Götz Eisenberg hat im FREITAG einen hellsichtigen Artikel geschrieben, in dem er sich mit dem „diffusen Hass“ auseinandersetzt, der immer mehr um sich greift. Als Aufhänger dient ihm der Amokläufer, der kürzlich in der Uni Heidelberg auf Studierende geschossen und dabei eine Studentin getötet hat. Drei weitere wurden verletzt. Sein Motiv ist immer noch unbekannt, was nicht nur für diesen Amoklauf gilt. Eisenbergs Bewertung der Amoktaten weicht von den üblchen Erklärungsversuchen deutlich ab:
„Die landläufige Annahme, der Amokläufer bringe sich nach seiner Tat aus Schuldgefühlen darüber um, was er angerichtet habe, scheint falsch zu sein. Seine Morde sind nicht die Ursache für seinen Suizid, sondern seine Suizidabsichten sind die Ursache für seine Morde. Der Suizidant schafft es nicht, still und leise auf den Speicher zu gehen und sich aufzuhängen, sondern muss sich durch Morde in eine Lage bringen, die ihm keinen anderen Ausweg mehr lässt, als sich zu töten oder sich töten zu lassen. Erst jetzt – hinter sich verbrannte Erde und Leichen, vor sich die Polizei, in sich wachsende Panik – schafft er es, sich umzubringen“.
Im Weiteren geht es nicht um Amok-Ereignisse. Zügig nimmt der Autor die Ursachen unter die Lupe, die zum „frei flottierenden Hass“ führen, der sich in der Gesellschaft verbreitet und ein Ventil sucht:
„Gegenwärtig kristallisiert sich der Hass an der und um die Impfung aus, die auch als Metapher für all das verstanden werden kann, was den Menschen von außen und oben angetan und zugefügt wird. Karl Lauterbach und eine Regierung, die im Nebel der Pandemie herumstochert, müssen auch für all das herhalten, worüber die Leute sich ärgern.“
Das denke ich mir schon die ganze Zeit: Nie und nimmer ist dieser Widerstand allein aus Ablehnung der Impfung entstanden! Da muss zuvor schon viel anderes passiert sein, bevor z.B, eine Pflegekraft ins Mikrofon spricht: „Lieber gehe ich aus der Pflege, als dass ich mich impfen lasse!“ (Speziell in diesem Fall wissen wir sogar alle, was da schon lange passiert, geändert wird es trotzdem nicht).
Aber wir können nicht anders, auch wenn wir einsehen, dass wir müssten. Das ist ein mental und gefühlsmäßig deprimierender Zustand – und mag bei nicht wenige zum „diffusen Hass“ beitragen. Aber weiter mit Eisenbergs Gründen für das Geschehen. Dazu erzählt er eine Geschichte vom Bauern, der enteignet wird und den Baggerfahrer erschießen will, der auf sein Haus zurollt. Der aber verwickelt ihn in ein Gespräch, das zu Tage fördert, dass weder der Baggerfahrer noch irgend ein anderer konkret „Täter“ ist, dessen Erschießung befreiend wäre. Heute seien wir alle in der Situation dieses Bauern:
„Im Grunde ahnen oder spüren die Menschen heute, dass sie überflüssig sind oder es demnächst werden. Das, was man Digitalisierung nennt, wird sich als gigantisches „Arbeiterlegen“ (Helmut Reinicke) erweisen, die Wiederholung dessen, was Marx im Kontext der „ursprünglichen Akkumulation des Kapitals“ als „Bauernlegen“ beschrieben hat. Aus Bauern sollten damals Lohnarbeiter werden, heute werden diese zu Dienstleistern und Datenproduzenten – oder zu nichts. Das Kapital hat sich von der Ausbeutung der Ware Arbeitskraft weitgehend emanzipiert und nullt, ohne den Umweg über die Produktion realer Dinge zu gehen, tautologisch vor sich hin. Geldströme zischen um die Erde. Das Finanzkapital ist der Fetisch, die vor sich hin nullende Null, die Marx als logischen Endpunkt der Verselbstständigung des Wertes begriffen hat.“
Dann wird es wieder sehr konkret:
“ Die Menschen sind gehalten, das ihnen zur Verfügung stehende Geld auszugeben, Serien zu gucken, über ihre Smartphones zu wischen und dabei Daten zu hinterlassen, das ist alles. Das vage Gefühl der Überflüssigkeit ist der Kern der um sich greifenden Indifferenz. Die aus dieser Indifferenz rührende Leidenschaft ist der Hass – ohne Gegenstand und ohne Bindung an ein Objekt. Bindungslosigkeit ist die sozialpsychologische Signatur des Zeitalters. „Wenn die Gewalt aus der Unterdrückung aufsteigt, dann der Hass aus der Entleerung“, sagte Jean Baudrillard.“
Was passiert mit dem Hass? Das sehen wir derzeit überall. Mehr persönliche Angriffe, grundlos oder wegen Nichtigkeiten, Hass und Hetze in den sozialen Medien, totale Ausraster rund um das Thema „Maske“, tätliche Auseinandersetzungen bei Autobahn-Blockaden, auch häusliche Gewalt hat zugenommen, wen wunderts!
