Kaum jemand spricht darüber, aber viele tun es: Trotz Hass und Hetze, trotz der vielen Rechtsradikalen und anderen unangenehmen Zeitgenossen bleiben sie auf X (Ex-Twitter). Ich gehöre auch dazu und schreibe hier mal auf, warum.
Den Anlass zu diesem Blogpost setzte Boris Stumpf, der noch nie auf Twitter war, mit seinem Blogpost „Scheiß Neugier„, in dem er schreibt:
„Wenn ich so die letzten ein oder knapp zwei Jahre Revue passieren lasse, hätte ich gar nicht übel Lust, mich jetzt mal auf »X« anzumelden. Es ist wohl diese seltsame Lust am Verdorbenen, Morbiden, sich einen stinkenden und dampfenden Haufen Scheiße im Detail anschauen zu wollen. Kennt ihr das nicht auch? …. ABER ich werde das natürlich auf gar keinen Fall tun! Ich werde mein Würde bewahren“.
Ein starkes Statement, dass die Frage aufwirft: Verliere ich etwa meine Würde, indem ich auf X-Twitter bleibe? Die Antwort ist ein klares NEIN, denn ich beteilige mich nicht an der Produktion des „Verdorbenen“. Ganz im Gegenteil schreibe ich (gelegentlich) dagegen an und stärke die Postings engagierter Menschen, die es noch immer auf sich nehmen, dem „Morbiden“ entgegen zu treten: sachlich, kämpferisch ohne Hetze, unermüdlich!
Manche mögen hier einwenden: Das ist doch verlorene Liebesmüh! Du wirst niemanden „von denen“ überzeugen, die sind doch gar nicht mehr errreichbar! Ja, vermutlich stimmt das für viele, die ja auch nicht davor zurück schrecken, Fake News zu verbreiten und – sogar entgegen besseren Wissens – Dinge zu verbreiten, die längst widerlegt sind. Aber dennoch: Dagegen halten ist weiterhin sinnvoll, denn es geht um die vielen stillen Mitlesenden, die dann zumindest nicht den Eindruck bekommen, hier widerspreche ja niemand, also müsse da wohl was dran sein!
Aber zugegeben, dieser honorige Anspruch ist nicht der einzige Grund, der mich auf X-Twitter hält. Es gibt noch mehr, viel mehr.
Jeder sieht X anders: Basis-Infos zu meinem Account
Ich bin seit 2007 auf Twitter, derzeit folge ich 938 Accounts, während mir 1334 X-User folgen. Zu keiner Zeit habe ich es darauf angelegt, viele Follower zu gewinnen, ich sortiere auch nicht aus, wer mir folgen darf – es sei denn, es ist ganz offensichtlich ein Bot. Für alle, die X-Twitter nicht aus eigener Anschauung kennen: Es gibt zwei „Timelines“, die man wahlweise lesen kann:
- „Für dich“ wird vom Algorithmus kuratiert und enthält Postings, die dieser als „zu meinen Interessen passend“ ansieht.
- „Folge ich“ zeigt ausschließlich Postings der Accounts, denen ich folge.
Erstaunlicherweise stimmt die Auswahl des Algorithmus meist ganz gut, jedoch – und das ist genau richtig so! – spült er mir durchaus Tweets zu, die bei weitem nicht meinen Meinungen entsprechen. Hier lese ich also auch Inhalte abseits meiner „Blase“, wenn man die von mir „Verfolgten“ als solche ansehen will. Raus aus der Blase führen auch die „Trending Topics“, die anzeigen, was gerade vielfach thematisiert wird: Ein unerschöpflicher Born von Aufregern und Skandalisierungen, aber eben auch sehr aktuelle Infos zum Weltgeschehen (jetzt z.B. #ESPFRA, Rakete, Vermögenssteuer, Kinderkrankenhaus, Ukraine, #Unwetter, ÖPNV…).
