Eine Kursteilnehmerin stellte kürzlich die Frage nach dem Schreiben als einem „Sich auskotzen“. Alles mal rauslassen, was auf der Seele liegt und schmerzt, einfach mal hemmungslos jammern, klagen, schimpfen – ist das nicht befreiend und erleichternd? Reinigend wie ein Gewitter nach einer langen staubigen Dürre?
Wer noch kaum Schreibpraxis hat, wird vielleicht gerade diesen Zugang wählen. Für den Moment fühlt es sich womöglich auch gut an – aber dann? Ist damit etwas gewonnen, wenn ich irgendwelche Leiden und Schwierigkeiten, sowie alle negativen Gefühle, die damit zusammenhängen, in die Tasten fließen lasse? Ich spreche jetzt nicht vom Veröffentlichen, sondern einzig vom Aufschreiben, vom „heraus schreiben“ – ist es dann weg oder gebessert?
Gestern war mir das egal. Ich war bereit, zu jammern. Mein letzter Artikel begann ursprünglich mit der Überschrift „Ich will auf den Arm!“ und das entsprach genau meinem aktuellen Gefühl am Ende einer etwas depressiven Phase. Dann aber merkte ich, dass es nicht möglich war, einfach abzubilden, was in mir wühlte, nicht einmal „nur für mich“. Zu sehr ist mir in Fleisch und Blut übergegangen, dass Worte und Sätze ein magisches Handeln sind. Mit allem, was ich niederschreibe, erschaffe oder verfestige ich eine Realität. Solange sich die Gedanken als frei fließender Strom im Kopf bewegen, ist alles plastisch, änderbar von Augenblick zu Augenblick. Wenn ich aber hinschreibe „X ist ein Eumel!“ oder „mein Chef macht mich krank!“ oder auch „ich fühl mich so beschissen und leide unter XYZ“, dann hab‘ ich mich fortan mit einer Realität auseinander zu setzen, die nach Konsequenzen verlangt: Was tu ich jetzt? Wie begegne ich in Zukunft diesen Eumeln? Was muss ich ändern, um mich vom Leiden zu befreien?
Vermutlich benutzen viele das Schreiben genau dafür: Realität fassbar machen, sich damit auseinander setzen und etwas ändern. Oft ist das aber genau der Weg, erst richtig ins Leiden hinein zu kommen. Bliebe es beim Gedankenstrom, würde dieser sich binnen kurzer Zeit mit großer Sicherheit von selber andere Themen suchen, er kann gar nicht anders. Stimmungen und Gefühle als „Schreibimpulse“ wechseln so schnell wie das Wetter in der Eifel. Besser, ich passe einen ab, der mich nach vorne bringt – und „vorne“ ist immer da, wo ich mich wieder besser fühle!
Also alles ignorieren, was nervt? Das nicht. Es geht einfach nicht – nicht, solange ich in den entsprechenden Gefühlen und Gedanken kreise, nicht im „Raum des Leidens“, der seine Schreibimpulse setzt wie alle anderen Lebensräume. Was raus will, muss raus – aber WAS ist DAS? Dieses „Etwas“ kann ich in bestimmten Grenzen frei wählen. Und stelle fest: der schlichte „tagebuchartige“ Bericht aus dem Leben wäre die schlechteste Wahl, würde nur meine miesen Empfindungen noch verstärken und mein Selbstmitleid vergrößern. Statt dessen können „Randaspekte“ wirklich gut tun – und diese erschließen sich mittels anderer „Textsorten“. Der Artikel „Schlimmer als Mundgeruch“ handelt zum Beispiel von Bedürftigkeit: Es hätte eine Aufzählung werden können von allem, was ich gerade entbehre, wonach es mich verlangt, was ich zu brauchen meine, um mich wieder besser zu fühlen (auch das lässt sich so abstrakt formulieren, dass keinerlei Intimitäten verletzt werden). Statt dessen ist es – und zwar ganz „von selber“ – eine kleine, selbstironisch-zynische „Brandrede“ geworden. Ein kurzer, dichter Text rund um den „Randaspekt“: Was mich hindert, einfach mal so zu jammern und zu klagen. Diese „Hinderungen“ werden durch den Kakao gezogen und zum Abschuss frei gegeben, dem großen Gelächter über menschliche Schwächen überantwortet. Als Negativbild dieser „Demontage“ wird das Leiden, das sie ausgelöst hat, sichtbar – jedoch ohne definiert und damit fest-geschrieben zu werden. Hinterher fühlte ich mich um Klassen besser! Konnte wieder über mich lachen, die Luft war wieder frisch und schon bald floss der Gedankenstrom weiter zu anderen, beglückenderen Themen.
Das ist nicht die einzige „Methode“. Es gibt andere, zum Beispiel die direkte, ins Extrem gesteigerte „Brandrede an das Böse“, oder, unauffällig aber wirksam, die Darstellung einer belastenden Angelegenheit in der dritten Person: als wäre ich lediglich Journalistin und berichtete über etwas, das mich selber gar nichts angeht.
Es ist recht neu für mich, das eigene Schreiben so zu rationalisieren und zu analysieren. Schließlich habe ich mir diese „Methoden“ nicht ausgedacht. Sie sind mir zugewachsen, einfach aufgetaucht in all den Jahren, in denen mir das Schreiben zur selbstverständlichen Geste geworden ist: als Selbstausdruck, zur Gewinnung von Klarheit, zur Bearbeitung jeglicher Formen von Leiden, zur Lebensbewältigung ganz allgemein. Durch die Schreibimpulse-Kurse bin ich auf einmal gefragt: WIE und WARUM schreibst du eigentlich? Warum so und nicht anders? Zu Beginn kam ich mir dabei vor wie der Tausendfüßler, den man fragt, wie er denn seine vielen Beine beim Gehen ordnet. Dabei ist es zum Glück nicht geblieben: wo gefragt wird, entstehen auch Antworten, eine ständige Praxis lässt sich tatsächlich „von außen“ ansehen und in Worte fassen. Ob allerdings meine Antworten auch für Andere nützlich sein können, müssen diese Anderen für sich selber ausprobieren. Schreibend!
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