Neuerdings sind Benimm-Kurse wieder angesagt, lese ich in der Zeitung. Junge Leute lernen freiwillig die Regeln gesellschaftlichen Umgangs, die Handhabung verschiedenster Essbestecke an kompliziert gedeckten Tafeln und die Reihenfolge, wer wen wem zuerst vorstellt. Meine Generation hatte diesen ganzen „unspontanen“ und „heuchlerischen“ Schmodder dereinst abgeschafft, total begeistert vom gänzlich Formlosen: ungezwungen und echt wollten wir sein, frei und ungebunden – eben „locker drauf“. Feste waren nur noch Ansammlungen einander fremder Menschen, die selber zusehen mussten, was sie miteinander anfangen – oder eben nicht. Unmengen Alkohol und laute Musik ersetzten Programm und Gastgeber, Nudelsalat wurde gern in Kinderbadewannen angerichtet, und wenn jemand zu Besuch kam, sagte man allenfalls: Da drüben ist der Kühlschrank!
Im persönlichen Umgang waren Offenheit und Ehrlichkeit oberste Werte, auch wenn die Wahrheit weh tat. Besitzansprüche in der Liebe galten als Sünde: wie könnte ein Mensch einen anderen besitzen? Mit welchem Recht sollte einer dem anderen vorschreiben dürfen, was er oder sie zu tun oder zu lassen hätte? Wir waren stolz auf unsere „offenen Beziehungen“, auch wenn die sich im Wesentlichen in „Beziehungsdiskussionen“ erschöpften: Nächtelange Gespräche über legitime oder illegitime Ansprüche, jeder auf der Suche nach Nähe, Zärtlichkeit und Verstehen, die so in immer weitere Ferne rückten.
Alles lange her. Diese Zeit hat mich geprägt, ihre Sichtweisen bilden den „historischen Hintergrund“ meiner Bewertungsskalen, und eigene Veränderungen spüre ich daran, wenn sie auf einmal nicht mehr stimmen. Mit zunehmendem Alter und wachsender Lebenserfahrung geschehen Umwertungen, die ich mir früher nie hätte träumen lassen. Dass ich mich mal nach Regeln und Konventionen, nach bloßer Höflichkeit sehne, ist zum Beispiel so eine Veränderung. Sowas galt uns als wertlose „Sekundärtugend“, die auf den Müllhaufen der Geschichte gehört. Warum Freundlichkeit heucheln, wenn es mir nicht danach ist? Warum ein Essen loben, dass mir nicht schmeckt? Das ist doch dann eine glatte Lüge! (empörtes Stirnrunzeln…).
Wahrheit in allen Situationen kann man solange ungebrochen fordern, wie man jung genug ist, von der Welt und vom Mitmenschen nur das Beste zu erwarten. Vielleicht nicht gleich, aber spätestens, wenn sie vom falschen Bewusstsein und anderen Großübeln endlich befreit ist. (Wir arbeiteten dran…) Damit einher geht ein Selbstverständnis, das sich immer im Recht, immer auf der Seite des Guten wähnt. Kein Grund also, mit dem ICH hinterm Berg zu halten: Ich will, ich denke, ich meine, ich brauche – ich, ich, ICH!
Mir scheint, mit zunehmendem Alter sortieren sich die Menschen dann in zwei Schubladen: die einen behalten diese Sicht der Dinge bei, koste es, was es wolle. Das eigene Handeln, Wollen und Meinen ist immer irgendwie zu rechtfertigen, und die Anderen sind entweder gut oder böse. Mit den Guten ist man befreundet, die anderen werden bekämpft. Und immer wieder – leider leider! -wird ein Freund als Böser erkannt und muss aussortiert werden. Am Ende wird so jemand zwangsläufig sehr einsam, verknöchert und verbittert, bleibt aber rechthaberisch bis zum letzten Atemzug, dem Pflegepersonal ein Graus.
Die Anderen schauen genauer hin, erkennen in den Augenblicken drastischen Scheiterns, dass das Böse, Widrige, Unfriedliche und Unverschämte nicht nur bei den Anderen zu finden ist. Sondern ebenso, und zwar nicht zu knapp, im eigenen Zentrum: Ich will, ich brauche, ich erwarte von dir, dass du… es mag harmlos anfangen, doch es führt mit staunenswerter Geschwindigkeit in vielerlei Abgründe: Unterdrückung, Streit, Wut, Hass, Krieg. Besonders deprimierend daran ist, dass es die ureigensten und an sich nicht kritisierbaren Lebensbedürfnisse sind, die sich als Wurzel des Übels erweisen, sobald ich sie als Anspruch und Erwartung dem Mitmenschen aufdrücke: der Wunsch nach Sicherheit und Stabilität, nach Wahrgenommen-Werden und Resonanz, nach Nähe, Zärtlichkeit und Erotik, nach Geliebt- und Gebraucht-Werden. All diese wunderschönen Dinge werden gerade NICHT erreicht, wenn ich meine Bedürftigkeit an die erste Stelle setze und den Anderen als Mittel sehe, mir zu verschaffen, wonach es mich verlangt.
Ein unlösbares Dilemma, nur vom menschlichen Geist wahrnehmbar. Entweder man unterdrückt Andere, beschränkt ihre Freiheit und Lebendigkeit – oder sich selbst.
(Stimmt nicht? Warum dann zum Beispiel dieses genervte Gefühl, wenn jemand redet und redet und gar nicht mehr aufhört? Er/sie lebt doch nur das urmenschliche Verlangen nach Beachtung aus – ist daran irgend etwas falsch?)
Weil wir das Dilemma als solches erkennen können und aus diesem Erkennen die Sehnsucht entsteht, den Schauplatz des gesamten Leiden-schaffenden Geschehens zu verlassen, sich zumindest irgendwie heraus zu halten, nannte Nietzsche den Geist „bio-negativ“. Denn wer vom Bazillus dieser „Sicht der Dinge“ angekränkelt ist, wird sich nicht mehr ungebrochen in den Kampf ums eigene Glück stürzen, es nicht mehr wollen und damit auch nicht mehr können. Also werden sich Andere erfolgreicher fortpflanzen und den weiteren Lauf der Welt bestimmen.
„Zivilisierte“ Gesellschaften, die mit all den bedürftigen, lebensgierigen und liebes-sehnsüchtigen Individuen irgendwie funktionieren müssen, haben zum Zweck halbwegs friedlichen Miteinanders die Sekundärtugenden entwickelt und Benimm-Regeln etabliert. (Höfliche Konversation verteilt die Redezeit gleichmäßig, egal, WAS gesagt wird und WER es sagt) Ritualisierter Umgang, feste Formen, Recht und Gesetz, Ehe und Familie, Tradition und Gewohnheit: All das bringt nichts Wahres ins Falsche, aber lässt die Karre irgendwie weiter laufen.
Immerhin! Das jugendliche „Hau weg den Scheiß“ ist mir jedenfalls vergangen.
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