„Vielleicht ist die zentrale, oft übersehene Schwäche von Demokratien, dass sie auf der Annahme beruhen, ein überwiegender Teil des Wahlvolks handele nach rationalen Erwägungen. Dass Wähler ihre Wahlentscheidung mehrheitlich argumentativ begründen können und bereit und in der Lage sind, im politischen Diskurs inhaltlich darüber zu diskutieren. Dass sich letztlich das beste Argument durchsetzt. Genau das ist aber so gut wie nicht mehr der Fall. Ebenso wenig die Fähigkeit, zu akzeptieren, dass andere mal die Mehrheit innehaben.“
So beschreibt Stefan Rose auf Fliegende Blätter die Lage, wobei ich das „vielleicht“ glatt streichen würde! Die Demokratie, dieses „beste aller Systeme“ verliert zunehmend an Strahlkraft. Autokratien, Diktaturen und rechtsextreme Parteien sind weltweit auf dem Vormarsch, sowohl in den Entwicklungsländern als auch in Europa, wo der „Rechtspopulismus“ deutlich zugenommen hat. Vermutlich müssen wir froh sein, dass hierzulande noch keine charismatische Führungsfigur in Erscheinung getreten ist (Weidel? Chupalla? Nicht wirklich…), die noch viel mehr Wahlvolk um sich scharen könnte.
Überlegungen zu den vielfältigen Ursachen dieser Entwickling gibt es zu Hauf: Frustration, Abstiegsangst, Marginalisierung, Perspektivlosigkeit, gefühlte und tatsächliche Machtlosigkeit in demokratischen Systemen, Bildungsdefizite, Demütigungen (Corona-Maßnahme), rechtsradikale Grundeinstellungen (Ressentiments gegen „Ausländer“) und Indoktrinierung durch Verschwörungserzählungen sind einige der Gründe, sicher nicht alle. (Eine sehr informative Experten-Diskussion mit tief schürfenden Analysen findet Ihr im Paper „Rechtsextremismus und Rechtspopulismus in Europa„, pdf, leider eine „Bleiwüste“).
Mit Nationalismus und Protektionismus locken Rechtspopulisten die Massen. Der in den vorgezogenen Wahlen so erfolgreiche Front National will sogar aus dem europäischen Stromverbund austreten, um einen „französischen Strompreis“ zu gewährleisten. Die Steuern für Benzin und Diesel wollen sie von 20 auf 5 Prozent senken und die Rentenreform zurück nehmen, in der Macron das Rentenalter von 61 auf (nur!) 64 angehoben hatte. Das alles, obwohl Frankreich mit einem aktuellen Haushaltsdefizit von 5,5% und Schulden von 111% des BIP schon jetzt größte Finanzierungsprobleme hat. Aber was schert die Rechten die Realität?
Regularien, klein aber nervig
Dass die Bereitschaft zunimmt, rechten Welterklärern zu folgen, wird auch durch kleine Dinge befördert, an deren Wirkung im Gemüt der Bevölkerung die Verfasser im Detail sinnvoll erscheinender Regulierungen anscheinend nie denken. So schreibt markusdd5 auf X:
„Für sich allein genommen sind sowohl die ‚du bist 1 km/h zu schnell‘ Autopiepser als auch die an der Flasche festgetackerten Deckel natürlich kein Weltuntergang. Sie haben aber eine Eigenschaft, die glaube ich in Brüssel völlig unterschätzt wird: Sie reiben sich jedes mal neu, im Alltag, potenziell mehrfach täglich, in die Wahrnehmung der Menschen. Es ist keine Gängelung die man einmal fühlt und sich dann irgendwie arrangiert. Sie ist omnipräsent, genau wie unsere lieben Cookiebanner. Und das ist für radikale Positionen, selbst für ‚die Mitte‘ der Gesellschaft, extrem förderlich. Wenn man die Leute fragt was die EU bzw. Euopa als Ganzes ihnen gebracht hat, werden ihnen dann wenig gute Dinge einfallen (und ich will sagen: es ist nicht so, dass es da keine gäbe) und das gibt natürlich den Rändern auftrieb.„
Oft hat man den Eindruck, dass gut gemeinte Regulierungen lediglich den Alltag erschweren, ohne dass man einen echten Nutzen davon hätte. Was habe ich davon, dass mir mein Samsung-TV mitteilt, dass meine Daten mit 256 Unternehmen geteilt werden, die ich mir als Liste anzeigen lassen kann? Soll ich das Gerät jetzt etwa wegwerfen? Hätte man direkt-demokratisch abstimmen lassen, ob es Cookiebanner auf jeder Webseite geben soll, wäre das Mehrheitsergebnis klar gewesen: Nein danke!