Was mir Twitter bringt, die Alternativen aber (noch?) nicht
Infos aus aller Welt: Bisher kann keine der Alternativen den Informationswert von X auch nur ansatzweise erreichen. Wie viele andere habe ich Accounts auf Mastodon und Bluesky eröffnet, die ich jedoch kaum mehr nutze. Es geht mir ja nicht darum, mit ein paar netten Menschen alltäglichen Austausch zu pflegen, sondern ich bin daran interessiert, mitzubekommen, was gesellschaftlich so vorgeht – quer durch die unterschiedlichsten Themen. Das bietet mir X wie bisher kein anderes „soziales“ Medium, wobei ich Threads (von Facebook) noch nicht ausprobiert habe. Wegen Musk abzuhauen um bei Zuckerberg zu landen, erschien mir bisher wenig sinnvoll.
Was man nicht aus den Augen verlieren darf: X ist nicht das „echte Leben“! Die häufig beschriebene Dominanz rechtsradikaler Poster, Schwurbler, Trolls und Russenbots ist nicht wegzuleugnen, denn sie sind – je nach Thema – recht lautstark. Das entspricht allerdings nicht ihrer realen Relevanz – ein Fakt, der z.B. mittels des Hashtags „#wirsindmehr“ immer mal wieder aufgezeigt wird.
Internationalität: Nirgends sonst kann ich so effektiv nachschauen, was anderswo diskutiert wird und wie! Sind die häufigen Erdbeben rund um die phlegräischen Felder grade wirklich Thema unter italienischen Usern? Was schreibt man in Frankreich zur EU-Wahl? Was posten Russen zur „Spezialoperation“ (Специальная операция)? Jeden Tweet kann ich mir übersetzen lassen, während z.B. Mastodon zu „Специальная операция“ nicht einen einzigen Fund meldet.
Themenvielfalt: Ein lieber Freund verfolgt auf X hauptsächlich hochkarätige philosophische Debatten, die dort unter Philosophieprofessoren, Autoren und Interessierten stattfinden. Nirgends ist die Corona-Rückschau so vielfältig wie auf Twitter und zeigt mir noch heute, wie grundstürzend die staatlichen Maßnahmen viele betroffen haben, warum sie teilweise zu „Hatern“ wurden und welche (richtigen und falschen) Fakten dazu heute im Umlauf sind. Das recht lautstarke AFD-Gefolge entlarvt sich immer wieder selbst durch falsche oder komplett unsinnige Behauptungen – schön zu sehen, wenn sie im Detail widerlegt werden! Da ich einen Garten habe, finde ich auch Gartenfans ohne Ende zum Austausch über alles, was gerade wächst, gedeiht oder kränkelt (zur Abgrenzung betreibe ich den Account Gartenzeilen). Ich könnte ellenlang fortfahren, es gibt kaum ein Spezialinteresse, zu dem sich auf X nichts findet.
Das Leben der Anderen: Besonders interessant und lesenswert finde ich die Berichte aus dem „realen Leben“ der Vielen aus den unterschiedlichsten Bereichen: Lehrkräfte, Ärztinnen und Ärzte, Pflegende, Handwerker, Selbstständige, Wissenschaftler/innen, sogar Beschäftigte aus den Job-Centern tauschen sich da aus, Bürgergeldbezieher, Alleinerziehende, Erwerbsgeminderte Rentner/innen, Anleger/Investoren, Gutverdienende und Armutsbetroffene. Letzteren spende ich gelegentlich etwas, das sie gerade dringend brauchen, allerdings erst nach einem Blick auf ihr Profil und Twitter-Vita (um nicht Betrügern aufzusitzen).
Lebenshilfe: Im fortgeschrittenen Alter benötige ich diese inmitten meiner recht friedlichen Existenz zwar nicht, aber ich lese gerne mit, wenn Eltern über ihre Pubertiere klagen, wenn Beziehungsprobleme besprochen werden oder Depressive und Autisten über ihr Erleben schreiben. Ganz praktischer Rat in vielen Lebenslagen findet sich auf X, häufig ganz „Hate-frei“ gegeben zur Lösung oder Umgehung der jeweiligen Probleme. Leider auch bösartige Kommentare jener, die offenbar im persönlichen Leben keine Freude haben und ihren Hass auf alle und jeden gerne rauslassen. Da halte ich gerne dagegen und freue mich, wenn es auch andere tun, was zum Glück ebenfalls häufig geschieht! X ist eben nicht nur „Hass und Hetze“, sondern auch Unterstützung, Rat und manchmal sogar Tat.
