In jungen Jahren war ich lange Zeit eine fast militante Vertreterin des „kreativen Chaos“. Seit ich mit 19 zuhause ausgezogen war, genoss ich die „Freiheit“, alles stehen und liegen zu lassen, wie es kam. Endlich niemand mehr da, der einem rein redet, der schimpft und droht und auch mal alle Schubladen heraus zieht und auf dem Boden ausschüttet, wie es mein Vater gelegentlich tat. Ich fand das oberspießig und unverschämt, fühlte mich als Person nicht geachtet und machte mich vom Acker, sobald es gesetzlich erlaubt war – nicht bloß wegen der Ordnungsfrage, aber auch.
Es folgten viele Jahre, in denen ich zwar eine eigene Wohnung hatte, die mir aber mehr als Stützpunkt und Absteige diente denn als wohnlicher Aufenthaltsort: Immer unterwegs, meine Wohnzimmer waren WGs und Kneipen, später dann auch die Arbeitsräume der Initiativen und Vereine, in denen ich Politik machte. So richtig zum „wohnen“ kam ich erst, als diese wilden Jahre vorbei waren und ich mit einem Mann zusammen zog, der es sehr übersichtlich mochte: wenig Gegenstände, klare Ordnung, alles im Blick. Da mir die ruhige Atmosphäre in seiner Wohnung sehr gefiel, passte ich mich an, so gut ich konnte. Während der Zeit in besetzten Häusern war ich so oft umgezogen, dass sich mein Besitzstand auf das reduziert hatte, was ich alleine an einem Nachmittag von Wohnung A nach Wohnung B tragen konnte, ohne jemanden um Hilfe zu bitten. Das war schon mal eine gute Ausgangsposition und ich wurde schnell zum Fan klarer Formen und zur Feindin chaotischer Gerümpelecken.
Unordnung stresst
Dass das nicht nur eine Attitüde blieb, ergab sich durch die Yoga-Praxis. Meine Wahrnehmung der Umgebung wurde sensibler: auf einmal spürte ich Unordnung körperlich, bemerkte, wie sichtbares Chaos den Geist ablenkt und das Gefühl stresst. Mal ein Beispiel, wie ich das meine: Man denke sich ein großes leeres Zimmer mit schönem Teppichboden ausgelegt. Die Leere hat etwas beruhigendes, nichts zieht die Aufmerksamkeit auf sich, man ist konzentriert und kann ungestört den eigenen Gedanken nach hängen. Nun verteile man drei Zeitungsseiten wild im Raum: schief, zerknüllt, ohne jede Ordnung. Betritt man nun diesen Raum, ist das Gefühl ganz anders. Die planlos herum liegenden Papiere ziehen die Aufmerksamkeit auf sich, man fühlt sich versucht, sie genauer anzusehen, bzw. sie aufzusammeln und einen „ordentlichen Stapel“ aus ihnen zu machen, der nicht mehr stört. Auch wenn man diese Impulse ignoriert, lenken sie dennoch ab – und wenn man dicht ist gegen diese Wahrnehmung, findet sie eben unterbewusst statt. Unordnung unterstützt Zerstreuung und erzeugt subtilen Stress, Ordnung vermittelt Sammlung, Klarheit und innere Ruhe.
Das hatte ich nun endlich (Anfang 40!) realisiert und lebte fortan in oberflächlicher Ordnung, auf die ich manchmal sogar stolz war. Dennoch wurde ich nie zur engagierten Aufräumerin, die dauernd irgendwo herum putzt, sondern achtete darauf, dass die Anzahl der Gegenstände insgesamt überschaubar blieb, nicht zuviel Nutzloses herein kam und alles auch wieder verschwand, was ich nicht mehr brauchte. Einen Schrank gab es immer nur im Schlafzimmer, sonst zog ich offene Regale vor, die es verunmöglichen, verstecktes Gerümpel anzuhäufen ( „aus den Augen, aus dem Sinn“).
