Seit zehn Jahren bin ich nun schon selbständig, arbeite in und mit den Netzen und verbringe den Großteil der Tage vor dem Monitor. Arbeitsfelder und Aufträge entstehen entlang an meinen sich verändernden Interessen, niemand sagt mir, was ich falsch oder besonders gut mache und wo es hingehen soll. Zudem lebe ich allein, muss niemanden versorgen und meine materiellen Bedürfnisse sind bescheiden. Meine Wohnung in Berlin Friedrichshain besteht aus einem großen Arbeitszimmer und einem ebenso geräumigen Wohn- und Schlafzimmer -zum Arbeiten muss ich das Haus also gar nicht erst verlassen: paradiesisch, so hab‘ ich es mir immer gewünscht.
Man sollte meinen, dass alle Probleme, die durch diese Arbeitssituation entstehen können, lange bekannt und gelöst sein müssten, aber weit gefehlt! Ja, ich hab‘ das Gefühl, in mancher Hinsicht bisher nur an der Oberfläche gekratzt zu haben und nicht wirklich in die Tiefe der diversen Schwierigkeiten gedrungen zu sein, die mich immer wieder mal heimsuchen.
Nach der kreativen Flaute der letzten Wochen scheint es jetzt, als gelinge ein neuer Einstieg ins Arbeiten, der mir neue Blickwinkel eröffnet. Zum Beispiel den, dass es bei der Selbständigkeit nicht das Problem ist, die eigene Chefin zu sein, sondern die eigene Angestellte. Für mich eine seltsame Erkenntnis, da mein gesamtes bisheriges Arbeitsleben gerade DAS weiträumig zu umschiffen versuchte.
Immer wieder geht’s um „Disziplin“ – ein mir seit den aufmüpfigen Jugendzeiten eher verhasster Begriff. Natürlich bin ich mittlerweile „gereift“, lebe ziemlich ordentlich, kann zum Beispiel Chaos in meiner Wohnung gar nicht mehr tolerieren, Termine halte ich immer schon pünktlichst ein, sogar in den Papieren nimmt die Ordnung zu. Nur wenn es darum geht, allein aus mir heraus alte und neue Arbeitsfelder zu strukturieren und diese dann auch tatsächlich „abzuarbeiten“, dann beginnen die Probleme. Es ist so leicht, sich vom „eigenen Plan“ ablenken zu lassen, da ist ja niemand, der sagt: Hey, du MUSST das aber bis morgen früh geschafft haben! Ich muss es mir selber sagen – und oft glaub ich mir einfach nicht: Wieso „muss“ ich? Wieso bis morgen???
„Was hältst du von der Disziplin als solcher?“ fragte mich ein Diary-Leser in ähnlicher Situation. Dankbar, den Ball mal von jemand anderem zugeworfen zu bekommen, dachte ich ein wenig drüber nach: Disziplin ist ja eine sogenannte „Sekundärtugend“. Sie dient Zwecken, kann nicht selbst Zweck sein. Darin liegt auch ein Teil meines Problems: ich glaube immer, ich müsste erst großartig „das Ziel wählen“, den Weg und die Stationen bestimmen, und dann…. dann könne ich auch ausreichend Disziplin aufbringen, um das Anstehende zu leisten. Das stimmt sogar, nur dass ich das, was ich tue, wenn ein klares Ziel (am besten mit Termin!) in Sicht ist, nicht mehr wirklich „Disziplin“ nennen kann, sondern eben nur: viel arbeiten… Es braucht dann keine Disziplin mehr, weil ich eben „drin“ bin und jeder Schritt sich aus dem vorherigen ergibt, nach und nach Verbindlichkeiten und Termine auftauchen, die eingehalten werden müssen… kein Problem!
Muss ich? Will ich? Und was eigentlich?
Ein klares Ziel ist üblicherweise ein Auftrag oder ein Schreibkurs. Darüber hinaus fällt es mir schwer, eigene „Meta-Ziele“ zu bestimmen, wie etwa: Wieviel will ich im Jahr verdienen? Wie soll sich das auf die Arbeitsbereiche verteilen? Wie soll mein Leben im günstigsten Fall aussehen? Solche Überlegungen gehören zur Grundausstattung des „Existenzgründer-Wissens“, aber erst jetzt, wo ich es mir wirklich für die eigene Situation auszumalen versuche, geht mir die Komplexität der Frage richtig auf.
Da ich allein selbst bestimme, was ich anstrebe, kann ich ja jederzeit umdenken. Mir ist außerdem bewusst, wie sehr meine LUST an einzelnen Arbeitsbereichen schwanken kann – warum sollte ich mich da „disziplinieren“??? Hab‘ ich nicht mein Leben lang dran gearbeitet, mich zu „befreien“, mich nicht festnageln zu lassen auf langweilige Routinen des Immergleichen?
Man kann hier gut beobachten, wie eine jahrzehntelang gepflegte „Eigen-Konditionierung“ bei Erfolg ins Negative umschlagen kann: Irgendwann ist wahrhaftig genug „befreit“! Wenn die disziplin- und planungsfeindliche Grundhaltung dann einfach beibehalten wird, wird sie zu einer Beschränkung des eigenen Potenzials.
Im Moment versuche ich, mich aus dem vor der Sommerpause beschriebenen „kreativen Leerlauf“ heraus zu bewegen, indem ich an drei Punkten ansetze: bei der „Arbeitsstimmung“, bei den „Zielen“, und beim „Durchfluss der Werte“.
