„#Aufschrei könnte die größte politisch-gesellschaftliche Bewegung sein, die Deutschland bislang auf Twitter erlebte“ schreibt MEEDIA über das aktuelle „trending Topic“ auf Twitter. Und wirklich: verglichen mit einem üblichen Shitstorm ist „#Aufschrei“ ein gewaltiger Hurrican. Hunderte Tweets im Minutentakt, in denen Frauen über ihre Erlebnisse mit Alltagssexismus berichten – hier ein paar Beispiele:
- Antje Schrupp @antjeschrupp: Ja, und dann auch der Typ, der sich im Park auf die Bank gegenüber meiner setzt und seinen Penis auspackt.
- Marina Weisband @Afelia: „Ohne Titten wär sie nicht so weit gekommen.“.
- Anne Roth @annalist: Auf meine Überlegung, warum ich wohl zu Thema XY aufs Podium eingeladen wurde: „Die brauchten wohl noch ’ne Frau“.
- Mela Eckenfels @Felicea: Nein. Es ist FRAU Eckenfels die in Systemadministration machte. VERFICKTNOCHMAL.
- Josi Bility @josefine: Die Notwendigkeit, sagen zu müssen, du „gehörst“ zu einem anderen Mann, um endlich in Ruhe gelassen zu werden.
- anke domscheit-berg @anked: der Staatssekretär, der mir nach einer konferenz bis ins hotelzimmer folgen wollte und immer wieder an meine tür klopfte.
- Nicole Simon (de) @nicolede: Für Frauen ist die Frage nicht ob sie je belästigt wurden, sondern nur wie lang das letzte Mal her ist.
- Anne Helm @SeeroiberJenny: Wenn der Chef auf den Hinweis, dass ich nich „meine Süße“ genannt werden will, die ganze Firma warnt „die hat offenbar ihre Tage“.
- Melody @botenstoff: Der Freund vom Freund, der mir plötzlich lächelnd seinen erigierten Penis in die Hand drückt statt Kaffee, den er holen sollte.
- Katharina Schulze @KathaSchulze: „Dass dein hübscher Mund auch noch kluge Sachen sagen kann hätte ich jetzt nicht gedacht“.
- Mynnia Ignea @mynnia: In der U-Bahn sagen, dass man nicht reden will. Angefasst werden, angespuckt werden, Ohrfeige kriegen keiner macht was.
Das brisante Thema startete nicht auf Twitter, sondern wurde von einem Blogposting von Meike Hang angeregt, der wiederum durch die „Brüderle-Affaire“ erhöhte Aufmerksamkeit bekam. Natürlich gibt es auch kritische und (vermeintlich) humorige Reaktionen. Frauen seien selber schuld, wenn sie sich „so“ anziehen und sich nicht gleich richtig wehrten. Frau würde übertreiben, habe keinen Humor und könne einen Flirtversuch nicht von einem Übergriff unterscheiden. Zudem gäbe es auch Frauen, die sexuell belästigen und solche, die mittels ihrer weiblichen Attribute bewusst Vorteile abgreifen. Und überhaupt: wie solle mann denn „den ersten Schritt machen“, wenn jegliches Ausdrücken sexuellen Begehrens ein NoGo sei? Will frau denn hierzulande „amerikanische Verhältnisse“, wo schon 12-Jährige wegen „unangemessenen Verhaltens“ belangt werden und man vor jeder einzelnen Handlung erst fragen muss?
Damit bin ich endlich bei meiner Überschrift angekommen: Männer können oft wirklich nicht unterscheiden, wann sie Grenzen überschreiten. Und sie können sich in aller Regel nicht vorstellen, wie so ein Frauenalltag als „Objekt der Begierde“ sich im Detail anfühlt! Ich hab‘ das mal in einem längeren Gespräch mit einem Beziehungspartner über weibliche Angst auf einsamen Wegen mitbekommen, der plötzlich regelrecht aufschreckte: „Das hab‘ ich noch nie so gesehen! Himmel, Ihr lebt ja wie im Krieg!“. Er war ehrlich betroffen! Und ich wunderte mich, dass Mann erst so ein „AHA-Erlebnis“ braucht, um zu begreifen, wie es Frauen empfinden, wenn sie fortwährend sexuell angebaggert werden – mal verbal, mal handgreiflich, mal erst mit Worten, dann mit Taten.
Die Frage nach der Grenze zum „übergriffigen Verhalten“
Gutwillige Männer stellen derzeit im Kontext des „Aufschreis“ ernsthaft die Frage, wo denn die Grenze sei, die es einzuhalten gelte. Bis zu welchem Punkt ist ein Verhalten „freundliche Kontaktaufnahme“ und ab wann wäre es ein sexueller Übergriff, bzw. eine Grenzverletzung?
