Der Aufbruch ins „neue Normal“ hat noch nicht viel Ähnlichkeit mit der Vor-Corona-Zeit. Dass die Restaurants bis 22 Uhr öffnen dürfen, hat ihnen keinen Ansturm beschert, Berlin ohne Touristen füllt nicht einmal die Außengastronomie, die derzeit – mit Abstandsregel – wieder offen hat.Noch immer kein Kino, keine Kneipen und Clubs, keine Straßenfeste, keine Konzerte und Großveranstaltungen. Es fehlt so vieles, das für Unterhaltung sorgte, auch das „Shopping“, das manche als „Hobby“ angeben, fühlt sich mit Maske und Abstand bei weitem nicht so gut an wie früher.
Statt dessen treibt viele die nackte Existenzangst um, auch Menschen, die es bisher ganz gut durch die Krise geschafft haben. Die wirtschaftlichen Prognosen könnten schlechter nicht sein und alle Routinen, die einst für Entlastung sorgten, sind so nicht mehr möglich. Was es für manche bedeutet, sich Monate lang nicht mehr in der Kneipe treffen zu können, um unter Einnahme geistiger Getränke über die Zumutungen der Welt im kleinen Kreis ordentlich abzulästern, stellt sich wohl niemand so richtig vor!
Abgesehen von Schulen, Kitas und anderen Bildungseinrichtungen ist es vor allem der Konsum, der wegen Corona weggefallen bzw. in reduzierte, weniger befriedigende Online-Alternativen verdrängt worden ist. Wenn wir ausgehen und verreisen, konsumieren wir Unterhaltung, Entspannung und Ablenkung von allerlei kleinen und größeren Problemen des Alltags. Mit dem Einkaufen über den Grundbedarf hinaus verschaffen wir uns gute Gefühle, Belohnungen, Möglichkeiten – die Nutzung der gekauften Dinge ist oft zweitrangig. Wer hat nicht schon mal Ausstattung gekauft für Aktivitäten, die dann doch nur ein- zweimal stattgefunden haben? Wieviele Klamotten und Schuhe stehen in Schränken und werden nie getragen? Wie viele Küchengeräte, Werkzeugmaschinen und Gadjets nie genutzt?
Der Wegfall der gewohnten Routinen schmerzt, macht ungeduldig und unleidlich. Die gewonnene Zeit nutzen nicht wenige, um im Netz nach Linderungen und Ventilen für den angestauten Frust zu suchen. Und sie werden fündig, es gibt genug „alternative Medien“, die auf sie warten, sie bestätigen, und auf 1001 Weise den „Widerstand“ zu organisieren trachten. Widerstand gegen alles, was nervt, zuvorderst die Corona-Maßnahmen, dann die Politik, den Staat, die Demokratie, die es angeblich nicht mehr gibt, den „Mainstream“, die „Lügenpresse“, die „Schlafschafe“ und vieles mehr. Bösewichte werden gefunden und angeprangert, Weltverschwörungen aufgedeckt, símple Erklärungen vertreiben das Unbehagen an Unsicherheit und Komplexität.
Eine Gesellschaft im Konsum-Detox ist kein Spaß! Konsum ist für das Leben im Kapitalismus so wichtig wie Zucker, Salz und Fett in der Ernährung. Fällt er weg, fehlt das Hauptschmiermittel unserer friedlichen Verbrauchergesellschaft – für manche jetzt Anlass, den Frieden aufzukündigen.
Seltsamerweise findet das umso mehr statt, je mehr „Lockerungen“ auf den Weg gebracht werden. Vielleicht, weil sich nun auch jene zu den Unzufriedenen gesellen, die ihre letzte, gefühlte Sicherheit durch die Lockerungen in Gefahr sehen. Menschen, die wirklich Angst vor Ansteckung haben. Die gehen zwar nicht zu Hygiene-Demos, tragen aber in den sozialen Medien zur Verschärfung der sowieso schon unterirdischen Debattenkultur bei.
Leider weiß ich nicht mehr, wer gesagt hat: „Der Kapitalismus lebt von Beständen, die er selbst nicht schafft“. Vielleicht ist das die große gemeinsame Ursache der Genervtheit von dem, was ist: das Sinndefizit, das eine bloß Konsum-orientierte Wirtschaft und Gesellschaft erzeugt. Deshalb auch der größere Protest in den „neuen“ Bundesländern: da wirkt noch eine andere Gesellschaftsordnung nach, in der das „Kollektiv“ große Bedeutung hatte und die Einzelnen nicht so sehr zu Wettbewerb und Konkurrenz erzogen wurden. Was immer bedeutet, dass es viele Verlierer gibt und Abstiegsängste bei vielen, denen es gar nicht so schlecht geht.
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8 Kommentare zu „Corona-Detox: Konsum ist wie Zucker, Salz und Fett zusammen“.