Es wird ja immer gern geraten: Stell dir deine Ziele verwirklicht vor, male dir den Idealzustand aus, dann hast du die psychische Energie, die Mühen der Ebene durchzustehen! Dem hab‘ ich mich bisher nach nur kurzer Prüfung verweigert, weil es meinem Selbstbild und der Art, wie ich es gewohnt war, mit mir selber umzugehen, widerspricht. Schließlich bin ich ganz erfolgreich darin, mit dem, was ist, glücklich und zufrieden zu sein. Diesen „Seelenfrieden“ soll ich des schnöden Mammons wegen wieder aufs Spiel setzen? Bewahre! Schließlich hab‘ ich kaum materielle Wünsche, sehne mich nicht nach mehr Konsum – und das ist doch gut so! Oder doch nicht?
Hätte ich nicht immer wieder finanzielle Durststrecken, könnte man ja meinen: ok. Lass‘ alles, wie es ist, klappt doch gut! Da dem NICHT so ist, stimmt zwangsläufig auch etwas am Selbstbild und an den Umgangsweisen mit den Problemen nicht: Zumindest soviel Einkommen sollte sein, dass ich mich auf meine Wunsch-Arbeiten konzentrieren kann und nicht ständig davon abgelenkt werde. Das ist doch ein durchaus materielles Ziel! Und – darauf bin ich erst neuerdings gekommen! – wenn mir nicht genug „Verbesserungswünsche“ für mich persönlich einfallen, dann ist es vielleicht angesagt, endlich die Bauchnabel-Perspektive zu verlassen und an Andere zu denken. Nicht zuvorderst im Sinne des Spendens für soziale oder andere bedürftige Projekte, sondern ganz konkret im Freundeskreis. Ich würde gerne Geld und materielle Gegenstände VERSCHENKEN können – und zwar ohne dass es mir weh tut! Gerne würde ich auch mal teurere Aktivitäten unternehmen, nicht allein, sondern mit Anderen, die sich „so was“ nicht leisten können oder wollen. Und kaum beginne ich, SO zu denken, fallen mir jede Menge Wünsche ein!
Geben & Nehmen
Im Kleinen hab‘ ich schon angefangen, Dinge abzugeben. Gegenstände, die etwas wert sind, die ich selbst aber nicht mehr dringlich benötige. Sie weiter zu geben an Leute, die sie gut brauchen können, ist sehr viel glückbringender als das Verkaufen und Restwert einstecken. Ich bin ja selbst im Lauf des letzten Jahres von verschiedenen Menschen reich beschenkt worden – da will ich auch mal mitmachen können!
Ich spüre, wie mich jeder Akt des Abgebens motiviert, meine Arbeits- und Einkommenssituation zu verbessern – und damit habe ich allen Grund, den „Nehmern“ dankbar zu sein. Das Nehmen fällt nämlich vielen genauso schwer, wenn nicht schwerer, als das Geben. Das hab‘ ich ja selber erst lernen müssen, hab‘ es mir Anfang 2003 regelrecht verordnet wie einem kranken Gaul: Jetzt sagst du mal zu allem „Ja“, was sich dir anbietet, nimmst alles an, was dir geschenkt wird, überwindest endlich dein Misstrauen, eingekauft und eingefangen zu werden!
Die Unfähigkeit, Geschenke anzunehmen, weil man Verstrickungen und Pflichten fürchtet, findet im eigenen Kopf statt – und DA hab‘ doch eigentlich ICH das Sagen!
Die so erreichte Veränderung der inneren Haltung hat dazu geführt, dass ich in der Folgezeit gewaltig beschenkt wurde, man glaubt es kaum! Und nicht nur von einer Person, nicht einmal nur von Nahestehenden. Es wirkte wie eine Art Wunder – und jetzt kann ich nicht nur annehmen, sondern hab‘ auch große Lust, abzugeben. Es ist, als erzeugte ich durch das Abgeben einen Sog, dass wieder etwas herein kommt: Egal wie, unter anderem mittels eigener Arbeit, zu der ich „wie durch Zauberhand“ auf einmal weit besser motiviert bin.
Es muss – um mal einen gesellschaftlichen Bezug herzustellen – nicht JEDER arbeiten, um so „sein Glück zu schmieden“. Es genügt, dass diejenigen, die wie ich GERNE arbeiten, genug verdienen und genug abgeben. Der innere und äußere Reichtum einer Gesellschaft zeigt sich darin, wie viele Nicht-Arbeitende sie sich leisten kann. In anderen Kulturen erhält die arbeitende Bevölkerung zum Beispiel einen hohen Prozentsatz von Nonnen und Mönchen – und zwar mit Freude! Daran sollten wir uns ein Beispiel nehmen und nur versuchen „Arbeitswillige“ in Arbeit zu vermitteln – und nicht sämtliche „Arbeitsfähigen“.
Die Stimmung macht’s…
So richtig „diszipliniert“ bin ich immer noch nicht. Letztlich weiß ich gar nicht, was für ein inneres Potenzial damit eigentlich gemeint ist. Selbst jetzt, wo ich wieder einmal eine neue Art teste, meine Arbeitswoche zu strukturieren, um effektiver zu sein, empfinde ich das nicht als harte Disziplin, weiß gar nicht, wie das geht. Wenn ich zu arbeiten beginne, setze ich mich erst still hin und lausche in mich hinein. Stelle mir die Dinge vor, die jetzt anstehen und betrachte sie eine kleine Weile. In dieser „Kurz-Versenkung“ entfalten die Vorhaben dann eine Eigendynamik, werden farbiger und verlockender, zeigen ihre abenteuerlichen Aspekte – und damit ist der Punkt erreicht, an dem ich loslege.
Ist das Disziplin? Vermutlich nicht. Aber ich muss mit dem leben und arbeiten, was ich kann, nicht mit dem, was ich können sollte.
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