Genau darauf gibt es aus meiner Sicht eben KEINE für alle Frauen und Situationen gültige Antwort! Denn die Wahrnehmungen differieren von Frau zu Frau und Situation zu Situation. Anke Domscheit-Berg wurde dazu befragt und gibt im Video-Interview die Antwort: Stell dir vor, deine Mutter wäre dabei. Wenn du dann genauso agieren würdest, ist es ok. Zweiter Tipp: Wenn ein anderer Mann so auf deine Freundin „zugehen“ würde – wäre es für dich noch ok oder würdest du dich motiviert fühlen, dem Dritten Einhalt zu gebieten?
Ja sicher, das sind schon mal nützliche Tipps. Sie treffen aber Situationen nicht wirklich, in denen ein Mann die Frau tatsächlich „anbaggern“ will. Was man üblicherweise nicht tut, wenn Mutter oder der Gefährte der Frau dabei ist, ab und zu aber schon. Irgendwo (ich hab soviel gelesen und die Quelle jetzt vergessen) sagte ein Mann, es müsse doch wohl erlaubt sein, ein sexuelles Interesse auszudrücken. Irgendwie müsse man ja zusammen kommen und schließlich hätten es Frauen leichter, da von ihnen „der erste Schritt“ nicht erwartet werde.
Was sich nicht ändern wird
Und damit sind wir mitten im Dilemma des „Geschlechterkriegs“ – und zwar an einer Stelle, die sich aus meiner Sicht nicht ändern wird: Der bloße Ausdruck sexuellen Begehrens ist für Frauen kein Kompliment, keine irgendwie positive Sache, sondern eher demütigend und beleidigend. Frau fühlt sich da nämlich nicht persönlich gemeint, sondern als bloße Titten&Hintern-Besitzerin nachgefragt. Selbst wenn dieses „Ausdrücken“ in keiner Weise übergriffig daher kommt, ist die Gefühlsreaktion eher Verachtung für die Triebgesteuertheit des männlichen Wesens, dem ein weiblich-attraktiver Körper Grund genung ist, das Balzverhalten anzuwerfen.
Traurig für Männer, ist aber so! „Ruhepuls“ bringt es in einem Kommentar bei kleinerdrei.org auf den Punkt:
„Und ich brauche keine ‚männliche Ankerkennung‘, wenn die sich dergestalt ausdrückt, weil sie mich auf mein Äußeres und mein Geschlecht reduziert und zudem gar nicht mich meint, sondern mich objektifiziert. Aber ich freue mich über Anerkennung für Dinge, die ich tue.“
Ich kann mich gut erinnern, dass ich das als junge Frau ganz ebenso empfand – und meine Verachtung für all diese notgeilen Aspiranten war schier grenzenlos. Selbst dann, wenn der Typ mir eigentlich hätte gefallen können, war eine Annäherung, die leicht als vornehmlich sexuell motiviert erkennbar war, für mich DER ABTURNER!
Nun ist mittlerweile bekannt, dass der Sexualtrieb junger Männer das Verlangen junger Frauen an Intensität deutlich übertrifft. So richtig klar wurde mir das erst, als ich mit zunehmendem Alter (so ab 30, nochmal mehr ab 40…) spürte, dass nun auch für mich „just Sex“ eine lustvolle Option wurde, viel unabhängiger von der Beziehungsdimension als früher.
Damit verschwand auch meine Verachtung und ich empfand erotisches Anbaggern nicht mehr GRUNDSÄTZLICH negativ, sondern nur dann, wenn es tatsächlich „übergriffig“ oder verbunden mit mich irgendwie abwertendem Verhalten daher kam. Das aber geschah kaum mehr, denn mittlerweile hatte ich ein Selbstbewusstsein, das den Männern signalisierte: Pass auf, was du tust und sagst! Selbst nachts um drei auf dunkler Straße, handgreiflich-übergriffig angetatscht von einem Besoffenen, konnte ich ihn zu meiner eigenen Verwunderung verbal so zur Schnecke machen, dass er mir weinerlich seine Lebensgeschichte erzählen wollte….
Was sich ändern MUSS
Nun hilft es jüngeren Frauen nicht, zu wissen, dass mancher Aspekt der „sexistischen Kackscheiße“ sich mit zunehmendem Alter verliert, weil die eigene spontane Kampfkraft wächst und frau sich auch selbst im Erleben und Bewerten ändert. Und dass dem so ist, ändert nichts daran, dass Frauen jeden Alters vom alltäglichen Sexismus betroffen sind, der VIEL MEHR umfasst als das vergleichsweise harmlose Dilemma (und Versagen) junger Männer auf der Suche nach Sex-Gespielinnen. (Letzteres ist ein eigenes Posting wert – evtl. demnächst).
Die jetzt unter „#aufschrei“ geposteten Erlebnisse, Statements und Blogpostings bieten jede Menge Anschauungsmaterial für den im Jahr 2013 offenbar immer noch sozial akzeptierten Sexismus. MANN kann sich auf verschiedensten Ebenen – insbesondere im Bereich beruflich bedingter Machtverhältnisse – noch immer schier „alles erlauben“, ohne dafür Status- oder sonstige Verluste zu riskieren. DASS MUSS SICH ÄNDERN!