Unterhaltung: Manches auf X ist witzig oder einfach nur schön: Fotos, Kunst, Katzencontent, sowie besonders absurde Äußerungen von so manchen, die dann – im besten Fall humorig – durch den Kakao gezogen werden. (Die Twitterperlen sammeln seit Jahr und Tag allerlei Postings, die aus den verschiedensten Gründen bemerkenswert sind).
Persönliche Weiterbildung: Wer sich wie ich für Massen-, Gruppen-, und Individualpsychologie interessiert, findet auf X Anschauungsmaterial ohne Ende! Hier zeigt sich „Gesellschaft“, wie man sie sonst nirgends mitbekommt. Man darf aber nie vergessen, dass der Eindruck durch besonders lautstarke Gruppen und Aktivisten mit feindseliger Agenda den Eindruck verzerren!
Unverzichtbar: Selfcare auf X-Twitter
Menschen, die sich leicht „runter ziehen lassen“, sollten X lieber meiden! Es gehört eine gewisse Standhaftigkeit dazu, sich dort zu bewegen, ohne an der Menschheit zu verzweifeln. Wer dazu neigt, an allem Negativen, Angsteinflößendem und Katastrophischen kleben zu bleiben und emotional immer tiefer in den Keller zu fallen, ist da definitiv falsch. Auch ich bin natürlich nicht völlig immun, habe mir aber Verhaltensweisen angewöhnt, die dagegen helfen:
- Nichts Irritierendes oder Aufregendes gleich glauben! Faktenchecks sind unverzichtbar und oft rückt das die behaupteten Dinge schnell in ein anderes Licht (was man dann auch als Kommentar posten sollte!).
- Wenn die Timeline „für dich“ zuviel Nerviges enthält und ich merke, dass meine Laune sinkt, wechsle ich auf „folge ich“, die einen anderen Eindruck bzw. anders gewichtete Postings anzeigt. Damit das klappt, muss man genügend Accounts folgen, damit auf dieser Liste auch „etwas los ist“. Also besser hunderten vernüftigen Accounts folgen als nur ein paar handverlesenen Freunden! „Vernünftig“ bedeutet nicht, dass die „Verfolgten“ in allem meiner Meinung sein müssen! Es kommt mir mehr auf den Gesamteindruck an, den sie in ihrem Kommunikationsverhalten zeigen.
- Nicht nur Headlines lesen! Oft ist leicht erkennbar, dass sich streitende Kommentierende den Artikel, um den es im ursprünglichen Posting geht, gar nicht gelesen haben. Also nie dem Impuls folgen, gleich auch mal was dazu zu sagen, basierend auf der bloßen Vermutung, was im Artikel vermutlich geschrieben steht – oft liegt man da völlig falsch. Darauf weise ich dann auch gern in den Kommentaren hin (und entlarve so die Hater als ignorante Null-Checker).
- Nur dann eine Auseinandersetzung führen, wenn erkennbar ist, dass das Gegenüber auch diskussionsbereit ist. Wenn sich schon schnell zeigt, dass es nur um „Schlagabtausch“ geht, beende ich das „Gespräch“, aber ohne selbst ausfällig zu werden (=Würde!).
- Rechtzeitig abschalten: Auf X kann die Zeit „wie im Flug“ vergehen, was mich für sich genommen nicht stört. Wenn ich aber merke, dass ich mich nicht mehr wirklich konzentrieren kann, meine Laune sinkt oder ich mich zu sehr über irgend etwas aufrege, dann schalte ich halt mal ab und wende mich friedlicheren Medien oder meiner Brotarbeit zu.
Eigentlich hatte ich vor, in diesem Artikel einige X-Accounts vorzustellen, die sich aus meiner Sicht sehr positiv engagieren. Das vertage ich jetzt auf einen künftigen Blogpost, denn so kurz zum Schluss abgehandelt zu werden, würde ihnen nicht gerecht.
Warum ich noch auf X-Twitter bin, habe ich hoffentlich mit diesem Blogpost verständlich vermittelt. Wenn diese Gründe oder ein Großteil davon wegfällt, bin ich auch weg. Aber bis dahin bleibe ich – und habe sogar Spaß dabei!
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12 Kommentare zu „Warum ich auf X-Twitter bleibe (inkl. Selfcare-Tipps!)“.