Schon vor einigen Jahren bekam ich bei Gelegenheit einer Untersuchung in der Berliner Charité einen 20-seitigen Stapel Papier mit einzeln abzuzeichnenden Erläuterungen zur Datenverwendung. In der Wartezeit war das kaum zu schaffen, jedoch wurde mir tröstend gesagt: Füllen Sie halt aus, soweit Sie kommen… (hier die ganze Story).
Die Beispiele zeigen, dass viele durchaus sinnvolle Gesetze, über die oft Jahre lang verhandelt wird, in der Praxis einfach nur nerven. Man wird immer mehr und umfangreicher „informiert“, ohne dass dadurch andere Handlungsmöglichkeit eröffnet würden, als auf die jeweilige Leistung bzw. das Produkt zu verzichten. Na toll! Das wird zwar kaum jemand machen, aber man hat immerhin „etwas getan“.
Machtlosigkeit erweckt radikale Sehnsüchte
In der globalisierten und zunehmend digitalisierten Welt erleben wir unseren demokratisch verfassten Staat als ziemlich machtlos. Vieles wird dafür getan, „besser zu informieren“ bzw. „Transparenz zu schaffen“ – aber echte Veränderungen bewirkt das nicht. Was ja nicht wundert, denn unser Bezugsrahmen ist in vieler Hinsicht der Weltmarkt, die EU, internationale Verträge und Gesetze. Dass „die da oben machen was sie wollen“ ist ein Mythos, denn sie können das allermeist gar nicht, sondern sind vielfach gebunden – neben den übernationalen Zwängen auch durch die Komplexität der Dinge, die eine überwältigende Bürokratie hat wachsen lassen. Und wenn doch mal etwas versucht wird, das den Bürgern Veränderungen zumutet, erhebt sich ein Chor der Entrüstung, den die Medien gerne befördern, weil das Klicks und Quote bringt.
„Stahlwerk legt Produktion wegen Strompreis-Chaos still“ – Liebes Handelsblatt, wahrscheinlich wolltet ihr schreiben: „So geht Flexibilität: Stahlwerk umgeht Strompreisspitze durch kurzzeitige Produktionsunterbrechung und verdient dabei viel Geld. Bravo!“ [@LionHirth]
Die zunehmende Agressivität in unserer Gesellschaft wird auch als Folge einer Modernisierungskrise beschrieben, die viele Verlierer zurück lässt. Das sind nicht nur Leute, die prekäre Mindestlohnjobs haben und sich über „faule Bürgergeldempfänger“ aufregen. Ziemlich allein gelassen fühlen sich auch Menschen, die weder PC noch Laptop zuhause haben und es am evtl. vorhandenen Smartphone schon gar nicht schaffen, nun auch behördliche und institutionelle Angelegenheiten „online“ zu regeln. Da das meist Ältere sind, die sich hier schwer tun, muss man von ihrer Seite keine Gewaltbereitschaft fürchten, wohl aber ein Wahlverhalten, das ihren Frust zum Ausdruck bringt!
Viele kleine und große Dinge sind es, die derzeit den Glauben an unsere parlamentarische Demokratie untergraben und die Bereitschaft, rechten Sirenen zu folgen, erhöhen. Sollte da nicht mal jemand „aufräumen“ und „durchregieren“? Sicher kennt Ihr alle solche Sprüche! Die direkte Demokratie, die sich manche wünschen, scheint auch nicht mehr das Gelbe vom Ei zu sein, wie Thinkabout andeutet:
„Ich war immer auch ein politischer Mensch, ein Staatsbürger, ein überzeugter Demokrat und glühender Befürworter der direkten Schweizer Demokratie. Dieses Bewusstsein hat Risse bekommen.“
Leider führt er das nicht näher aus, ich habe nachgefragt!
In einem Blockpost kann ich nur einzelne Aspekte der allgemeinen Unzufriedenheiten anreissen. Relevante Probleme mit der Zuwanderung, in den Merkeljahren kaputtgesparte Infrastruktur (Brücken, Bahn, Schulen etc.), immer schlechtere Gesundheitsversorgung und vieles mehr tragen ebenfalls zur allgemeinen Frustration bei. Manchmal wundert mich, dass in meinem Alltag das meiste noch funktioniert, z.B. das Finanzamt, die Geschäfte meiner Auftraggeber – und sogar das Management meines Kleingartenvereins, in dem ich naturnah gärtnere TROTZ des Vorschriftendickichts! Dafür bin ich dankbar, denn wenn ich mich allzu sehr über den Weltzustand ärgere, gehe ich „Blumen gießen, Blumen gießen, Herz, was willst du noch mehr!“ (Georg Kreisler).
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25 Kommentare zu „Demokratiedämmerung?“.