„Wir müssen alles tun, was möglich ist, um die private Nachfrage zu steigern.“ Das sagt IWF-Chefökonom Olivier Blanchard, der die Lage in Europa „besorgniserregend“ findet, wie bei SPON zu lesen ist.
Passend dazu hab‘ ich heute dieses Plakat gesehen:
Bin extra vom Fahrrad abgestiegen, um es abzulichten, immerhin werden da die letzten großen Werte, nämlich Liebe und „das Göttliche“ vom Marketing okkupiert bzw. umgenutzt ins „Bemühen, die private Nachfrage zu steigern“
Wachstum: Not-wendig und selbstmörderisch zugleich
Diesseits anderer Krisen-Faktoren ist DAS aus meiner Sicht die stärkste Wurzel der Krise: Es gibt kein natürliches Wachstum mehr. In Europa haben länger schon alle, die genug Geld oder Kreditwürdigkeit besitzen, um MEHR zu kaufen, keinen Bedarf nach MEHR. Man hat alles, was man zum Leben braucht und viele haben sogar weit mehr als das. Ja, einige beginnen sogar, zuviel Besitz als Last zu begreifen und sich von der Konsumismus-Religion angeödet abzuwenden: ab ins Abenteuer Richtung Down-Sizing, Entschleunigung, „weniger ist mehr“…. Gleichzeitig verarmen immer mehr Menschen oder geraten zumindest in Angst, ihren Status Quo zu verlieren und fallen damit auch als Wachstumstreiber aus. Wachstum aber wird benötigt, denn unser Geld/Finanzsystem funktioniert auf Dauer nur mit Wachstum.
Klar, ab und zu gelingt es noch, eine neue Produktlinie zu kreieren und z.B. allen einzureden, dass man hochwertige Espresso-Maschinen haben muss, und anstatt Kaffeebohnen oder Pulver mehrfach so teure „Pads“. Aber das sind seltene Glücksfälle, deren Erfolge zudem prekär bleiben: eine Waschmaschine MUSS man haben, wogegen eine Espressomaschine verzichtbar ist, wenn sie nach Ablauf der Garantie-Zeit per Obsoleszenz allzusehr nervt.
Auch Smartphones und Tablets sind eine neue, boomende Produktkategorie. Gefühlt wichtiger als die Waschmaschine, weshalb viele bereit sind, in kurzen Abständen die jeweils neuesten Gadjets zu kaufen. Der deutschen Wirtschaft hilft das allerdings nicht groß auf, „wir“ machen ja immer noch lieber in Maschinen, Autos und Waffen.
Versteckte Deflation
Im Briefkasten fand ich gestern das Werbe-Anschreiben eines Versandhandels, bei dem ich noch nie etwas gekauft hatte. 20% auf alles wurden mir angeboten, sofern ich bis Ende Mai Kunde werde und für über 50 Euro einkaufe. Klar, ich hab mal kurz überlegt, ob ich nicht irgend etwas sowieso brauche, was ich hier günstig kaufen könnte. Aber nein, mir fällt grade nichts ein, zudem weiß ich, dass solche Angebote immer wieder kommen. Läden, bei denen ich schon mal Kunde war, senden regelmäßig die Botschaft: Kauf was bis zum…, dann SPARST du X Prozent.
Als eine, die alles Benötigte gerne im Netz kauft, wurde ich schnell aufmerksam auf das „Gutschein-Code-Feld“ im Bestellprozess. Und damit auf die im Web kursierenden Gutscheine mit ebensolchen Lock-Rabatten, die es von Hinz und Kunz immer wieder gibt. Bevor ich also den „kostenpflichtig kaufen“-Button drücke, google ich zuvor noch nach „Anbietername Gutschein“ und schaue, ob es gerade Rabatt gibt. Oft mit Erfolg.
Hat man dann etwas gekauft, ist das Bemühen um die Nachfrage-Steigerung noch nicht zu Ende: gelegentlich lande ich dann auf einer Seite mit weiteren Gutscheinen, die mich mit ordentlichen Rabatten anderswohin locken wollen.
Bei mir haben sie alle Pech: ich kaufe tatsächlich nur, was ich wirklich brauche. Insofern bin ich einer der vielen Sargnägel des auf Wachstum angewiesenen Systems. Und nicht mal vornehmlich aus Rebellentum oder Kritik, sondern weil ich andere Interessen habe als Shopping, „sparen“, Schnäppchenjagd etc.
Eigentlich wollte ich nicht ins Persönliche abschweifen, sondern meinen allgemeinen Eindruck mitteilen: Wir befinden uns längst in der gefürchteten Deflation: man wartet darauf, dass es noch mehr Rabatt gibt, bis man sich herbei lässt, das nächste, nicht unbedingt lebenswichtige Dingsda zu kaufen.
Das ist GIFT für das komplexe System, das all unsere Krisenverianten gebiert: Schuldenkrise, Geldkrise, Bankenkrise, Euro-Krise etc. usw. Also wird gerettet, was das Zeug hält: mehr Schulden gemacht, mehr Geld gedruckt, Demokratie abgebaut und und und.
Das Retten und Rumwursteln auf allen Ebenen (nicht nur in Europa) ist so entsetzlich „alternativlos“, weil wir mehr und mehr begreifen, dass wir „das Böse“ tun müssen, allein um unseren Status Quo zu erhalten. Und dass das vermutlich nicht mal reichen wird.
Immer mehr Konsum weit über das Notwendige hinaus verschleudert sinnlos Ressourcen, produziert Müllhalden, Dreck- und Plastik-verseuchte Meere, erzeugt Hunger, Krieg und soziales Elend in vielen Ländern, verschärft den Klimawandel zu unseren Ungunsten, belastet und beraubt künftige Generationen – und DAS sollen wir also mittels vermehrter Konsumanstrengungen ERHALTEN WOLLEN?
Ja, sagt ein Teil meiner Selbst: Wir müssen! Sonst wird es hier realweltlich deutlich ungemütlicher, auch für Dich!
WIE IRRE IST DAS DENN? Weil es offenbar keinen bewusst gestalteten Übergang bzw. keine Rückkehr ins „vernünftige Wirtschaften“ gibt, auf den man sich einigen könnte (!), entwickelt sich das Geschehen eben in seiner unberechenbaren Eigendynamik weiter. Jeder gegen jeden, obwohl doch alle wissen, dass in der globalisierten Welt alle voneinander abhängen! (Selbst Angela Merkel sprach zu Beginn ihrer Kanzlerschaft schon gleich von den „kommunizierenden Röhren“…. )
„In Teufels Klauen“ hab‘ ich diesen Artikel betitelt, nicht weil ich an den Teufel als Geistwesen glaube, sondern weil die Metapher für unsere Situation gut passt: Wenn man sich gewungen fühlt, das vernünftigerweise maximal Schädliche zu tun, weil jegliches Abweichen von diesem Kurs die eigene, im Weltmaßstab privilegierte Lebensweise massiv beschädigen würde – tja, dann ist man tatsächlich „in Teufels Klauen“ gefangen!
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19 Kommentare zu „In Teufels Klauen – zur Krisenlage“.