Schleichende Vermüllung
Und nun sitze ich doch wieder in einem „mittleren Chaos“, das sich im Lauf der Zeit eingeschlichen hat. Oberflächliche Ordnung ist leicht hergestellt, kommt ein Besuch, gar ein geschäftlicher, kann es binnen einer halben Stunde SEHR ordentlich aussehen: alles mal ein bisschen gerade rücken, die Papiere und Unterlagen auf dem zweiten Schreibtisch ordentlich stapeln und in Schubern verschwinden lassen, die Verpackungen der Computerteile (hab‘ mir grade einen neuen bauen lassen) auf den Hängeboden, herum stehenden Kleinkram (Kerzen, Feuerzeuge, Thermometer, Digicam, Teekanne…) ordentlich verstauen – fertig! Pingelig bin ich nicht geworden, doch sehne ich mich mittlerweile nach einer tiefer gehenden Ordnung als der, die nur so aussieht: es soll nichts mehr da sein, was nicht gebraucht wird, und von allem, was nicht weg kann, will ich wissen, WO es ist.
Zum Beispiel die vier Regelbretter mit Aktenordnern und die beiden Hängeregistraturen: Da sind Behördenschreiben aus drei Jahrzehnten und Kundenunterlagen aus 10 Jahren, die ich niemals wieder brauchen werde. Technische Kleinteile und Computerkram füllt drei große Schubladen, aus denen ich nie und nimmer irgend etwas benötige: es ist quasi Abfall, aber zu wertvoll, als dass ich den Kram hätte wegwerfen wollen. Im Kleiderschrank gibt’s wieder etliche Klamotten, die ich nicht trage und die Bücher könnten auf die Hälfte schrumpfen, wenn ich alle weggebe, die ich gewiss nicht mehr lese. An der Wand hinter dem Schreibtisch hängen Memos, deren Datum lange verstrichen ist, und die verschiedenen Schuber mit CDs enthalten Daten, die ich gar nicht mehr kenne. Regelmäßig suche ich irgend etwas, zum Beispiel einen roten Filzstift, einen Schraubenzieher oder ein Lineal und muss dann immer schwer herum kramen, bis ich es endlich finde, denn es gibt mindestens fünf Orte, an denen ich derlei ablege.
Loslassen…
Gerne möchte ich mal wieder komplett „Tabula rasa“ machen, den überflüssigen Ballast los werden, das Nötige übersichtlich im Zugriff haben und nicht mehr suchen müssen. Wenn mich dieses Gefühl dann endlich mal zu Taten schreiten lässt, begegne ich auch immer Gegenständen mit sentimentalem Wert: Briefe, Geschenke, alte Fotos und Erinnerungsmaterialien verschiedener Art. Die schaue ich an und verabschiede mich, behalte nur das, was ich wirklich noch nicht loslassen kann. Solche Trennungen bedeuten, sich der eigenen Sterblichkeit bewusst zu werden, denn ich überlege mir angesichts jedes Dings, was wohl jemand damit tun würde, der hier ausräumt, wenn ich tot bin – und meistens befördert das die Entscheidung: kann weg! Ich bin nicht deshalb mehr ICH, stehe nicht sicherer in der Welt, wenn ich Vergangenes horte – im Gegenteil, ich stabilisiere das Gefühl, etwas zu verlieren zu haben. Es ist der falsche Weg, immer mehr Besitz anzuhäufen, je älter man wird, für mich jedenfalls ist das so. Immer weniger brauchen, nichts aufstauen, viel loslassen: da kann dann auch ein Umzug (und sei es am Ende in ein Heim) nicht mehr groß erschüttern, da die Abhängigkeiten von Äußeren langsam abgebaut wurden. Ich bin, die ich bin, solange ich da bin – nicht, weil ich 17 Keller mir viel Krempel angefüllt habe!
Morgen werde ich also mit dem Aufräumen beginnen – bin mal gespannt, ob der Vorsatz sich hält.
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11 Kommentare zu „Von Ordnung und Chaos“.