Aber WER kann das ändern? Frauen alleine können es nicht, denn solange Männer untereinander sexistisches Verhalten als zumindest tolerierbar ansehen, fühlen sich einzelne Männer nicht wirklich schlecht, wenn sie gerade mal wieder eine Frau diskriminieren oder Grenzen überschreiten. Sie beziehen ihren Selbstwert ja gerade NICHT von diesen aus ihrer Sicht minderwertigen, minderfähigen, mindermächtigen, leider manchmal zickig reagierenden weiblichen Wesen, sondern von anderen Männern. Von ihren Chefs, Kollegen, Angestellten, Geschäftspartnern, Kunden, Freunden, Bekannten, Verwandten, Parteigenossen und Vereinsmitgliedern – deren Schweigen bei Frauen-diskriminierendem Verhalten stärkt ihnen den Rücken, es wieder und wieder zu tun.
#Aufschrei könnte dazu beitragen, dass viele Männer nicht mehr schweigen. 2013 ist nicht 1980, obwohl manches an der Auseinandersetzung daran erinnert.
Wenn wir aber Männer wollen, die zu Frauendiskriminierung nicht schweigen, müssen wir auch unvoreingenommen anhören, was sie über alltägliche Männerdiskriminierung, wie auch über psychisch und körperlich übergriffige Frauen berichten.
Dass derzeit die „Lindenstraße“ das Thema häusliche Gewalt mit einer Frau als Täterin behandelt, empfinde ich als förderlichen Beitrag im Sinne dieser Debatte.
***
Und jetzt noch ein paar Links (bin noch am ergänzen):
- Hab keine Angst – mein letztes Erlebnis allein auf dunkler Straße;
- Normal ist das nicht! – Meike Hang, kleinerdrei.org;
- Wie Lappalien relevant werden – Antje Schrupp;
- Zur Brüderle-Debatte: Stopp! – Patricia Dreyer / SPON;
- Ich hab keine Worte mehr, die meinen Frust, meine Abscheu und meine Verzweiflung akkurat wieder geben könnten. – Frau Dingens;
- Zwischen Arschklaps und #Aufschrei – Sexismus und Kram. Ein Meinungsbild. Muttis Kopfkram.
- Andrea Nahles über Wagners Post an Schavan – Kurzvideo;
- Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz Schluss mit Stillhalten – Alexandra Borchardt, Tanja Rest / Süddeutsche.de
- Das schreien der Lämmmer – Frau Meike ist wütend und meint, die Debatte werde zu eindimensional geführt;
- Bin ich auch so einer – fragt Jörg Rupp (endlich traut sich mal ein Mann..);
- Sexismus – und wie ich zur Feministin wurde – Pyyraa / GeekySparkle;
mehr:
- #Aufschrei – ich breche mit einem Tabu – Stephan Dörner
- Aufschrei-Argumente – Nathalies Blog
- Männerschatten – Formschub.de – ein Mann berichtet von seinem „Schatten“, den er spürt, wenn er einer Frau auf dunkler Straße begegnet;
- Besser spät als nie: Die Sexismus-Debatte – Sue Reindke/Happy Schnitzel
- Danke, Opa – Alltagssexismus im Job und die Konsequenzen – Picki: „Wenn ich in jeder Situation etwas gesagt hätte, hätte ich den Stempel einer Zicke bekommen mit dem Resultat, dass es deutlich anstrengender wird, Karriere zu machen.“
- Alltäglicher Sexismus – auch in der Politik – Kersten Artus, MdHB: „Bei Frauen ist ihr Äußeres Maßstab aller Bewertungen. Die Kopfnote. Die Frauenbewegung der 1970er Jahre wehrte sich noch aktiv:…“
- Derailing und die Lämmerfrage – Haltungsturnen; Kritik an Meikes Posting über das „Schreien der Lämmer“;
- Lieber Sexist. Ein Brief. Maja Tiegs. “Also zum Blasen können wir ja die Frau in unserer Runde fragen!”.
- Aufschreien gegen Sexismus auf alltagssexismus.de;
- #Aufschrei, Sexismus, und ein paar Antworten zu oft gestellten Fragen. – Frau Dingens;
- #aufschrei – draußen nur Kännchen;
- Schreiende Lämmer – Das Nachspiel. Frau Meike zu ihrem viel beachteten Artikel und einigen Resonanzen.
- Keine Lösungen, aber viele Fragen – Das Nuf Advanced;
- Sagt ihnen nicht, dass sie sich hätten wehren sollen – Ephemera
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35 Kommentare zu „Von Grenzüberschreitungen und der Anstößigkeit sexuellen Begehrens – #Aufschrei“.