Kürzlich erst hatte mich der Artikel „Der digitale Dorian Gray“ beeindruckt, in dem Morton Freidel freimütig von seinem „Leben mit Facebook“ berichtet. Er beschreibt, wie sich FB für ihn vom persönlichen Kontaktnetz zum Bewerbungs- und dann zum Werbungsnetz verwandelte, wie er in einem weitern Stadium immer mehr biografische Hinweise löschte, anonymer wurde – wohl wissend, dass die einmal angegebenen Daten vermutlich doch irgendwo „für immer“ gespeichert bleiben. Taktisches „liken“, berechnendes Posten, all sein Tun ist auf Wirkung bedacht und so entsteht nach und nach seine virtuelle Persönlichkeit, viel schöner als sein wahres Ich:
Mein digitales Ich ist längst zu einem besseren Ich geworden. Es hat sich von seinem Urheber emanzipiert. Nicht wie ein Monster, das aus dem Labor ausbricht, die eigene Unvollkommenheit erkennt und seinen Schöpfer Frankenstein zu bestrafen sucht. Sondern wie ein digitaler Dorian Gray, der sein analoges Alter Ego in die bunte, champagnergetränkte Welt des Erfolges entführt. Dafür brauche ich nichts weiter zu tun, als Informationen herauszulassen.
Klar, das ist der Mega-Trend: In unserer Online-Präsenz neigen wir dazu, die Ecken und Kanten wegzulassen, das Unvollkommene und Fehlerhafte zu verbergen, die Misserfolge zu verschweigen – und wenn nicht, dann wird all das doch meist in einer Weise berichtet, als hätte man es im Griff bzw. stünde irgendwie drüber.
Hallo Welt, schau auf meine Leiden, mein Versagen, meine Ängste!
Dass es auch das ganze Gegenteil gibt, merkte ich heute Nacht auf Twitter. Eigentlich wollte ich nur schauen, was die Leute zu #Jauch sagen und mein eigenes Statement abgeben. Dabei stieß ich auf ein anderes „Trending Topic“, zu dem gerade viele Leute Tweets absetzten: #50ThingsAboutMe.
Wer macht denn sowas? 50 Details „über mich“ einfach so, ohne jeden Kontext in die weite Welt posten? Weil grade mal jemand dieses Hashtag auf den Weg geschickt hat? Ich staunte! Und staunte noch mehr angesichts der Tweets, die dann unter diesem Label gepostet wurden. Hier eine kleine Auswahl:
„Ich bin so langweilig, dass mir nach 3 Dingen über mich schon nix mehr einfällt.“
„Ich rede nicht viel, weil man meine Gedanken meistens einfach nicht in Worte fassen kann.“
„Ich habe schreckliche Angst vor dem Tod“
„Obwohl wir in der selben Kleinstadt leben, hab ich meinen Vater seit 3 Jahren nicht gesehen“
„Ich liebe es zu kochen und zu backen, kann es aber irgendwie nicht.“
„Ich liebe Taschen, Schuhe und Klamotten mehr als die meisten Menschen.“
„Ich habe mal überlegt mich umzubringen. Hatte aber zu viel Angst und wollte meiner Familie das nicht antun.“
„Ich habe bei allem was ich mache total Angst mich zu blamieren.“
„Ich gehe jeden- bis alle 2 Tage joggen und hasse es einfach nur.“
„Ich überspiele meine Selbstzweifel mit übertriebenem Selbstbewusstsein & werde deshalb öfters für eingebildet gehalten.“
„Ich träume immer wieder, dass meine Familie stirbt und ich alleine zurück bleibe.“
„Ich liebe es meinen Nacken und meine Finger zu knacksen vor Leuten, die das ekelt“
Immerhin schreibt auch jemand:
„#50ThingsAboutMe gehen euch nix an.“
Heut‘ vormittag wirkt der „Schreibimpuls“ (jetzt auf Platz 2 vor #Jauch) weniger verstörend. Englischsprachige Tweets dominieren (neben spanischen, russischen, italienischen, französischen…). Es wird gescherzt, viel Banales gepostet, selten mal ein Spruch wie „I don’t know what to do in my life“. Heute Nacht kam ich mir dagegen fast vor wie im Aufenthaltsraum einer offenen Psychatrie, fühlte mich dabei als Voyeurin, die fasziniert/erschrocken Intimes von Unbekannten mitliest. Die das verrückterweise so wollen, sonst würden sie das Hashtag nicht benutzen.
Was wünschen sich diese, meist recht jungen Menschen?
„Ich könnte jedes Mal einen Freudentanz aufführen, wenn ihr meine Tweets favt oder retweetet ♥ #50thingsaboutme“
Mir fällt dazu nichts mehr ein.
Trotzdem hängt es mir nach. Soviel Leiden, einfach in alle Welt hinaus getwittert…
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8 Kommentare zu „Nächtlicher Seelenstriptease auf Twitter: #50ThingsAboutMe“.