Florian Aigner hat auf Twitter ein Statement gepostet, das mir aus der Seele spricht. Mit seiner Erlaubnis gebe ich den Thread hier wieder:
Wir müssen einfach für höhere Bildung sorgen, dachte ich lange Zeit. Wir müssen der breiten Bevölkerung wissenschaftliche Fakten beibringen, Mathematik und logisches Denken, dann wird alles gut! Ich lag falsch. Was fehlt, lernt man entweder im Kindergarten – oder nie.
Mit Schaudern sehen wir, was derzeit geschieht: Die Bevölkerung zerfällt in Gruppen, die jeweils ihr eigenes Bild von der Welt zur Wahrheit erklären: Corona gibt es nicht. Klimawandel ist harmlos. Impfen ist gefährlich, weil uns Bill Gates Computerchips implantieren will.
In den USA gibt es zwei verschiedene Ansichten darüber, wer zum Präsidenten gewählt wurde. Das Problem dabei ist nicht, dass zu wenige Fakten zur Verfügung stehen, oder dass komplizierte Zusammenhänge nicht erklärt werden. Das Problem ist, dass Lügen nicht mehr als unanständig gilt.
Die Gefahr ist nicht Dummheit, Unkenntnis von Statistiken und Fakten, sondern moralische Verkommenheit. Unsere Gesellschaft beruht auf ungeschriebenen Gesetzen, das war uns zu wenig bewusst. Und diese Gesetze werden plötzlich überall gebrochen:
- Wenn ich widerlegt werde, muss ich zugeben, dass ich falsch lag.
- Was ich abgemacht habe, muss ich einhalten.
- Ich kann nicht mitten im Spiel die Regeln ändern, wenn mir das Ergebnis nicht gefällt.
- Es gibt Fakten, die wahr sind, auch wenn sie mir nicht gefallen.
Das sind Grundsätze, die man normalerweise im Kindergartenalter lernt. Das ist ein schwieriger Lernprozess, der oft ein paar Tobsuchtsanfälle und durch die Luft geschleuderte Brettspielfiguren mit sich bringt, aber die meisten Leute schaffen das.
Wissen, Bildung und Information kann erst auf Basis dieser moralischen Grundbedingungen wirksam werden. Und das ist unser Problem. Das moralische Minimum, das wir zum Aufrechterhalten gesellschaftlicher Kooperation brauchen, hat plötzlich zu wackeln begonnen.
Versteht mich nicht falsch: Es ist toll, wenn wir wissenschaftliche Erklärvideos machen, Impfstatistiken verständlich präsentieren und das US-Wahlsystem fundiert analysieren. Aber all das ist wertlos, wenn die Grundlektionen aus dem Trotzphasenalter nicht gelernt wurden.
Dann sind wir in derselben Situation wie der Schachgroßmeister, der gegen eine Taube verliert, weil sich die Taube nicht an die Regeln hält, die Figuren umwirft und auf das Spielbrett kackt. Dagegen kann man nicht gewinnen, auch wenn man die besten Züge kennt.
Wir müssen also irgendwie schaffen, nicht nur höhere Bildung zu verbreiten, sondern auch elementare moralische Grundbildung. Es darf sich in unserer Gesellschaft nicht lohnen, ein egoistisches Ekelpaket zu sein. Sonst ist all unser Wissen einfach umsonst.
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Florian Aigner ist Physiker, Autor und Wissenschaftspublizist. Er schreibt Bücher, twittert und hat auch eine Heimseite.
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20 Kommentare zu „Gastartikel:
Es ist nicht nur Bildung, die fehlt!“.