ihn hegte. ;-)

  12. @Ute: ich fand es gut, dass er Dinge anpackt! Und in Diskussionen über den Pflegenotstand wirkte er engagiert und intelligent.

  13. @Claudia – das ist ja oft bei Politiker_innen so: Sie ‚wirken‘ kompetent !

    Spahns ‚anpackende Art‘ greift wohl öfters zu kurz. Siehe
    ‚Terminservice-u. Versorgungsgesetz‘ http://www.nachdenkseiten.de/?p=48743

    Aber auch die Masern-Impfpflicht ist nicht durchdacht:
    https://scilogs.spektrum.de/menschen-bilder/impfpflicht-im-kontext-unserer-gesundheitskultur/

    https://www.deutschlandfunk.de/masern-impfpflicht-viele-detailfragen-noch-offen.1773.de.html?dram:article_id=471370

    Bei diesem Hype um die Masern-Pflichtimpfung und den vermeintlich „esoterischen Impfverweiger_innen“ wird meist nicht kommuniziert, dass
    der Masernimpfstoff ein dreifacher ist (Masern,Röteln, Mumps), also nicht isoliert verabreicht wird. Das ist der Grund, warum eines meiner Enkelkinder bisher noch keine Masernimpfung durchlaufen hat.
    Für Spahn besteht kein zusätzlicher Bedarf an monovalenten Masernimpfstoffen. Warum Jungs gegen Röteln geimpft werden sollen, hat der Gesundheitsminister bisher nicht beantwortet.

  14. Zu dem Artikel „Sterbehilfe: Ein sehr gutes Urteil“ gab es Zuschriften mit sehr unterschiedlichen Positionen.
    Sehr differenziert und weiter aufklärend finde ich die letzte Lesezuschrift dazu: https://www.nachdenkseiten.de/?p=58910#more-58910

  15. @Ute Plass „Warum Jungs gegen Röteln geimpft werden sollen, hat der Gesundheitsminister bisher nicht beantwortet.“

    Es geht bei Impfungen doch nicht nur darum, den Geimpften zu schützen. Das sollte insbesondere bei der Diskussion um die Massenschutzimpfung der letzten Jahre doch deutlich geworden sein. Das muss der Gesundheitsminister nicht noch einmal gesondert erklären.

  16. Masern – nicht Massen!

    Wobei es wirklich nur über die Masse funktioniert.

  17. @Brendon – Genau diese Begründung, mit der Impfung nicht (nur) sich, sondern andere, z.B. im Fall v. Röteln Schwangere zu schützen, ist ein fragwürdiges Argument. Menschen, die schwanger werden wollen, haben die Verantwortung für entsprechenden Impfschutz zu sorgen. Was hierzulande ziemlich durchgängig auch praktiziert wird.
    Siehe den oben verlinkten scilogs-Beitrag in dem sich mit dieser Argumentation vertieft auseinander gesetzt wird.

  18. @Ute, Brendan,
    habe gerade den Scilogs-Artikel gelesen – als Impfzwang-Befürworterin, um es gleich zu sagen.

    1) Die Zahlen, die er anfangs zitiert, finde ich nicht schlüssig. Wenn er bei der einen Behauptung meint, das basiere sowieso nur auf Schätzungen (und sie damit praktisch abwerrtet), dann gilt das wohl erst recht für die Zahlen der WHO. Somit ist nach wie vor unsicher, wieviel Prozent tatsächlich geschützt sind und ob die für den „Herdenschutz“ erforderliche Vorgabe erreicht ist.

    2) Der Vergleich mit den Verkehrstoten ist rein populistisch, denn wir haben generell gegenüber Todesgefahren, bei denen wir meinen, sie vermeiden zu können (Verkehr), eine andere Haltung als gegenüber jenen, gegen die wir nichts tun können (Ansteckung).

    3) Die Argumentation im Abschnitt „der Einzelne und das Kollektiv“ inkl. „Dammbruchargument“ halte ich für verfehlt – erst recht den Verweis auf die „jüngere deutsche Geschichte“. Für mich zeichnet sich unsere Gesellschaft eher durch einen Mangel an Verwantwortung für das „wir“ aus, als durch ein Zuviel an solchen Mitwirkungspflichten. Dass dann ja auch ein Alkohol- und Tabakverbot kommen könnte, ist ein falscher Vergleich, da es ja tatsächlich hier viele Einschränkungen gibt, die sowohl Andere (passiv Rauchen) als auch das Individuum (Jugendschutz) schützen sollen. Dabei wird auch nicht viel herum gerechtet, ob dem Individuum zuviel Sorge für Andere aufgebürdet wird. Der Konsens ist eher groß, im Fall von Alkohol dürfte er gerne größer sein – wir sind da mit am liberalsten, so als Säufernation.

    Dass es nur Kombi-Präperate gibt, halte ich allerdings für problematisch, da sich dadurch die Impfplicht faktisch erweitert. M.E. könnte man dagegen erfolgreich klagen.
    Dass das Gesetz Ausnahmen kennt, ist wiederum eine gute Sache.

  19. @Claudia – sehr wichtig, dein Verweis zu Individualschutz und ‚Herdenimmunität‘, sprich z.B. die Masernimpfung als solidarisches Handeln im Sinne des Gemeinschaftsschutzes anzusehen. Um den größtmöglichen Schutz zu erreichen stellt der o.a. verlinkte Beitrag die Frage, ob das mit Verboten/Strafen angegangen werden sollte und wenn ja, welche Konsequenzen dazu mit in den Blick genommen gehören.
    Umfassender dazu ist natürlich die Stellungnahme des Ethikrates zur
    Thematik ‚Impfen als Pflicht‘. Leider ist Herrn Spahn dessen Empfehlung
    nicht gefolgt, die zusammenfassend lautet:
    „Die Einführung einer De-facto-Impfpflicht wäre in Deutschland medizinisch ineffektiv, juristisch problematisch und soziologisch wahrscheinlich kontraproduktiv, was einen so tiefen Eingriff in fundamentale Grundrechte nicht legitimierbar macht.“
    https://www.ethikrat.org/fileadmin/Publikationen/Stellungnahmen/deutsch/stellungnahme-impfen-als-pflicht.pdf

    Nun denn, setze mal einen Punkt für mich mit dem Augenmerk auf den amtierenden Gesundheitsminister. Covid-19 beschert ihm ja genügend
    Aufmerksamkeit. ;-)