Vor über 15 Jahren lernte ich meinen „liebsten Freund“ kennen. Diesen Titel hab ich schon bald für ihn erfunden, weil er – genau wie unsere Beziehung – in keine Schublade passte.
Wir waren (und sind) kein Paar, aber auch nicht nur Freunde, vielleicht so etwas wie „Wahlverwandte“, aber das passt auch nicht so recht. Klingt viel zu leidenschaftslos,
zu cool.
Leidenschaft? Das übliche „Entbrennen zwischen Mann und Frau“ war es nicht – davon hatte ich gerade genug, als ich mich eines Abends neben ihn setzte. Hochwichtige konfliktreiche Beziehungen lagen hinter mir, eine nach der anderen, seit den Teeny-Jahren. Liebe als Kampf um das Sagen, endlose Streitigkeiten, euphorische und deprimierte Phasen, Liebe, die in Hass umschlägt, innere Leere und Verzweiflung, immer wieder Hoffnung und Enttäuschung, selten eine „Hoch-Zeit“ – halt all das Schöne und Schreckliche, das den gewöhnlichen Geschlechterkrieg ausmacht, zumindest in der ersten Lebenshälfte.
Dann saß ich neben ihm, Abend für Abend. Wir plauderten, philosophierten über Gott und die Welt – ich bewunderte ihn, aber ich verstand ihn nicht. Und gerade das faszinierte mich. Er war mir ein Rätsel.
Ein Mensch, der nichts will und nichts vorhat – gibt es das? Sollte ich das glauben? Dass er von mir nichts wollte, war spürbar, und doch hatte ich den Eindruck, dass er zumindest unsere Gespräche mochte. Sonst saß er immer alleine an einem kleinen Tisch, ein Glas Wein vor sich, und schaute so vom „Rand des Geschehens“ auf all das Getriebe, das in einer
Berliner Kiez-Kneipe die Menschen umtreibt. Unberührt, ohne Verlangen, ganz zufrieden mit dieser Art Rand-Existenz.
Seine Eltern waren früh gestoben und das Erbe versetzte ihn in die Lage, den Verstrickungen aus dem Weg zu gehen, die ein Arbeitsleben mit sich bringt. Er lebte von seinem Bankkonto, kaufte gern mal den Rosenverkäufern den ganzen Strauß ab, spendete Geld, wenn jemand ihn darauf ansprach, aber ansonsten war es ihm egal. Er machte sich auch nie Gedanken, wie er es erhalten oder gar mehren könnte – ich konnte nur den Kopf schütteln über soviel weltfremde
Naivität und Sorglosigkeit. Meine größte Sorge war, er könnte denken, ich sei hinter seinem Geld her – dabei liebte ich ihn doch nur.
Er war mir wie eine kühle Quelle nach einem langen anstrengenden Marsch durch glühende Wüsten und Steppen. Bei ihm konnte ich „einfach da sein“, ohne befürchten zu müssen, von ihm be- oder verurteilt zu werden. Er verlangte nichts, begehrte nichts, allenfalls musste ich aufpassen, ihn nicht durch allzu vieles Reden, durch heftige Emotionen und mein gesamtes damaliges Engagement in 10.000 Dingen und zig Projekten zuzutexten. Ich lernte, auf mein Gegenüber zu achten, lernte zuhören und auch mal zu schweigen. Zusammensitzen und den Rest der Welt beobachten – nie hätte ich gedacht, dass das so angenehm sein könnte!
Ich versuchte mit aller Kraft, das Rätsel zu lösen. Ich forschte, fragte ihn aus, scannte sozusagen sein gesamtes Leben, Denken und Fühlen, immer auf der Suche nach etwas, das er vielleicht doch ersehnte, wenn auch ganz im Geheimen. Aber da war nichts, allenfalls eine leise Melancholie, die ihn umgab wie ein ganz besonderer Blumenduft. Betörend – aber weit weg von der Art Leidenschaft, Liebe und Sex, wie ich sie kennen gelernt hatte. All das war viel zu grob für ihn, zu drastisch, zu handfest und folgenreich. „Wenn man drüber reden muss, ist es eh schon zu spät“ – solche und ähnliche Sätze sagte er oft. Mich trafen sie wie ein eisiger Hauch, denn ich glaubte noch an das Machbare, an den Sinn des Sich-Anstrengens und daran, dass es immer eine Lösung gibt, die allen Seiten gerecht wird. Er dagegen verzichtete von vorneherein, erwartete von sämtlichen „Realisierungen“ nichts Gutes, jede Verwirklichung möglicher Wünsche war ihm nur Weg in die Entzauberung, lieber blieb er am Rand und schaute zu. Ein Blickwechsel unter Fremden – davon konnte er richtig schwärmen. In der Fremdheit läge die größte Wahrheit, sagte er, und alles, was danach komme, alles Bemühen, das Fremde zum Bekannten zu machen, führe in Verstrickung und Leid.
Er hat mich verändert, ohne jedes Wollen mehr beeinflusst als irgendjemand bis dahin. Was er sagte und wie er lebte erschreckte mich, zog mir den gewohnten Boden unter den Füßen weg. Und doch klebte ich an ihm wie eine Klette, hatte ja so sehr die Nase voll von meinem gesamten Wollen und Machen, meinen Engagements, meinen vielen Kämpfchen um dies und das, von all diesen kräftezehrenden, Herz-verletzenden, gierigen und rücksichtlosen Zwischenmenschlichkeiten, die als „normal“ gelten. Er war mein Licht in der Finsternis, in der ich mich verirrt hatte, doch es war ein „schwarzes Licht“: die Wärme musste ich mir oft dazu denken; was es erhellte, war kein Weg, sondern die Leere.
Mein liebster Freund – durch ihn hab‘ ich verstanden, was Zärtlichkeit ist. Eine unendlich sanfte Berührung, die nichts will. Nicht formen, nicht besitzen, nichts erreichen, nichts vermeiden, nichts kritisieren, nichts ändern. Ein seltenes Geschenk.
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