Da ich nun schon so viel zitiert habe, will ich auch die düstere Aussicht nicht vorenthalten, mit der Eisenberg endet:
„Die historische oder leidenschaftliche Gewalt hatte einen Gegenstand, einen Feind, einen Zweck. Der Hass hat keinen. Selbst der Klassenhass erscheint im Rückblick beinahe als eine bürgerlich-kleinbürgerliche Leidenschaft. In der glitzernden Welt des Konsums scheint Widerstand nur noch in Form des Vandalismus oder Wahnsinns möglich zu sein….. Wenn eine staatliche Ordnung, die wir als Bedingung unseres Lebens vorfinden, Überleben und geschichtliche Errungenschaften nicht mehr zu sichern vermag und von keiner gemeinsamen Idee oder ideellem Interesse getragen und verbunden ist, büßt sie ihre Legitimität ein und wird verfallen. Angesichts des Mangels an emanzipatorischen Alternativen steht zu befürchten, dass es die Rechtsradikalen sein werden, die von der Selbstzerstörung der bürgerlichen Ordnung profitieren. Das hatten wir schon einmal.“
Da war doch noch was…
Mich hat der Artikel wirklich beeindruckt, denn nur selten bringt jemand in dieser Kürze die Dinge so auf den Punkt. Zu den Gründen gehört aus meiner Sicht aber noch etwas Anderes:
Die Klimakrise und die fehlenden Perspektiven, den nötigen Umbau wirklich zu schaffen lässt kaum jemanden wirklich kalt. Weder die Befürworter noch die Gegner einer dem Problemdruck angemessenen oder auch nur in diese Richtung weisenden Klimapolitik: Wer sich nämlich mit dem Thema beschäftigt, merkt schnell, dass wir mit der Art und Weise, wie wir wirtschaften, produzieren und konsumieren ganz großformatig auf dem Weg in den Abgrund sind. Gleichzeitig ist „Wachstum“ für dieses Wirtschaften unverzichtbar und das meiste, was an Rezepten zur Abwehr des Klima-Crashs debattiert und projektiert wird, ist eher marginal, viel zu wenig, zu spät.
Was früher „Utopie“ war, ist jetzt die „Erhaltung des Status Quo“ bzw. des Wohlstands, den wir im Weltvergleich immer noch genießen. Der aber gleichzeitig auf im Grunde nicht mehr hinnehmbarer Ausbeutung von Ressourcen, menschlicher Billigarbeit, Artenvernichtung, Tierleid und immer extremerer Umweltverschmutzung (sichtbar vor allem anderswo!) basiert.
Wer ehrlich zu sich selbst und finanziell nicht unkaputtbar abgesichert ist, befindet sich häufig in der mentalen Gemengelage, die nötigen Schritte in die richtige Richtung zu fürchten, weil sie spürbare Kosten verursachen werden. Bei uns allen! Selbst wenn es gelingen könnte: Nur „die Reichen“ abzukassieren wird nicht genügen. Wir müssen unsere Lebensweise ändern – und wer will das schon?
Meine Ergänzung – das merke ich jetzt – passt nicht wirklich zum Artikel. Denn „Hass“ ist nicht die Folge dieser Einsicht, sondern eher Depression.
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Die Wut dreht sich im Kreis
Immer mehr Menschen haben einen „Hass“. Er ist diffus, aber nicht grundlos
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9 Kommentare zu „Diffuser Hass und ein Gefühl der Überflüssigkeit“.