Als Menschen stehen wir an der Spitze der Nahrungskette und haben uns „die Erde untertan“ gemacht, wie es Gott laut Bibel gefordert hat. (Dass unser Planet dabei so sehr Schaden nimmt, dass die Zukunft der technischen Zivilisation auf dem Spiel steht, lasse ich hier vorerst beiseite.) Die dominante Stellung der Menschheit ist zwar unumstritten, doch geht damit auch ein Mangelgefühl einher: Psychisch sehnen sich nicht wenige nach dem „großen Anderen“, nach einer Wesenheit, die uns uneinholbar überlegen ist.
Lange Zeit war es Gott, der im Rahmen verschiedener Religionen als das ersehnte Überwesen kultiviert wurde: Allwissend und allmächtig verlangte er ein „gottgefälliges Leben“ und drohte mit Höllenstrafen bei Nichtbefolgung. Die Religionen gibt es auch heute noch, aber der Glaube ist seit dem Durchmarsch der Wissenschaft bei vielen Religiösen nurmehr eine Hoffnung, keine innere Gewissheit. Auch die Strafdrohung verfängt nicht mehr wirklich, zumindest in vielen Teilen Europas sind die Gesellschaften stark „verweltlicht“.
Die Sehnsucht nach dem „großen Anderen“ ist jedoch geblieben, hat lediglich andere Formen angenommen. Von den Aliens, die uns lange schon mit ihren UFOs beobachten oder aber – vielleicht – demnächst erscheinen, erwartet man extreme technische Überlegenheit – und je nach Zeitgeist freundliche Hilfe bei unseren Problemen oder die Versklavung, gar Vernichtung der menschlichen Art.
In Filmen und Serien dominieren feindselige Aliens das Geschehen, während in unzähligen Youtube-Videos Faszination und Hoffnung auf die überlegenen Besucher zelebriert wird. War Oumuamua vielleicht doch ein Alien-Raumschiff? Und was ist mit den „ungeklärten Sichtungen“, die jetzt nicht mehr UFOs betreffen, sondern UAPs?
Nächster Kandidat: Die künstliche Superintelligenz
Neben dem liebenden oder strafenden Gott, den freundlichen oder feindlichen Aliens, tritt aktuell eine dritte Version des „großen Anderen“ ins kollektive Bewusstsein: Die künstliche Superintelligenz. Zwar gibt es sie in der Science Fiction Literatur schon lagen, ebenso wie es lange schon KI-Systeme gibt, die allerlei hilfreiche Funktionen erledigen. Furcht und Hoffnung auf eine extrem überlegene, schier unendlich intelligente Künstliche Intelligenz erleben jedoch derzeit einen erstaunlichen Boom.
Ausgelöst und gesteigert durch den Hype um die erstaunliche Intelligenz von ChatGPT-4 wird wieder geglaubt und gefürchtet: Dass es nicht mehr weit sei bis zur Entwicklung jener Superintelligenz, gegenüber der das Menschengeschlecht nurmehr den Status eines Ameisenvolks haben werde.
Der Mythos, die künstliche Superintelligenz werde Bewusstsein entwickeln und quasi „die Welt übernehmen“ ist z.B. auf Twitter zu lesen:
The future comes quickly and unnoticed, one day machines will replace us and artificial intelligence will lead the food chain. Are you ready for this?
Das ist keine extreme Mindermeinung, wie eine Umfrage gezeigt hat:
„Wird Künstliche Intelligenz irgendwann den Menschen versklaven und die Weltherrschaft übernehmen oder ist die Technologie hoffnungslos überschätzt und wird nie richtig funktionieren? In der Bevölkerung haben beide Thesen ähnlich viele Anhänger, wie eine repräsentative Umfrage im Auftrag des Digitalverbands Bitkom unter 1.004 Personen in Deutschland ab 16 Jahren zeigt. Jeder Fünfte (20 Prozent) glaubt demnach, dass Maschinen irgendwann die Weltherrschaft übernehmen werden. Vor allem die Generation der Über-65-Jährigen macht sich Sorgen, unter ihr beträgt der Anteil sogar 25 Prozent. Dagegen sind es bei den 16- bis 29-Jährigen nur 15 Prozent.“
Sogar Prof. Dr. Rieck erwähnt in seinem Video „Chat GPT-4: So intelligent wie ein Kind“ ab Minute 4 die potenzielle Gefährlichkeit einer zu schnell entwickelten KI, gefolgt von hörenswerten Ausführungen zu verschiedenen Konzepten künstlicher Intelligenz, einschließlich der hochgradig überlegenen „Superintelligenz“.
Warum aber werden von der imaginierten künstliche Superintelligenz mehrheitlich menschenfeidliche Aktivitäten erwartet, sobald sie „frei gelassen“ bzw. „außer Kontrolle geraten“ eigenständig Ziele verfolgen kann? Zumindest findet man sehr viel mehr Befürchtungen und Warnungen als Hoffnungen auf das Lösen unserer größten Probleme.
Vermutlich liegt das daran, dass auch uns selbst mit Blick auf die Klimakatastrophe, das Artensterben und die zunehmende Verwünstung vieler Weltgegenden der Gedanke kommt, dass das Problem mit deutlich weniger Menschen keines mehr wäre. Wir projizieren die „Strafe“ für unsere „Sünden wider die Natur“ auf die Superintelligenz, die kein Problem damit haben sollte, die Tätergesellschaften auf ein unschädliches Maß zu reduzieren.
Existiert der große Andere – irgendwo, irgendwann?
Gegen alle drei Kandidaten lassen sich viele Argumente finden, die gegen die jeweiligen Hoffnungen und Befürchtungen sprechen. Wenn überhaupt, ist Gott zu etwas so Abstraktem wie „dem Göttlichen in der Natur“ geworden. Die Aliens, falls es sie gibt, erreichen uns aufgrund der extremen Entfernungen nicht. Und die aktuell so gefürchtete Superintelligenz wird niemals „Bewusstsein entwickeln“, zur Not wird man ihr immer rechtzeitig den Strom abdrehen.
Wir sind auf uns selbst gestellt, trotz aller Sehnsucht und wilden Fantasien über den „großen Anderen“, der uns retten oder vernichten kann. Jedoch berichten Meditierende, dass wir selbst Teil dieses Überwesens sind und das sogar erfahren können, wenn auch nur für Momente. Sogar christliche Mystiker wie Meister Eckhard kannten den „göttlichen Funken“, der in uns lebt. Leider haben nur wenige Zeit und genügend Motivation, sich dieser Suche in entsprechend intensiver Weise zu widmen.
Auch ich nicht, lieber schreibe ich einen Blog-Artikel darüber. :-)
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P.S. Falls sich jemand am Begriff „Intelligenz“ für ChatGPT-4 stößt: Es kann sogar bewusst lügen und so Menschen manipulieren.
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10 Kommentare zu „Die Sehnsucht nach dem großen Anderen: Gott, Aliens, Super-KI“.