Sonntagmorgen. Die Welt ist seltsam still, der Himmel verhangen, nur selten höre ich ein Auto vorbei fahren. Ich trinke Kaffee, arbeite einige Mails ab, die in der Woche liegen geblieben sind. Starre auf den Eingangsordner, während sich die SPAM- und Virenmails mit ihren voluminösen Anhängen hereinquälen – ob es noch mal dazu kommen wird, dass man gar nicht mehr mailen kann?
Das soll mich jetzt nicht interessieren! Sechs Stunden Zeit liegen vor mir, die ich nutzen will, um liegen gebliebenen Papierkram zu erledigen. Hinterher werde ich ein gutes Gefühl haben: Alles wieder im Griff, alle Bälle zurück gespielt, Behörden und andere „Gegner“ mit Stoff versorgt: ich werde wieder „im Reinen“ sein. Nicht mit mir, aber mit denen, die etwas von mir wollen, das aus dem täglichen Tun heraus fällt.
Warum nur fällt es mir so schwer, diese Dinge rechtzeitig zu erledigen? Warum lasse ich immer wieder kleine und mittlere Stapel auflaufen, die mir dann dieses unangenehme Gefühl des „Ich müsste jetzt aber…“ geben? Je höher so ein Stapel wächst, desto weniger erinnere ich mich an seine einzelnen Vorgänge und Inhalte. Dadurch verstärkt sich das miese Gefühl noch einmal, denn es entgleitet das Wissen darum, „was droht“. Und Ungewissheit ist eine der stärksten Drohungen, der sich das verwaltete Individuum ausgesetzt sieht.
Selber schuld. Immer wieder. Warum mache ich es nicht endlich besser? Es kann doch kein Problem sein, die wenigen Schriftstücke und Formulare, die ich so pro Vierteljahr an die Welt verteilen muss, rechtzeitig zu verfassen! Statt dessen folge ich den Impulsen des Augenblicks – und zwar ganz besonders dann, wenn ich „den Papierberg“ vor mir sehe.
WER ist das, der sich so verhält? Immer, wenn Sein und Sollen (oder auch Sein und Wollen) auseinander klaffen, stellt sich diese Frage neu. Bin ich vielleicht nicht eine, sondern zwei oder gar viele Personen? Diese Antwort kann recht inspirierend sein: Ich gebe den einzelnen Wesensteilen, die sich so unterschiedlich ausdrücken, verschiedene Namen und beobachte, wann sich welcher Aspekt an die Steuerknüppel des Daseins drängt. Anstatt alles, was jenseits des „vernünftigen Denkens“ lebt und handelt, zu verurteilen und wegdrängen zu wollen, schließe ich Frieden mit „Mrs. Hide“. Es fließt dann keine Energie mehr ins Verdrängen und Verleugnen, das ist schon mal ein Fortschritt. Ja, ich bin nicht nur „die Vernünftige“, die immer alles problemlos hinbekommt. Ich bin auch die Ver-rückte, die sich gehen lässt, die nicht ans Morgen denkt und aus dem Augenblick heraus dies und das anstellt – oder einfach nur „stört“, z.B. wenn’s ums Abarbeiten ungeliebter Verwaltungsdinge geht.
Eine andere Antwort wäre: Da ist gar nichts: kein „Ich“ nirgends! Das Ich ist nur ein Gedanke – was ja auch den Tatsachen, den „Hard Facts“ entspricht. Und als Teil des Denkens ist die Wirkungsmächtigkeit dieses Gedankeninhalts eben äußerst beschränkt: es gibt das „Ich“ genauso lange, wie ich es denke. Drastisches Beispiel: Wenn jetzt neben mir der Blitz einschlägt, gibt’s in diesem Moment KEIN ICH. Es gibt nur Gewahrsein und das Geschehen – wobei die Frage, ob Gewahrsein/Geschehen noch zwei verschiedene „Tatsachen der Welt“ sind, philosophisch zwar interessant ist, aber in diesem Augenblick gänzlich unwichtig.
Bringt mich diese Antwort weiter? Ja und nein. Sie ist einfacher als die Vorstellung des „inneren Zoos“, diese Versammlung unterschiedlicher Wesensteile, denen ich ja doch wieder in der Haltung eines „Dompteurs“ gegenüber stehe. Und Einfachheit ist ein hoher Wert. Andrerseits enteignet sie mich weiter: Immer nur im Denken bin „ich“ da – der große Rest ist einfach Geschehen, aus dem heraus immer wieder das Denken aufblitzt. Veränderungen sind nicht machbar, sagte mir heut morgen ein Freund am Telefon. Alles Geschehen verhält sich im Gegenteil so wie ein Fluss: Jahrelang fließt das Wasser über Geröll – und irgendwann ist der Untergrund dermaßen gelockert, dass der Stein ganz plötzlich aus seiner bis dahin festen Lage fällt und in eine neue Situation gerät.
Ich werde jetzt eine Runde um den Block laufen. Und dann, sofern sich das Denken durchsetzen kann, die Umsatzsteuervoranmeldung machen – endlich!
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